Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Die graue Gefahr

»Übrigens ist mir alles verhaßt, was
mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit
zu vermehren oder unmittelbar
zu beleben.
Goethe.

Eine Wissenschaft, die nicht frei ist, ist für uns keine Wissenschaft; erst der Ausblick ins Unbekannte, der Entschluß, es zu entdecken und ihm, wenn notwendig, alles bisher für richtig Geltende zu opfern, aber auch alles, erst diese kühnen Voraussetzungen machen eine geistige Beschäftigung zur Wissenschaft. Damit ist noch nicht die Wissenschaft zum Selbstzweck erhoben; Selbstzwecke gibt es im Zusammenhange des Lebens überhaupt nicht, sie können nur begrifflich gesetzt werden. Die Wissenschaft muß vor allem dem Leben dienen, auf die Gefahr hin, eine bestimmte Form des Lebens zu vernichten und durch eine andere zu ersetzen. Hierin liegt ihre Freiheit. Dabei ist unter Leben natürlich nicht die Praxis des Alltags zu verstehen.

Im Mittelalter war die Wissenschaft bekanntlich unfrei, denn Forschen war nur so lange erlaubt, als die Ergebnisse nicht im Widerspruch zu den Glaubenssätzen standen. Eine solche Betätigung nennen wir heute gar nicht mehr Wissenschaft.

Seit der Renaissance hat sich die Menschheit leidenschaftlich der Erforschung der sichtbaren und unsichtbaren Welt hingegeben. Es ist daraus ein wahrer Kultus der Tatsachen entstanden, ihre Erkenntnis und Anordnung hat ein ganz neues Weltbild geschaffen. Aber es gibt Tatsachen, die zu kennen ziemlich gleichgültig ist, zum Beispiel, wieviel Haare ein Schaf in seinem Pelz hat. Woran erkennt man nun, ob die Erkenntnis einer Tatsache Wert hat? Da es ein objektives Zeichen nicht gibt, sind wir auf das subjektive Gefühl angewiesen: eine Tatsache wird dadurch erforschenswert, daß wir von ihr Einblicke in tiefere Zusammenhänge erhoffen, daß sie das Leben bereichert. Solche Erkenntnisse sind mit Schauern der Glückseligkeit verbunden, denen ähnlich und gleichwertig, die der Künstler beim Formwerden seiner Gesichte empfindet. Das Gegenteil davon ist das vorläufige Aufspeichern von Tatsachen, ohne daß sie in einem wichtigen Zusammenhang erscheinen, ein Magazin von Einzelheiten anlegen, weil man ja nie wissen kann, inwiefern das Unbedeutende eines Tages bedeutend werden kann. Da dieser objektiv vielleicht nicht ganz verlorenen Hamsterarbeit in unserem wissenschaftlichen Betrieb zahllose Opfer an Intelligenz und Lebenskraft gebracht werden, glaube ich von einer grauen Gefahr sprechen zu dürfen, die unser geistiges Leben bedroht.

Die Wissenschaft zum Selbstzweck machen heißt ihr ihre Fruchtbarkeit nehmen, indem man außerhalb des Lebenszusammenhanges ein Wolkenkuckucksheim der Ideologen erbaut. Während die exakte Wissenschaft die wirkliche Herrschaft über die Natur erweitert, werden die tatsächlichen Feststellungen der sogenannten Geisteswissenschaften ein müßiges Geduldspiel oder Patiencelegen lebensmüder Stubenmenschen, falls nicht die aus diesen Tatsachen zu ziehenden Schlüsse und Kombinationen der Erweiterung und Vertiefung der Kultur dienen, der Steigerung unserer Instinkte für den großen Zusammenhang und die Einheit des Lebens überhaupt und die besondere Farbe und Kraft des unsrigen. Aber da, wo jene Schlüsse und Kombinationen beginnen, da, wo die Forschung aufhört, Selbstzweck zu sein und für das Leben fruchtbar werden soll, da sind viele ihrer heutigen Vertreter mit dem Worte »unwissenschaftlich« schnell bei der Hand. Zur bloßen Stoffaufschichtung sind als nützliche Emporien für den Forscher die rein wissenschaftlichen Zwecken dienenden Zeitschriften und Fachbücher da, die gar nicht den Zweck haben, gelesen zu werden, sondern zum Lernen, Vergleichen und Nachschlagen benutzt werden sollen. Aber diese durchaus notwendige Literaturgattung grenzt sich bei uns nicht deutlich genug von der wirklich geformten Wissenschaft ab. Mancher Kärrner und Wächter, der sein Leben zwischen den unausgepackten Ballen und dem Rohzeug dieser wissenschaftlichen Magazine verbringt, wagt heute die lebensvollsten Vertreter der Wissenschaft wegen ihrer Unwissenschaftlichkeit anzugreifen. Männer, denen die deutsche Geisteskultur fast so viel verdankt wie ihren Dichtern, deren großzügige Schreibweise unseren Mangel wettmacht, daß wir keinen literarischen Prosastil in Deutschland besitzen, Männer, die wir nennen müssen, wenn man uns das Fehlen der Balzac und Flaubert vorwirft, – ich nenne nur Treitschke und Burckhardt – werden von »Fachleuten« unwissenschaftlich genannt und müssen sich mit den in Deutschland nicht für ganz ernst geltenden Belobungen »interessant«, »anregend«, »gut geschrieben« und »geschmackvoll« begnügen. In Frankreich, wo man das Genie triebsicherer begreift, wären sie, etwa wie Renan und Taine, aus den engen Kreisen der Fachwissenschaft schon zu ihren Lebzeiten herausgetreten und in das Pantheon der wesentlichen Gestalten aufgenommen worden. Gewiß: man soll sich aus den Schriften solcher Männer nicht auf die Prüfung vorbereiten, aber wiewohl manche Tatsachen bei ihnen schief, ja falsch gesehen sein mögen, um ihretwillen ist die ganze Vorbereitungsarbeit der Fachmenschen da. Daß Burckhardts griechische Kulturgeschichte genialer ist als die »richtigere« Arbeit manches fleißigen Gelehrten (die übrigens in ihrem Wert durchaus nicht herabgesetzt werden soll), fällt in Deutschland nur dem fein empfindenden Laien auf, der »Kollege« verhält sich ablehnend. Ein nicht geringer Forscher hat sogar diesem Werke gerade jeden wissenschaftlichen Wert abgesprochen.

Die deutsche Geisteswissenschaft erkennt grundsätzlich die Genialität nicht als Eigenschaft eines Werkes an, erst dem, der sich durch Jahrzehnte brav und nüchtern erwiesen, wird sie als berechtigte Eigenart gestattet. Nichts ist in Deutschland für eine Laufbahn ungeeigneter, als sich gleich mit einer »interessanten« Doktorarbeit einzuführen. Erst soll man sein Sitzfleisch beweisen. Die Fakultät vergißt, daß geistreichen Menschen, solange der Geist sie an einer Arbeit festhält, ungemein schnell das Sitzfleisch zu wachsen pflegt, während sie einer schablonenmäßigen Arbeit gegenüber sich flüchtig und nervös verhalten. Ich habe viele in der Unterhaltung geistvolle junge Leute gekannt, die in vieljähriger wissenschaftlicher Arbeit diesen Geist wie eine kindische Schelmerei unterdrückten und in Büchern, die nichts von ihrer Lebendigkeit enthielten, den Beifall der Fakultät und der Kollegen suchten. Dieser Beifall aber ist ein Beifall des Klüngels, der manche – aus Unbefriedigung darüber, daß man sie außerhalb des Klüngels nicht kennt – anmaßend und dünkelhaft macht.

Mommsen wird bei uns wie einer behandelt, der über römische Geschichte gearbeitet hat: er hat viele dankenswerte Gesichtspunkte gefunden, ist oft einseitig und willkürlich in seinen Schlüssen verfahren und heute in manchen Fragen bereits überholt. Dieses dumme Wort! Wird ein Genie überholt, weil ein Mikroskopiker etwas entdeckt, was dieses Genie nicht wußte? Und wenn ein Genie etwas dreißig Jahre im voraus ahnt, dann geht es ihm erst recht schlimm, dann ist es ein unwissenschaftlicher Utopist.

Ein kultiviertes Land dürfte solche barbarischen Fakultätgewohnheiten nicht ertragen. Wissenschaftliche Bücher müssen durch ihren Stil lesbar sein, und die dahinterstehende Gestaltungskraft muß wie beim Künstler auch auf den wirken, dem der Stoff an sich fern liegt. Dann würde dieser Dünkel verschwinden, jene einseitig gelehrte Erziehung, die gegen Stil und schöpferische Ideen mißtrauisch ist. In Frankreich hat sich ein viel sympathischerer, in gutem Sinne humanistischer Gelehrtentypus entwickelt, der, bescheiden und exakt, die großen Ideen im Auge behält. Er ist in nichts jenem rhetorischen Feuilletonisten ähnlich, den man oft für den Vertreter der französischen Wissenschaft hält.

Wahllos Tatsachen zusammenstellen, die niemand etwas angehen, und dies in unlesbaren Büchern, ist ein barbarischer Wahn. Wir können uns nicht angenehm einrichten, solange die Zimmer von unausgepackten Koffern vollstehen; wir können uns auch nicht zum Verbrennen entschließen, da gewiß unschätzbar Wertvolles darin steckt, und zum Ordnen nur sehr langsam. Indessen vermehren wir ruhig die Koffer und freuen uns daran, wie sie immer höhere Gebirge bilden.

Und nun die Hauptsache, die soziale Wirkung, derentwegen ich von alledem spreche: der schablonenmäßige Wissenschaftsbetrieb vermehrt die Klasse freudloser Individuen, die, geistlos und mechanisch, einem ungeheuren Ganzen dienen, von ihm fast erdrückt, aber erträglich ernährt werden. Ich will mehr die Menschen sehen als die Sache, und da finde ich, daß unter meinen Bekannten ein kluger Kopf verschwunden ist, der mich durch scharfe Blicke und treffende Urteile in geistigen und materiellen Dingen oft bereichert hat. Was ist aus ihm geworden? Er lebt in Unteritalien und ordnet campanische Ziegelsteine. Ein blühendes, kluges und schönes Mädchen schickt mir ihre Doktorarbeit: »Über die Suturen des menschlichen Schädels«. Sie beginnt ihr Werk mit der bescheidenen Erklärung, sie wisse wohl, daß die Verschiedenheit der Schädelsuturen keine grundlegenden Rassenmerkmale ergäbe, nichts aber sei in der Wissenschaft zu klein, um nicht der Erforschung wert zu sein. Man könnte verstehen, wenn sich ein in allen Lebenshoffnungen gescheiterter Fünfzigjähriger in solchen die Gefühle betäubenden Tätigkeiten vergräbt. Aber wie kann sich ein junges Wesen, vor dem das Leben liegt, so entsagungsvoll begnügen? Eine andere, nicht weniger gut veranlagte junge Dame schreibt, obwohl selbst eine Feindin alles Larmoyanten, über die »Comédi larmoyante« in Italien, diese nachgeahmte Literaturgattung, die schon in ihren ersten Hervorbringungen wertlos war. Dem Verfasser wollte einmal ein bekannter deutscher Literaturprofessor zumuten, über die schwächeren Gedichte eines Autors zu arbeiten, da über die besseren schon geschrieben sei.

Wenn die wissenschaftliche Beschäftigung eines wohlgeratenen Menschen würdig sein soll, so muß er nicht bloß den Zusammenhang seines kleinen Tuns mit großen Dingen wissen, sondern täglich fühlen, sonst ist es ein Lebendigbegrabenwerden. Aber diese gewissenhafte Kleinarbeit, heißt es, ist für den Großbetrieb nötig. Gut, dann soll man die Fülle von unbegabten, untergeordneten Menschen heranziehen, so wie man die Blinden Stroh flechten läßt, und das Untergeordnete dieser Tätigkeit kennzeichnen. Da wäre gleichzeitig der Dünkel dieser ungenialen Geister beseitigt, und weniger unberatene, glühende junge Menschen, die nach Bildung hungern, würden dieser scheinbaren Geistigkeit, diesem grauen, lauen Moloch zum Opfer fallen. Denn diese wenn auch notwendige Ameisenarbeit der Wissenschaft ist nicht geistiger als die Tätigkeit eines erwägenden und versuchenden Kaufmanns.

Was die Wirkung des wissenschaftlichen Kleinbetriebes auf die einzelnen Intelligenzen betrifft, so kann man, paradox genug, beobachten, daß der sich gerade grundsätzlich von den Ideen ab- und den Tatsachen zuwendende »Wissenschaftler« oft zum lebensfremden Ideologen wird, denn er hat ja nichts mit den Menschen zu tun, sondern nur mit ihren willkürlich aus dem Zusammenhang gerissenen Schädelsuturen, also mit dem Toten, er entwickelt in sich die das Nahe zu groß, das ist falsch sehende Kurzsichtigkeit.

Unter Geistigkeit versteht man eine bestimmte gesicherte Art, sich zu physischen und psychischen Tatsachen zu verhalten, die den Dingen ihre grobe Gegenständlichkeit nimmt und sie in den, freilich von jedem Individuum anders empfundenen, Lebensrhythmus hereinbezieht, sei es, daß es sich um Philosophie oder Religion, um Gesellschaft oder Naturempfinden handelt, um die Bewertung des Geldes oder um Berichte antiker Quellen. Für diese Geistigkeit ist der heutige Kleinbetrieb der Wissenschaft keine Schule. Vielmehr läuft die Wissenschaft Gefahr, eine Verschwörung der Geistlosen gegen den Geist zu werden. –


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