Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Philosophie

Die Macht der Unlogik

Unser Bewußtsein ist derartig auf eine vernünftige Regelung des Lebens und auf eine logische Erklärung der Welt gerichtet, daß wir uns daran gewöhnt haben, die Macht der Logik in den Geschehnissen außerordentlich zu überschätzen. Besonders das 18. Jahrhundert war diesem Irrtum unterworfen. Ein berühmtes Beispiel ist J. J. Rousseaus »Contrat Social«. In fast rührender Einfalt nahm dieser Philosoph an, daß die Gesellschaft aus einem bewußten Übereinkommen logisch vollkommen klarer Leute beruhe, und daß darum die Vernunft als Grundlage der menschlichen Beziehungen zu betrachten sei. Die Entwicklung der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert hat uns eines Besseren belehrt. Wir haben erkannt, daß sich die Welt zwar organisch, keineswegs aber logisch aufbaut, daß die Logik vielmehr eine ganz späte menschliche Erfindung ist, welche die Dinge rein menschlichen Zweckbegriffen unterordnet. Die Logik ist eine Gesetzgeberin ohne Exekutivgewalt. Der Mensch hat sie im Kampf ums Dasein ausgebildet, um aus dem Chaos des Werdens und Vergehens ein kleines Gebiet abzugrenzen und es nach seinen Zweckmäßigkeitsbegriffen zu ordnen. So notwendig nun die Logik zur praktischen Erkenntnis der menschlichen Verhältnisse ist, so vollkommen versagt sie als Mittel zur Erklärung des Gewordenen, denn, wie sehr auch der einzelne sich bemüht, sein Leben logisch einer Zweckmäßigkeit unterzuordnen, der der Logik wirklich unterworfene Teil unseres Daseins ist verschwindend gering. Überlegen wir z. B., wie weniges von dem, was wir zu tun beabsichtigen, wir wirklich gerade so tun, wie wir es beabsichtigen, wie zahlreich alle die kleinen Vorgänge sind, während wir aus dem Arbeitszimmer ins Eßzimmer gehen, und wie sie, vollkommen unbeobachtet, unser Verhalten beeinflussen. Ja, wir setzen uns zu Tisch und nehmen unsere Mahlzeit zu uns und glauben vollkommen bewußt und zweckmäßig zu handeln, weil dieser Vorgang allein im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit steht. Wir ahnen nicht, daß gleichzeitig vielleicht viel wichtigere Dinge vorgehen. Wir sprechen Worte, die vielleicht in einem Kind den Keim der zukünftigen Berufswahl legen, wir hören Worte, die, ohne daß wir es ahnen, unsere Überzeugungen umzugestalten beginnen, den Anlaß zu höchst wichtigen Beziehungen geben, vielleicht Freundschaften oder Zerwürfnisse säen. Alles dies ist unserem logischen Bewußtsein so sehr entzogen, wie die Vorgänge des Blutkreislaufes oder der Verdauung. Der Augenblick unseres Mittagsmahles ist also wie jeder andere Augenblick in der Natur nichts anderes, als ein Sichkreuzen von tausendfachem Werden und Vergehen, sowohl von Vorstellungen als von rein körperlichen Vorgängen, ein Meer von Wellen, die eben eine Form annehmen, um sie sofort wieder aufzugeben. Der Vorgang des Essens selbst ist nur ein kleiner Teil von diesen Geschehnissen, nur unserer Logik erscheint er im Augenblick als der wichtigste. Sie ist vielleicht einem Stab zu vergleichen, den wir in ein fließendes Wasser halten. An einer kleinen Stelle vermag er den Lauf des Flusses ein wenig zu stören, aber um ihn herum treffen sich die Wellen wieder und folgen ihrem organischen Gang.

Die Macht dieses Flutens im Dasein macht sich bis in die logischen Beziehungen selbst bemerkbar. Es gibt nichts, was bewußter menschlichen Zwecken zu dienen scheint, als die Sprache und dennoch wissen wir, daß sie sich aller Logik zuwider entwickelt hat, worauf die Tragik unserer sprachenlernenden Schuljugend beruht. Fruchtbar und organisch, aber ganz und gar ungeleitet und unlogisch wachsen die Sprachformen. Wie Samenkörner werden sie oft von irgendwo herüber geweht, gehen auf der neuen Erde auf und bringen neue Gebilde hervor: es gehört zu den anziehendsten Beschäftigungen, dem Schicksal der halb- oder nichtverstandenen Lehnworte nachzuspüren. Wer nur immer sich in mehr als einer Sprache auszudrücken weiß, hat erfahren, daß der Sprachbildung keineswegs der logische Zweck möglichst klaren Gedankenausdruckes zugrunde liegt, sondern daß allerlei Stimmungen und Schemen der Einbildungskraft viel fruchtbarer in der Sprachentwicklung gewirkt haben. Erst seitdem die Wissenschaft durch Entdeckungen neuer Dinge neue Worte zu schaffen gezwungen ist, sehen wir ein aus griechischen und lateinischen Wurzeln zusammengesetztes Allerweltskauderwelsch in alle Kultursprachen eindringen, das ausschließlich dem logischen Ausdruck dienen soll. Diese Sprache der Technik, Physik und Chemie ist allen inneren Lebens bar infolge ihrer Armut an anderen, als logischen Beziehungen. Ihre Worte sind starre Fremdkörper in der organischen Welt der unbewußt gewachsenen Sprachen. Wir sehen sogar rein auf die Logik aufgebaute Weltsprachen entstehen, deren Leblosigkeit uns lehren mag, wie tausendfach stärker das organische Leben gegenüber den logischen Beziehungen in den »natürlichen« Sprachen zu walten pflegt. Auf diesen logisch nicht erklärbaren Assoziationen organischen Geschehens beruht auch die Echtheit eines Kunstwerks. Man könnte eine ganze Ästhetik schreiben, um zu erklären, daß die Kunst die »sublogischen« Kräfte der Menschen aufruft, und daß sie nur so lange wirklich Kunst ist, als dies gelingt.

Genau denselben Vorgang finden wir in der Entstehung öffentlicher Meinungen, deren Grundlage oft genug ein willkürlicher Klatsch ist. Ich habe von einer Gerichtsverhandlung gelesen, in der ein Mann gegen mehrere Leute klagte, weil sie ihn durch Verleumdungen in den Ruf eines Trunkenboldes gebracht hatten, während er in Wirklichkeit ein Abstinent war. Die Beleidiger hatten an die Wahrheit ihrer Behauptung geglaubt, einer hatte sie vom andern gehört, und schließlich kam heraus, daß der Bruder des Beleidigten ein Asyl für Trinker hatte. Semper aliquid haeret. Für viele Leute wird jemand, der in einer Verhandlung als Zeuge vernommen worden ist, zu einem Manne, »der in einemfort mit den Gerichten zu tun hat«. Auch die Begriffe Scheckzahlung und Wechselfälschung sind in den Köpfen mancher braven Handwerker noch nicht so vollständig getrennt, wie es der Wirklichkeit entspricht. Solche Dinge sind es, aus denen sich öffentliche Meinungen, nationale Vorurteile, ja häufig genug ökonomische und politische Ereignisse bilden. Man erinnere sich, wie sich der Arbeiter »den Junker«, der Bürger »den Künstler«, die Dame »die Halbweltlerin« vorstellt und man wird zugeben, daß der Quell der Legendenbildung in unserer Zeit noch nicht versiegt ist. Zufallsassoziationen sind es, die in den Augen der Menschen den Charakter der Dinge und Personen bestimmen, aus denen sich die Luft webt, in der alles lebt, ja, dieser Schleier ist die Wirklichkeit.

Bei denjenigen Worten, die heikle Inhalte bezeichnen, ist der Bedeutungswandel besonders klar, weil sie gleich der allgemeinen Verachtung verfallen. Es wirft vielleicht ein seltsames Licht auf die Menschheit, daß im Laufe der Jahrhunderte fast alle Worte für Liebe und Frauen niedrige Assoziationen annehmen, verworfen und durch neue ersetzt werden. Man denke an das Schicksal von Worten wie Dirne, Weib, Frauenzimmer, im Französischen »Fille« und »Baiser«.

Es besteht ein beständig bewegter Kreis der Geschehnisse. Unsere Logik dringt ordnend in das Chaos des Werdens und Vergehens ein, das Chaos dringt wieder ein in die logischen Gehege und umschlingt sie mit unlenkbaren Assoziationen, und nun kommt die Logik wieder, nimmt diese Assoziationen als gegeben und sucht von neuem auf sie einzuwirken. Die Reklame z. B. beruht darauf. Wer jemals in englischen Gebieten gereist ist, hat die Annehmlichkeit jenes unter dem Namen Eno's Fruit Salt bekannten Erfrischungsmittels schätzen gelernt. Angeblich soll dieses Salz aus frischen Früchten gewonnen sein. Niemand weiß, ob das wahr ist, vielleicht ist es nichts anderes als eine Mischung von Natron- und Weinsteinsäure, aber ein farbiger Kranz von üppigen Früchten auf dem Umschlagpapier übt eine so bezaubernde Wirkung auf erfrischungsbedürftige, durstige Menschen aus, daß zweifellos das Mittel dadurch beliebter geworden ist, als es durch logisch begründete Gutachten von Ärzten geschehen wäre. Man beachte ferner die illustrierten Anzeigen, durch die Vergnügungsunternehmen oder Badeanstalten Besucher anzuziehen suchen. Die Abbildung geselliger, prickelnder Szenen wirkt zweifellos auf die Einbildungskraft und auf die Entschlüsse zahlloser Menschen, die, wollten sie ihr logisches Denken in Anspruch nehmen, sich sagen würden, daß derartige Szenen sich keineswegs an jenen Orten abspielen.

Auch in der Politik, überhaupt in der öffentlichen Wirksamkeit spielt die Unlogik eine außerordentliche Rolle. In England und Amerika gibt es eine Wissenschaft der im Wahlkampf anzuwendenden Wirkungen auf die »sub-logischen« Seelenkräfte der Wähler. Graham Wallas erzählt in seinem reizenden Buch: »Human Nature in Politics« manches Erleuchtende darüber. Sehr wichtig z. B. ist die Art, wie ein Kandidat sich photographieren läßt. (Auch Bühnenkünstler können davon erzählen.) Die Wähler sehen auf einer Photographie einen dicken Mann in Hemdärmeln mit Panamahut, mit Pfeife im Mund, zwischen seinen Gemüsebeeten herumgehen. Weiter wissen sie nichts von ihm, aber, »das ist ein Mann, wie er uns nottut«. (Wallas.) Was er den Leuten sagt, fällt nun auf fruchtbaren Boden, was es auch sein mag. Man weiß, welche außerordentliche Wirkung die Kleidung der Menschen auf unsere »Sublogik« hat. Vor Jahren las ich in der »Frankfurter Zeitung« einen Aufsatz, der einige Ratschläge für Kaufleute enthielt. Sehr klug wurde dem Verkäufer geraten, sich nicht nach der neuesten Mode zu kleiden. Eine gewisse altmodische »Adrettheit« sei vielmehr das Vertrauenerweckendere. Hier berühren wir die einfachsten Gesetze der Lebenskunst. Wenn man sagen hört, bei allem komme es auf das »Wie« an, so meint man damit die Assoziationen, mit denen jemand seine Handlungen umflicht. Wir erleben täglich, daß ungeschickte Leute mit irgend etwas »hineinfallen«, was manchem andern ungefährlich ist. Man nehme z. B. an, ein junger Mann befreundet sich für ganz kurze Zeit etwas heftig mit einer Mulattin, so wird er nicht verhindern können, daß er auf Jahre hinaus »der Mann mit der Negerin« bleiben wird, kennen wir doch von den meisten Menschen, mit denen wir zu tun haben, nur drei oder vier bestimmte Züge, gewissermaßen Farbenflecke, aus denen wir selbst Charakterbilder schaffen. Ich habe in einem ligurischen Dorf einen Fischer gekannt, der den Beinamen lo spò, der Bräutigam, hatte. Er war, wie die meisten Männer, einmal Bräutigam gewesen, aber gerade an ihm blieb die Bezeichnung dauernd hängen.

Es ist auffallend und oft genug unheilvoll, wie wenig noch die Rechtssprechung solche Tatsachen berücksichtigt und daß sie ihre Urteile oft ahnungslos auf sublogische Assoziationen gründet. So wurde z. B. in dem Prozesse Hau die Jury besonders dadurch gegen den Angeklagten (den ich hier nicht etwa verteidigen will) eingenommen, daß ein Zeuge erklärte: Hau habe sich verächtlich über die Möglichkeiten geäußert, welche die gute Stadt Freiburg liebebedürftigen jungen Leuten bietet, und dagegen auf Berlin als die Stadt feinerer Genüsse hingewiesen. – Ich befand mich einmal eine Woche lang auf einem englischen Dampfer, dessen Passagiere größtenteils schottische Geistliche und ihre wenig anmutigen Familien waren. Zufällig war der Steuermann ein Deutscher, ein reizender junger Mensch, den ich mir jeden Abend, wenn er frei hatte, auf das Verdeck einlud, um seinen fesselnden Seemannsgeschichten zuzuhören. Auf dem Schiffe war ich bald »der Mann, der schlechte Gesellschaft sucht«. Zufällig erzählte ich eines Tages bei Tisch einiges von dem tüchtigen, klugen jungen Mann. Jetzt war ich »der Mann mit sozialen Interessen« und alle versorgten mich mit Stoff aus ihren Erfahrungen. Zum Schluß sei noch auf die Tragik derjenigen hingewiesen, die nicht merken, wie sich liebgewordene Assoziationen um sie lösen, wie sie ahnungslos herunterkommen. Es sind die Menschen, die verzweifelt den Schein einer ehemaligen Herrlichkeit aufrechtzuerhalten suchen: Bühnenkünstler einer ausgestorbenen Generation, Adelige eines vertriebenen Hofes, Fanatiker einer längst widerlegten Wissenschaft oder überlebten Kunstrichtung. Wir sehen, daß solche Menschen durch Kleidung und Gebaren sehr bewußt Suggestionsmittel anwenden, die zu einer bestimmten Zeit, in der sie stehen geblieben zu sein scheinen, vielleicht sehr wirksam waren, heute aber ihre Kraft verloren haben. Nirgends erhebt die Logik grausamer ihre Kritik, als da, wo jemand sie mit untauglichen Mitteln umgehen will. Darauf beruht die verhältnismäßige Beliebtheit gewisser harmloser Originale, daß ihnen gegenüber jeder, auch der sonst der Macht der Unlogik Verfallene, sein bißchen Logik in angenehmer Weise zur Kritik ihrer Unvernunft angeregt fühlt.


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