Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Zur Philosophie der Form

»Ins Innere der Natur« –
O Du Philister! –
»Dringt kein erschaffner Geist.«
Mich und Geschwister
Mögt Ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern.
Wir denken Ort für Ort
Sind wir im Innern.
»Glückselig, wem sie nur
Die äußre Schale weist!«

Das hör ich achtzig Jahre wiederholen,
Ich fluche drauf, aber verstohlen;
Sage mir tausend, tausend Male:
Alles gibt sie reichlich und gern.
Natur hat weder Kern
Noch Schale,
Alles ist sie mit einem Male,
Dich prüfe Du nur allermeist,
ob Du Kern oder Schale seist.

Goethe

In der Natur bleibt der Mechanismus hinter der Erscheinung verborgen. Erst das Nachforschen findet die Zusammenhänge von Farbe und Form mit physischen und physiologischen Bedingungen; erst der Verstand leitet uns auf die bewußte Betrachtung der Ursachen. Sichtbar sind sie nicht. Das Formprinzip der Natur – gleichgültig, ob es sich rein aus der Zweckmäßigkeit gebildet hat, oder ob man von etwas wie Kunsttrieb reden kann – läßt tatsächlich Wurzeln, Äste, Adern, Nerven, Kanäle, Knochen, kurz alle der Stützung und Ernährung dienenden Mechanismen verhüllt. Daß ohne sie kein Blühen, keine bunte Oberfläche möglich ist, wird nicht empfunden, sondern erforscht und gewußt. Man darf darum das Gefühl der Befriedigung, das den Forscher belohnt, nicht mit dem unmittelbaren Lebensgefühl verwechseln, das die Oberfläche der Welt durch die Empfindung in uns auslöst. Ihm verdanken wir hienieden die ersten zentripetalen Lebensgefühle, die religiösen, die künstlerischen und die der Weltfreude, welche uns hinter der zentrifugalen Zerrissenheit des Einzeldaseins die Einheit, den Zusammenhang eines Lebens spüren lassen, von dem die Individuen nur Splitter, bisweilen noch glühende sind. Die wissenschaftlich-forschende und die (sagen wir der Kürze halber, dem Zeitgeschmack folgend) künstlerisch-erlebende Bewältigung des Daseins gehen nach zwei entgegengesetzten Richtungen, aber es soll hier nicht als ganz unmöglich hingestellt werden, daß beide Linien sich einmal irgendwo in einem Kreise treffen, sobald nämlich die Forschung die gefühlte Einheit des Lebens auch gesetzmäßig bestätigt finden sollte.

Als überwunden kann dagegen heute die Auffassung betrachtet werden, daß der Verstand aus sich selbst heraus durch Abstraktionen dem Leben irgendwie, erkennend oder erlebend, beikommen kann. Aber wie alle entthronten Götter noch lange Zeit hindurch in Winkeln und Klüften lichtscheue Anbeter finden, so hat auch der abgesetzte abstrakte Verstand noch mancherlei geheime Gemeinden, die wie eine unsichtbare Kirche unter uns leben. Es ist klar, daß diejenigen von dem abstrakten Verstand alles Heil erhoffen, die seine Relativität nicht übersehen, und die ihn darum überschätzen, weil sie selbst nur wenig von ihm haben und gern mehr haben möchten. Es sind die, denen die Tätigkeit des Verstandes besonders schwierig und darum verdienstlich erscheint. Da der Verstand, rein örtlich aufgefaßt, seinen Sitz im Innern des Menschen hat und sich auf das unter der Oberfläche Verborgene bezieht, sind die Worte »innerlich« und »tief« im Sprachgebrauch zu Bildern geworden, die das besonders Wertvolle anzeigen sollen. Ebenso haben die Worte »Oberfläche« und »Schein« einen schlechten Sinn bekommen: man will die Kunst dadurch retten, daß man sie ihres Oberflächencharakters entkleidet und dem schönen Schein den tiefen Sinn vorzieht. Dabei hat man vergessen, daß die durch Oberfläche und Schein erweckten Lebensgefühle aus viel tieferen und geheimnisvolleren Gründen unserer Natur kommen, als die verwickeltsten Beziehungen des Verstandes.

Für manche ist ein Baum nichts als ein bestimmt geformtes grünes Ding, das unmittelbar, oder durch Versprechen von Schatten und Früchten mittelbar auf ihre Sinne wirkt. Für einen anderen bedeutet er die Summe, die er für Holz und Früchte erzielen kann. Ein dritter bestimmt ihn von einem botanischen oder biologischen Gesichtspunkt. Ein vierter erkennt in dem Baum die Offenbarung der Allmacht eines selbst nicht sichtbaren Gottes. Je weiter sich der Betrachter von dem rein sinnlichen Eindruck entfernt, desto tiefer wird seine Betrachtung gemeinhin genannt: sinnliche, praktische, wissenschaftliche und religiöse Betrachtung bilden eine gebräuchliche allmählich steigende Leiter der Wette, und dennoch sind vielmehr die erste und die letzte und wiederum die beiden mittleren untereinander verwandt, denn sinnliche und wahrhaft religiöse Gefühle gehen unmittelbar von dem Erleben der Welt aus. Nützlichkeit und Wissenschaft dagegen entfernen sich von der Erscheinung, indem sie Beziehungen hinter ihr oder um sie herum suchen. Die allgemeine Wertung stellt nun die sinnlichen und nützlichen Betrachtungen als die minderwertigen, die wissenschaftlichen und religiösen Betrachtungen als die höherwertigen zusammen, sie überschätzt den abstrakten Verstand, indem sie von dem Schein der Welt, von der Oberfläche fortrückt. Fast alles, was seit den Eleaten Philosophie und vieles, was Religion hieß, ist diesen Weg vom Sinnlichen zum Gedanklichen, vom Leben zur abstrakten Beziehung gegangen, ja man hat dem Schein das Prädikat »Sein« geweigert und erblickte das wahre Sein erst in den vom Verstand gefundenen abstrakten Begriffen. Man hielt diese für das einzig Wertvolle, so daß man sich jahrhundertelang mit der flüchtigsten Kenntnis von der Natur der Dinge begnügte und es für das Ziel des Strebens hielt, sich von der unbewußten, sinnlichen Wirkung der Weltoberfiäche tunlichst zu befreien. Das dann übrigbleibende Abstraktum, körperlich das Nichts, erklärte man für das wahre Leben.

Das neunzehnte Jahrhundert versuchte, nicht ohne wichtige Vorläufer, Rückwege zuerst mit dem Verstand, der sich mit Hilfe der Sinne der Naturforschung und -verwertung zuwandt, bis sich die Sinne zuzeiten in der Kunst wieder selbstherrlich erklärten und in zitterndes Erstaunen vor der Umwelt gerieten. Zweifellos sind diese Lebensgefühle, welche die Oberfläche der Welt wieder in uns auslöst, nichts Neues, ja, es ist sogar anzunehmen, daß vergangene Zeiten unbewußt oft erregter waren. Sicherlich sind auch unter den Mystikern der Vergangenheit gerade die Stärksten zunächst durch die Oberfläche der Welt erregt gewesen. Wir sind bloß bewußter geworden. Wir wissen z. B., daß die naive Hingabe an die Eindrücke, nicht das Denken darüber die Grundlage der Kunst ist, aber dennoch haben vergangene Zeiten, die in der Kunst, wie man meinte, religiöse Erbauung oder gar Besserung suchten, unbewußt größere, d. h. erregendere Künstler gehabt als wir. Wir wissen, daß nicht das Befolgen gewisser Satzungen, sondern das mutige Entfalten ihrer Natur bedeutende Persönlichkeiten macht, und doch haben durch Moralen eingeengtere Zeiten mehr starke Persönlichkeiten entfaltet. Wir wissen, daß die rücksichtslose Kraft der Männer der Tat, die sinnliche Gewalt der Künstler, eine unbekümmerte Freiheit der Sitte große Epochen schafft. Trotzdem sind andere Epochen rücksichtsloser, sinnlicher, unbekümmerter gewesen. Vielleicht haben wir heute nur darum solchen Mut, uns zu den Instinkten zu bekennen, weil sie nach Jahrhunderte dauernder Verstandeszucht zahm und ungefährlich geworden sind. Chamfort hat einmal gesagt: »Im gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft scheint mir der Mensch verderbter durch seine Vernunftgründe als durch seine Leidenschaften. Seine Leidenschaften (ich meine die dem primitiven Menschen eigenen) haben in der gesellschaftlichen Ordnung das bißchen Natur erhalten, das man darin noch findet.«

Wir glauben heute zu wissen, worauf es ankommt. Während sich der Verstand immer mehr der Natur zuwendet und ihre praktischen Beziehungen zum Menschen so erstaunlich mehrt, daß unserer bewußten Zivilisation fast nichts mehr unmöglich scheint, suchen einige einen Maßstab der Wertung, d.h. der Moral in dem Maß von instinktiver Kraft, d.h. von elementarer Natur, die sich in den einzelnen Erscheinungen ausdrückt. Es kann unmöglich das Walten solcher Kraft allein sein, welches Wertmaßstäbe gibt, denn diese Kraft räumt alles hinweg, was ihr in den Weg kommt und wirkt dadurch zerstörerisch. Wert gewinnt ihre Erscheinung erst durch die Form. Form ist weder Stoff noch abstrakter Geist. Sie besteht nicht ohne den Stoff, aber sie ist keineswegs der Stoff. Sie ist das große Rätsel, vor dem aller Materialismus zusammenfällt. Er kann immer nur beschreiben, wie aus gewissen sichtbaren Ursachen sichtbare Wirkungen werden, er kann immer weiter ins Kleinste, ins Mikroskopische vordringen, niemals aber erklärt er das Wesen, das Warum und Wie der Form. Diese ist das Ewig-Unstoffliche, Eigentlich-Geistige, Göttliche, in das sich alle Religion, alle Kunst, kurz alles Lebendige kristallisiert, unabhängig davon, wie weit die Einzelerkenntnis der stofflichen Welt vordringen wird. Selbst wenn die Naturforschung ein Uratom fände, aus dem sich in gerader Entwicklungsreihe Mineral, Pflanze, Tier, Mensch entwickelt hätten, so wäre das Wunder der Form nur noch wunderbarer beleuchtet, nicht im mindesten erklärt. Wenn alles Leben nur aus einer einzigen Urzelle käme, dann wäre das an diese Urzelle gebundene Geheimnis nur noch überwältigender. Das Reich Gottes wird durch Naturforschung nicht im mindesten in seinen Grenzen bedroht. Ohne Form lebt kein Stoff, wirkt kein Geist. Ja, leben und wirken ist formen. Gott ist das Geheimnis der Form, das Ewig-Schöpferische, Allmächtige, Sich-Ewig-Erneuernde, mit dessen Strom sich jeder Einzelwille vermählen kann, so daß ihm alles zu formen möglich wird. Dies ist das Unsterbliche in uns, für das der Tod dieses Leibes nur ein Formwechsel bedeutet.

Diese formende Kraft, die unseren Willen zu einem Trabanten des göttlichen Willens macht, ist das einzige Wertvolle, das uns nach dem Zusammenbruch so vieler Religionen und Moralen heute im hellen Licht des Wissens bleibt. Es ist nicht abstrakt-geistig und nicht stofflich-sinnlich, es ist nicht diesseits und nicht jenseits, nicht zeitlich und nicht ewig, sondern es ist das Leben selbst, auf das jene Kategorien nur einseitige und darum falsche Blickpunkte liefern. Wo wir diese Kraft finden, die zugleich Natur und Geist ist, beugen wir uns vor dem Gelungenen, vor dem Leben. Form sind die großen Kulturen, Form ist die lebendige Persönlichkeit. Form ist überall das Vollkommene. Das Vollkommene hat nichts mit Quantität zu tun. Es ist nicht das Willkürliche, sondern das Unwillkürliche in uns, oft einfach das, was die Umgangssprache »das Stück Natur« nennt. Wir haben dann nichts zu tun, als ihm die willkürliche Maske, die es oft trägt, abzureißen.

In der allgemeinen Verwirrung der moralischen Begriffe, in der wir heute leben, sind wir freilich auf das bewußte Erkennen dieses Stückes Natur angewiesen, das uns stündlich von der Umwelt streitig gemacht wird, von unserem Beruf, von unseren Pflichten, von allen den Umständen, in denen wir leben. Der abstrakte Verstand hat uns verführt, eine fruchtbare, grüne Insel zu verlassen und hinauszuschwimmen in die Wüste des Meeres. Plötzlich erkennen wir, wie unrecht wir hatten, dies zu tun. Unser Schwimmen war nichts Gutes. Aber dürfen wir nun das Schwimmen darum einfach aufgeben? Wir würden hoffnungslos ertrinken. Wir müssen vielmehr zurückschwimmen. Gerade dem Verstand, der uns von dem Lebendigen weggeführt hat, müssen wir es nun als einem Diener auferlegen, uns wieder zurückzuführen, und er wird gehorchen, wenn wir nur wollen. »Um einen gekrümmten Stab gerade zu biegen«, sagt Maimonides, »muß man ihn unbedingt im entgegengesetzten Sinn zurückbiegen.«

Der Positivist wird dieser Anschauung, als rein subjektivistisch, entgegen sein, aber er vergißt, daß sie gerade das Äußerste an Positivismus darstellt, indem sie sich ohne alle Spekulation rein an das Erlebte hält, denn außerhalb des Erlebten gibt es kein Leben. Der Gegensatz zwischen Natur und Geist ist aufgehoben, das Erlebte, d.h. das als Form Empfundene oder Erkannte bleibt der einzige Maßstab, der durch seine Wirklichkeit fest und unumstößlich und von keiner Willkür angreifbar ist. Etwas wie Gottvertrauen erfüllt den, der hier das Gute, Echte erkannt hat, er vermag zu einer ganz unbehelligten furchtlosen Aufrichtigkeit zu gelangen, deren Tatsächlichkeit ihre Wahrheit verbürgt. Es bedarf eines langen Zurückdenkens, um wiederum zu der der herrschenden Philosophie unsinnig erscheinenden Erkenntnis zu gelangen, daß nur das Wahrheit heißen kann, was unser Lebensgefühl erhöht. Man kann freilich willkürlich eine Kategorie erfinden und sie Wahrheit nennen, obgleich sie das Lebensgefühl mindert. Aber man vergesse nicht, daß diese Art der Philosophie nichts ist als eine keiner Wirklichkeit entsprechende dialektische Spielerei, die freilich das ganze moderne Geistesleben durchsetzt und so trostlos macht. Wir sind derart an kantische Wertungen gewöhnt, daß wir den darin liegenden Wahnsinn, für den spätere Jahrhunderte einfach verständnislos sein werden, nicht mehr sehen: was nicht ist, sein zu nennen, das Tugend zu heißen, was unlustvoll ist. Solche Abstraktionen, die sich zwischen uns und das Lebendige legen, sind weit gefährlicher, als sinnliche Verblendungen, von denen man leicht gesundet, denn jene Abstraktionen treten mit dem Anspruch auf, ewige Wahrheiten zu sein, und versperren uns dadurch den Weg zur Erkenntnis und zum Leben.


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