Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Natürlichkeit

Mitten in einer geselligen Veranstaltung, die sich bisher in den üblichen Formen bewegt hatte, wird in plötzlich entstehender Faschingslaune beschlossen, einmal alle Gesetze mutwillig zu brechen. Im Nu lagern alle auf dem Fußboden, Herren und Damen duzen sich, einige Frauen entfalten in dieser Freiheit eine Grazie, die es bedauern läßt, daß es überhaupt Stühle und Sofas und »steife« Formen gibt. Andre stehen oder hocken etwas linkisch herum und passen sich schwer der ungewohnten Freiheit an. Sie sind die Aufrichtigen, die ihre eigne Gebundenheit schmerzlich empfinden und sich darum diese Freiheit verbieten müssen. Sie sind rührend und werden in ihrer etwas schweren Art so lange natürlich und sympathisch bleiben, bis ihnen eines Tages eine wohlmeinende Individualistin einredet, sie müßten ihrer Bescheidenheit einen Stoß versetzen, ihre Persönlichkeit entwickeln, sich »entfalten«. So weit ist bereits eine dritte Gruppe von Frauen fortgeschritten, die, ebenso schwer und linkisch wie jene, die Aufrichtigkeit ihrer Natur vergessen haben und nun Dinge tun, die zu ihnen nicht passen. Sonderbarerweise sind gerade unter ihnen mehrere Künstlerinnen. Wie plötzlich entfesselte Tiere wälzen sie sich am Boden, ahnungslos, wie fern ihnen die Grazien geblieben sind. Es ist kein Zweifel: die erste Gruppe der wirklich Freien, ganz Natürlichen besteht aus den kultivierten Frauen, die im Alltagsleben nicht Sklavinnen, sondern vollkommene Herrinnen der Konvention sind und mit und ohne Konventionen immer aus echter Natur handeln, diese beiden Worte enthalten für sie keinen Widerspruch. Die Frauen der zweiten Gruppe sind nicht Herrinnen, sondern Dienerinnen der Konvention, aber ihr echter Instinkt läßt sie dieses Dienstverhältnis als das ihnen allein zukommende nicht aufgeben. Die dritten sind barbarisch, geschmacklos und vertreten, indem sie ihre zuchtlose Persönlichkeit vordrängen, die Weltanschauung des Individualismus. Kaum ist die Lustigkeit vorbei, so finden die Freien ihre gewohnte Gehaltenheit im Augenblick wieder und erscheinen den wieder Gefesselten wie immer »steif und heuchlerisch«. Diese »Heuchlerinnen« sind dieselben Frauen, die im Karneval mit einem wildfremden Manne scherzen und plänkeln können, ohne sich etwas zu vergeben, die königlich mit der Konvention zu spielen vermögen.

Warum ist diese wahre, stolze Natürlichkeit so selten? Weil man aus der Natur einen starren theoretischen Begriff gemacht hat, der etwas bedeuten soll, was gewissermaßen vor oder im Gegensatz zu aller Kultur und Zivilisation besteht. In Wahrheit ist Natur überall, auch in den verwickeltesten Verhältnissen der Zivilisation zu finden. Es gibt eben eine natürliche Art, auch auf das Verwickelte zu antworten, nicht indem man es verneint und ihm den theoretischen, das heißt unnatürlichen Naturbegriff Jean Jacques Rousseaus entgegenstellt, sondern indem man es lebendig erfaßt und zu einem Teil seines Lebens macht oder aber ihm instinktiv (nicht theoretisch) aus dem Wege geht, wenn es einem nicht zusagt. Sich in Felle zu hüllen und von rohen Früchten zu leben war im Urwald natürlich und wäre am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein unnatürlicher Narrenstreich. Grobheit ist im Bauernwirtshaus natürlich, der Natur eines gebildeten Hauses aber widersprechen schlechte Manieren; darum wirkt hier jede Art von Grobschlächtigkeit »deplaciert«, das heißt der Natur des Ortes widersprechend. So ist Natürlichkeit nichts andres als ein sicheres Erfassen des Charakters einer Umgebung oder einer Lage und die Fähigkeit, sich diesem Charakter entsprechend zu verhalten. Kultur ist die Form, mit der bewußt gewordene Persönlichkeiten, Gruppen oder Zeiten den unbewußten Gesetzen des Lebens folgen, Natürlichkeit ist unbewußte Kultur, aber darum ist freilich noch nicht alles unbewußte Handeln natürlich. Durch die intellektuelle, theoretische Verbildung unsrer Zeit ist nämlich sehr vielen Menschen eine künstlich gezüchtete Unkultur zur zweiten unbewußten Natur geworden. Diese zweite Natur ist Unnatur. So ist Unnatur der größte Feind der Kultur.

Man lernt in Deutschland, falls man eine Kinderstube gehabt hat, sich knapp bewegen und mit Mäßigung reden, das ist als allgemeiner Erziehungsgrund gut, man kann lernen Fehler zu vermeiden, aber Natürlichkeit lernt man nicht, man findet sie vielleicht einmal. Der freie Wettbewerb macht Menschen zu Befehlenden, denen diese Gebärde durchaus unnatürlich ist. Die sogenannten einfachen Leute sind aber heute auch fern davon, Natürlichkeit zu besitzen; ihr sozialer Ehrgeiz läßt sie etwas andres zu scheinen wünschen als sie sind. Der Intellektualismus unsrer Zeit hat die natürliche Ungleichheit der Menschen einfach wegdekretiert, theoretisch gleiches Recht für alle verkündet und ermutigt damit jeden, das zu tun, was ihm nicht zukommt, das heißt das Unnatürliche. Echte Natürlichkeit ist heute das seltenste Kulturgut einzelner Unverdorbener, Unentwurzelter geworden und kann sich so gut im Palast wie in der Hütte finden.

Das beste Beispiel für das Gesagte ist der Zustand, in dem sich unsre Umgangssprache befindet. Die gebildete Sprache war immer der Gefahr ausgesetzt, sich in höfische Zierlichkeit oder abstrakte Farblosigkeit zu verlieren, dagegen war das Volk lange Zeit eine unverfälschte Quelle sprachlicher Neubildung. Sein naiver Bilderreichtum, den die ewig verjüngende Berührung mit der Scholle und den Werkzeugen, die Abhängigkeit von den Jahreszeiten im Wechsel von Glück und Unglück schuf, hat unsrer Sprache das Beste ihres Gehalts gegeben. Was ist aber heute das Volk? Eine von theoretischen Meinungen und halber Bildung verwirrt, materialistisch und respektlos gewordene Masse. Seine Sprachquelle fließt trüb, es spricht weniger Mundart als Kauderwälsch, statt Volksliedern singt es Brettellieder, statt an derben Sprichwörtern und Parabeln erfreut es sich an Kalauern und dem traurigen Humor der Witzblätter. Darum ist die Neigung unsrer Wissenschaft und Literatur zum »Populären« etwas ganz andres als die Neigung früherer Dichterschulen zum Volkstümlichen. Das »Populäre« ist heute das Triviale. Es liegt auf einer Ebene, wo sich zwei Entwurzelte treffen: halbgebildetes Volk und halbgelehrte, halbliterarische Schriftsteller. Ich will die Frage offen lassen, ob die alten Volkslieder wirklich von Leuten aus dem Volk gedichtet worden sind. Jedenfalls sind sie aus dem Geiste des Volks geschaffen und von dem Volke verstanden worden, vielleicht von manchem fahrenden Scholasten bäuerlicher Herkunft, dem seine junge, aber echte Bildung die ursprünglichen Gefühle nicht zerstört, sondern dichterisch geformt hat. Ganz anders jene neueren, meist aus dem Kleinbürgertum stammenden Dichter, die einen populären Ton anschlagen. Hier ist nichts mehr von Natürlichkeit, sondern die Form- und Stillosigkeit dieser modernen Lyrik ist reine Unnatur. Sie ist voll von Erinnerungen an frühere Dichter, an Zeitungsphrasen, an Rotwälsch aller Art. Am betrübendsten zeigt den Mangel an Natur die Singspielhalle. Aus dem fast ausgestorbenen wundervollen Volkssänger, wie der Münchener Papa Geis einer war, ist dieses elende Geschöpf von »Salonhumoristen« geworden, diese Ausgeburt von Unnatur, von Halbheit, von Geschmacks- und Gemütsroheit, der das Volk zujubelt. Ja, der Begriff der Natur selbst hat eine Wandlung erfahren, er ist gleich geworden mit Formlosigkeit. Man vergißt, daß die straffste Form einem zuchtvollen Geist vollkommen Natur sein kann. Dante und Petrarka sind natürlich, der Volkston wäre ihnen unnatürlich gewesen. Die Volksdichterin Johanna Ambrosius dagegen ist ein Gemisch von verblasener Sehnsucht, halber Bildung und Vergreifen in der Form. Laßt heute einen einfachen Menschen ein paar Verse machen, sie werden oft nicht etwa holprig und rauh ausfallen, im Gegenteil, sie sind meistens anspruchsvoll glatt, denn er beherrscht dieses abgegriffene Kauderwälsch der Zeitungen und Singspielhallen, das heute überall in der Luft liegt. Niemand redet mehr, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, jeder schämt sich dessen, weil er von tausend intellektuellen und sozialen Mißverständnissen umsponnen ist.

Natürlichkeit ist heute hier und da wieder das Ergebnis feiner, erfahrener Kultur, die kritisch durch alle Irrtümer der Zeit hindurchgegangen ist, um schließlich bei der einfachen Echtheit anzukommen. Diese wahre Natürlichkeit hat nichts zu tun mit jener begrifflich ideologischen Rückkehr zur Natur, wie sie die Naturapostel und »simple lifers« verlangen.

Nichts scheint heute schwerer als die Natürlichkeit, als zu reden und zu wissen, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Meist erfährt es erst der, der ihn wie ein Specht an zahllosen Rinden gewetzt hat.


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