Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Was kann man an einem Kunstwerk erklären?

Ein Jüngling wollte die Geheimnisse des Lebens wissen. Der große Zauberer, an den er sich wandte, verband ihm die Augen und ließ ihm ein Quartett von vier Elementargeistern vorspielen, einem Gnomen der Erde, einer Undine des Wassers, einer Sylphe der Luft, einem Salamander des Feuers. Nun verstand der Jüngling alle Geheimnisse des Lebens. Allwissend verließ er den Zauberer, aber daheim konnte er nicht ein Wort erzählen von dem, was er gehört. Er wußte alles, er wußte nichts. Nicht anders ist unser Verhältnis zu den Werken der Kunst, über das Wesen der künstlerischen Offenbarung läßt sich nichts sagen. Reden kann man nur von der Unkunst, von den Hemmnissen der Kunst, von dem, was an einem Kunstwerk schlecht ist; man kann ein Kunstwerk freilegen von dem Wust, der es oft umgibt oder der uns erfüllt. Dies ist alles, was man von Kritikern und Kunsthistorikern fordern darf.

Das Kunstwerk, über dessen »Sinn« wirklich etwas gesagt werden könnte, wäre überflüssig, denn Kunst ist mehr als Sagen. Einfachen Gegenständen gegenüber leuchtet das ja ohne weiteres ein. Niemand betrachtet z. B. die Bilder eines Warenkatalogs oder eines Lehrbuches als Kunstwerke. Nun ist aber ein großer Teil der in Kunstwerken dargestellten Gegenstände an sich für manchen Beschauer seltsam oder phantastisch oder irgendwie auffallend; da fragen denn die meisten: Was stellt das dar? Was meint der Künstler damit? Was bedeutet es? Und sie glauben, wenn man ihnen darauf antwortet, wären sie dem Kunstwerk irgendwie näher.

Leider sind die Sinne des modernen Menschen derartig durch eine einseitig intellektuelle Erziehung getrübt, daß die bloße Forderung mancher Künstler, man solle die Leute sich selbst und ihren Augen überlassen, doch nicht haltbar ist. Die intellektuelle Voreingenommenheit der meisten ist bereits zweite Natur geworden, und wenn wir einen Menschen, der irgendeine Schulbildung erlitten hat, sich selbst überlassen und ihm sagen, er solle zeichnen oder schildern, was er sieht, so wird er doch nur wiedergeben, was er von den Dingen weiß, nicht was seine Sinne wirklich empfinden. Wir müssen also den logischen Prozeß zur Natürlichkeit zurückmachen, und hier kann ein lebendiger Kritiker unendlich nützlich sein. Beim Zurückklettern auf dem Abhange des Intellekts kann der Kritiker führen, aber nicht indem er erklärt, was Kunst ist, sondern was Kunst nicht ist.

Zweifellos liegen zwischen uns und der Vergangenheit so viele intellektuelle Vorstellungen, daß ohne die Arbeit der Kunsterläuterer das Verständnis für die Kunst früherer Jahrhunderte schwerer, für viele unmöglich wäre. Was sieht ein unbefangener Mann des Nordens vor einer Heiligen Familie des Tizian? Zunächst nur ein Heiligenbild, wie es sein Bekenntnis in der Kirche nicht zuläßt. Handelt es sich gar um Bilder mit Goldgrund, so kann der durchschnittliche moderne Mensch vorläufig nichts anderes sehen, als eine ihm ungewohnte Steifheit, häufig genug ihm unnatürlich erscheinende Gebärden, alles in allem etwas Sonderbares, Befremdendes. Genau so wird es ihm gehen, wenn er Werke der asiatischen Kunst, Ausgrabungen aus Kreta oder mittelalterliche Miniaturen betrachtet. Wer noch eine Spur von Aufrichtigkeit gegen sich selbst hat, wird zugeben, wenn er auch heute noch so künstlerisch empfindet, daß die ersten Eindrücke, die er in früher Jugend bei dem Anblick solcher durch Ort und Zeit entlegener Werke hatte, keine rein künstlerischen waren, sondern ein Gemenge von Staunen über das Seltsame, Neugier nach dem Ungewöhnlichen, oft genug aber auch Interesselosigkeit gegenüber dem Allzufremden. Nun soll beileibe nicht behauptet werden, Geschichte könnte den Sinn eines Ravennesischen Mosaiks erklären. Wohl aber kann durch das Verständnis für die Vergangenheit unser Befremden vor ihren Formen aufgehoben werden, so daß jetzt zwischen uns und der rein künstlerischen Wirkung keine fremde Beziehung mehr steht. Damit schlichtet sich der Streit zwischen denen, welche sagen, die Kunstgeschichte sei überflüssig, da mit geschichtlichen Beziehungen dem Wesen des Künstlerischen doch nicht nahezukommen ist, und jenen, die die Jugend mit geschichtlichen Daten überfüttern wollen. Es ist ganz außer Zweifel, daß die geschichtliche Kenntnis eines Zeitalters uns auch dem Verständnis seiner Kunstwerke näher bringt, nicht indem sie diese erklärt, sondern indem sie den Schleier der Zeit, der vor ihnen hängt, beiseite zieht. Das ist natürlich nicht so aufzufassen, daß man Kriegsgeschichte studieren müsse, um ein Bild zu verstehen, das Don Juan d'Austria in der Schlacht bei Lepanto darstellt, denn im Grunde stellt ein Kunstwerk überhaupt nichts Sagbares dar, und soweit es in der künstlerischen Sphäre da ist, ist das letzte Wort gesprochen.

Daß sich der Künstler bestimmter Gegenstandsbilder zum Ausdruck bedient, geschieht nicht um ihretwillen, sondern weil wir, nun einmal an die Kategorien dieser Wirklichkeit gewöhnt, verwickelt Seelisches, wenigstens für das Auge, nicht ohne gegenständliche Symbolik geben können, weil wir ferner in Farben, und Linienzusammenstellungen wie in Worten einen logischen Sinn suchen, dessen Abwesenheit als logischer Unsinn grotesk und störend wirkt. Ein Zimmer, in welchem alles nur koloristisch geordnet wäre, und etwa um eines braunen Fleckes in der Mitte willen z. B. ein Stuhl in der Luft schwebte, würde so auffällig bizarr wirken, daß sich diese auf den Kopf gestellte Gegenständlichkeit zwischen uns und unser ästhetisches Empfinden schöbe. Sonst bedeutet der Gegenstand in der Kunst objektiv nichts, subjektiv den Teil der Weltklaviatur, der in dem schaffenden Subjekt zufällig den stärksten Widerhall gibt. Der eine findet sein Alphabet der Weltsymbolik in sturmgebeugten Wäldern, in blauen Haffs oder goldenen Getreidefeldern, der andere in einfachen oder höchst verwickelten Menschen, in Boudoirs oder in Matrosenschenken, wieder ein anderer in Früchten oder Wildbret. Erst die Auflösung des Stofflichen ins Symbolische macht das Kunstwerk und gibt ihm eine Überzeugungskraft, wie sie weder in wissenschaftlichen Beweisen noch in Gerichtshöfen möglich ist. Eine Jury würde einen Angeklagten schwerer schuldig sprechen, wenn sie, statt eine stets mit Gründen anfechtbare Verteidigung zu hören, in einem ausgezeichneten Roman das Handeln des Angeklagten in überzeugender Menschlichkeit dargestellt sähe. Gründe überzeugen im Innern niemals. Entweder wir sind schon instinktiv überzeugt und die Gründe bedeuten eine beruhigende Probe auf die von uns längst gelöste Frage, oder aber wir beugen uns gegen unsere persönliche Vorliebe vor den Sätzen eines Rechts oder einer Moral, die wir für das Bestehen des sozialen Daseins für unumgänglich halten. Nur Gebärden überzeugen, weil sie ohne Apparat, blitzartig, eine Tatsache in den Rhythmus unseres Lebensgefühls einbeziehen. Darum löst die Kunst alle Rätsel, indem sie den Verstand und die Worte, soweit sie bloß Mitteilungszwecken dienen, ausschaltet, und das Gegenständliche nur so weit als wesentlich nimmt, als es Ausdruck ist.

Weil dieser symbolische Sinn des Gegenständlichen nicht logisch deutbar ist (wäre er es, so brauchte man das Symbol nicht), weil die Symbole Wahrheiten enthalten, die jenseits des Verstandes, transzendent, sind, läßt sich auch nichts Bestimmtes über den genauen Wert jener verschiedenen Deutungskünste sagen, wie Physiognomik, Handlesekunst usw. Geschwungene Lippen, gekreuzte Handlinien bedeuten oder vielmehr sind substantiell dieses oder jenes; jede Linie des Gesichts, jedes Zeichen der Hand ist etwas Seelisches, aber man kann es nicht nennen, nur von weitem umschreiben. Man fühlt z. B., der Mund eines Menschen könnte nicht anders sein, die Form dieses Mundes ist der ganze Mensch, man kann aber darum nicht sagen: diese Zeichnung der Lippen bedeutet Grausamkeit oder Sinnlichkeit, sie bedeutet überhaupt nichts, sondern sie ist. Dieses Sein ist nicht weiter deutbar. So bedeutet das ängstliche Gesicht nicht Angst, es ist nicht Ausdruck oder Begleiterscheinung der ängstlichen Seele, sondern es ist die ängstliche Seele. Die Schlüsselblume und die warme Lust sind der Frühling, einen Frühling hinter ihnen, den sie etwa nur darstellen oder bedeuten, gibt es nicht. Der irre Blick eines Menschen ist sein Irrsinn. So bedeutet auch ein Kunstwerk nicht, sondern es ist. Nur die Allegorie (ein rein verstandesmäßiges Spiel) bedeutet etwas. Das Symbol ist selbst höchste Wirklichkeit, wie die Schlüsselblume und die warme Lust.

Man kann nicht das Alter darstellen, wohl aber altes Fleisch, alte Augen, alte Hände, das, was alt riecht, sich alt anfühlt, kurz die Art des lebendigen Verhaltens, das wir alt nennen, wenn diese Substanz lebendig wird, ist der Zweck des Kunstwerks erreicht. Dieses Sein ist sein lebendiger Sinn, der nicht das mindeste mit Technik zu tun hat, er kann ebensogut durch zwei oder drei zusammenfassende Linien, durch, wie man sagt, »liebevolles Detail« (die drei Linien sind übrigens ebenso liebevoll) oder durch ein impressionistisches Zusammenrinnen von Tönen entstehen. Manche sagen darum, der Künstler stelle die Idee einer Sache dar, aber auch dies führt wieder zu intellektuellen Mißverständnissen, denn die Idee einer Sache ist nichts Vorbestimmtes, sondern wird immer wieder von neuem und immer wieder anders von dem Künstler geschaffen. Darum gibt Toulouse-Lautrec weder die naturalistische Wirklichkeit von Paris, noch die Idee von Paris, sondern etwas, das er wahrscheinlich als eine ihm wesentliche Bewegtheit empfand, wenn er die Augen schloß und sich Paris vorstellte. Für jeden Künstler ist aber dieser Traum von Paris oder irgendeiner anderen Sache etwas anderes und darum kann auch niemals ein Stoff von einem Künstler erschöpft werden, jeder erlebt und schafft ihn anders. Daß man irgendein Bild von Raffael ebenso wie irgendeines von Giotto mit Madonna bezeichnet, ist daher nichts anderes als eine Aufschrift. Beide Künstler haben in Wirklichkeit etwas ganz anderes dargestellt. Ein Baum und ein Mensch und ein Tier von demselben Künstler sind eher dasselbe wie derselbe Baum oder Mensch, von zwei verschiedenen Künstlern gemalt. Von einem Werk von Toulouse-Lautrec sagt der Kritiker etwa, es habe die »Großstadtseele« erfaßt. Solange das nur eine Aufschrift sein soll, wie Opus 15 oder 75, ist nichts dagegen zu sagen. Wenn aber solche Worte nur einen Hauch von den Werken zu geben vermöchten, so wären die Werke überflüssig. Daß wir uns dennoch bei Worten wie »Zauber des Südens«, »Biedermeierstimmung«, »Karnevalsfröhlichkeit« etwas denken, danken wir einer unbewußt künstlerischen Tätigkeit der eigenen Phantasie oder der Erinnerung an Erlebnisse und Wirklichkeiten.

»Und dennoch sagt der viel, der ›Abend‹ sagt:
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.«

Die meisten heutigen Menschen leben nur in Bedeutungen, in Allegorien. Theoretisch wissen sie zwar ganz genau, daß es bei einem Kunstwerk darauf ankommt, daß es gut ist, nicht was es bedeutet. Mit dem verkniffenen Lächeln der Bildung wenden sie sich ab von einem »Schinken« der Barockzeit, auf dem etwa die Tugend und die Kraft die Fruchtbarkeit vor dem Laster oder der Pest schützen. Ihr tatsächliches Leben aber besteht nur aus solchen untergelegten Bedeutungen, aus Allegorien, sie leben aus zweiter Hand. Moderne Einrichtungen »bedeuten« ihnen das Moderne, von dem sie wissen, daß es gut ist, mit dessen Zeichen sie sich umgeben. Austern und Champagner bedeuten ihnen das Elegante, Richard Straußsche Musik bedeutet ihnen Kühnheit und Leidenschaft, allgemeines Wahlrecht bedeutet ihnen Freiheit. Das Hoffnungslose der gescheiten Leute liegt eben darin, daß sie immer sofort die Bedeutung heraushaben und dadurch unfehlbar an der Substanz des Lebens vorbeigehen, an der wahren Frömmigkeit so gut wie an der wahren Eleganz, an der wahren Vornehmheit so gut wie an der wahren Freiheit. Sie wissen alles, was Kultur bedeutet (um von ihrem Lieblingsanspruch zu reden), aber nicht eine ihrer Gebärden ist von wahrhafter Kultur getragen. Preise ihnen die Kunst, die Natur, das Glück, die Freiheit, die Wissenschaft, sie werden dir in allem recht geben, aber sofort eine Lehre daraus machen als Kunstvernünftler, Naturapostel, Volksbeglücker. Sie vermögen alles zu erklären, das Leben und die Kunst, und darum wissen sie weder von ihm noch von ihr.


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