Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Zur Technik des Lernens

»Chemisch reines Wasser ist ungesund: chemisch reines Wissen ist tödlich. Wie zum Wasser der Sauerstoff der Luft, so muß zum Wissen die Persönlichkeit hinzutreten, um es verdaulich zu machen.«
Paul de Lagarde.

Ueber die Technik des Lernens bestehen zwei Ansichten, die einander widersprechen. Auf der einen Seite hört man immer wieder von dem weicheren, eindrucksfähigeren Gehirn der Kinder reden, welche spielend Tatsachen und Regeln ins Gedächtnis aufnehmen, die in späteren Jahren nur schwer haften würden. Anderseits wundern wir uns über die außerordentlich geringen Kenntnisse in alten und neuen Sprachen, Geschichte und Naturwissenschaft, die wir nach zwölfjährigem Unterricht, häufig mit Arbeiten überbürdet, in uns aufgenommen haben. Für diesen Mißerfolg finden wir kaum eine Entschädigung in dem Gedanken, daß wir die Reihe der Deutschen Kaiser oder die Teile der Alpen noch auf dem Sterbebette vor- und rückwärts aufzusagen vermögen. Wenn wir ferner bedenken, mit welcher Leichtigkeit ein junger Kaufmann oder Gelehrter eine plötzlich für seinen Beruf notwendig werdende Sprache in den Grundlagen erfaßt, wie leicht wir uns den Inhalt eines uns fesselnden Aufsatzes oder Vortrags aneignen, dann scheint uns bisweilen die Behauptung von der größeren Lernfähigkeit der Kinder ein Märchen.

Trotzdem ist sie wahr. Der Grund, warum wir in den späteren Jahren geringerer Empfänglichkeit dennoch schneller und eindringlicher lernen, liegt in der besseren Methode, der Technik des Lernens, ja, die Behauptung, das Kindesalter sei das aufnahmefähigste, gewinnt sogar an Kraft, wenn wir bedenken, wieviel es immer noch trotz den oft schlechten Methoden im Geiste festhält.

Wollten wir die Lerntechnik der Schule im späteren Leben weiter anwenden, dann würde vor dem 30. Jahre bereits die Erscheinung eintreten, die meist (auch noch zu früh) erst gegen das 60. Jahr eintritt, daß nämlich der Geist nichts mehr hinzuzulernen mag.

Die falsche Lerntechnik beruht, kurz gesagt, darauf, daß dem Geist Nahrung zugeführt wird, die er nicht verlangt. Dem Kinde wird ein »Lernstoff« einverleibt, dessen Wert, Wichtigkeit, Nützlichkeit es nicht begreifen kann. Es speist ohne Appetit, und dies ist bekanntlich die unzuträglichste Art der Ernährung. Die Ärzte sind sich heute darüber einig, daß man möglichst das in sich aufnehmen soll, was einem schmeckt; die Erzieher sind teils noch anderer Meinung, sie glauben vielleicht des so außerordentlich ethischen Wertes der Qual in der Erziehung nicht entraten zu können. Für ein in unseren Breiten aufgewachsenes Kind ist nun die Zumutung, sich die Tatsachen der römischen Geschichte oder die Staaten der Union einzuprägen, psychologisch genau dasselbe, wie wenn man einem erwachsenen Menschen einen Warenkatalog zum Auswendiglernen gäbe. Das beste Gedächtnis würde versagen, da jeder ersichtliche Grund für eine solche Anstrengung fehlt. Wie anders verhält sich dagegen, wie gesagt, die Lernfähigkeit eines Menschen, der etwa plötzlich in die Lage versetzt wird, eine langersehnte Reise nach Italien machen zu können. Mit welcher Schnelligkeit wird er in sechs Wochen den Grundriß der italienischen Grammatik begriffen haben, wie leicht wird es ihm, sich mit dem ihm sympathischen Volke zu verständigen, selbst wenn er von Haus aus wenig Sprachtalent besitzt! Man kann sich nicht genug darüber wundern, wie wenig diese bis zur Trivialität einfache Tatsache auch von den Reformpädagogen berücksichtigt wird. Gewiß, es besteht das Bestreben, dem Kinde den »Lernstoff« etwas appetitlicher zu machen, aber im Grunde ist wenig geändert, denn immer noch gibt es einen »Lernstoff«, von dem man ausgeht. Nicht eher aber wird das Kind mit Freude, und deshalb mit Nutzen, lernen, als bis die Tatsachen der Geschichte und Natur wiederum ihres »Lernstoff«-Charakters entkleidet sind. Es ist ein Zeichen adeliger Wohlgeratenheit, wenn jemand unter keinen Umständen einwilligt, sich ohne ersichtlichen Sinn zu schinden. Ein Mensch von Charakter und Geist verlangt zu wissen, warum er sich bemühen soll; hat er einen zureichenden Grund erkannt, dann ist ihm die Arbeit keine sklavenmäßige Schinderei mehr. Im allgemeinen bieten dem Kinde die ersten Schuljahre durch das Zusammensein mit Kameraden so viel Neues, daß sein Freiheitstrieb überlistet wird. Ohne es zu merken, wird es seinen unbefangenen Spielen entzogen und ins Joch gespannt. Es ist bekannt, daß diejenigen, welche sich am widerspruchslosesten hineinfügen, meist ihr ganzes Leben untergeordnet bleiben. Ein bedeutender Mann ist selten Primus in seiner Klasse gewesen, weil er sich instinktiv gegen die Unsinnigkeit vieler Zumutungen der Schule auflehnt.

Ich habe selbst die Erziehung eines begabten Knaben zu beaufsichtigen gehabt, deren Schwierigkeit heute darin besteht, seinen allzu großen Lerneifer zu zügeln. Dieses Kind, das in seiner guten Art alles eindringlich zu tun gewöhnt ist, wollte durchaus den Übergang vom freien Spiel zu systematischem Lernen nicht begreifen. Ein paar Tage machte es ihm Spaß, Buchstaben, die ich ihm auf die Tafel schrieb, nachzuzeichnen, und das Zerlegen der Worte in Silben, der Silben in Laute wie eine Art Rätselraten zu betrachten. Sehr bald aber kam er dahinter, daß es hier heimlich auf etwas anderes als Spielen abgesehen war, und er fühlte sich mit Fug in seinen Kinderrechten beeinträchtigt. Er streikte. Hatte er nicht vollkommen recht, sich meinen phantasielosen Zumutungen zu entziehen? Es handelte sich nun darum, für ihn einen Grund zum Lernen zu finden, dabei aber zu bedenken, daß Worte wie Pflicht, nützliches Mitglied der Gesellschaft, Kampf ums Dasein nichts als leere Worte bedeuteten, auf die er nicht hineinfallen würde. Ich sagte ihm deshalb ungefähr folgendes: »Wenn Du nicht schreiben und lesen lernen willst, so kannst Du es lassen und Dich weiter mit Deinen Spielsachen abgeben. Wir hatten uns bloß gedacht, es wäre hübsch, wenn wir uns mehr mit Dir unterhalten könnten, wenn Du verstehen lerntest, worüber wir sprechen, während Du jetzt nur dumm dabei sitzest. Dann haben wir gemeint, Du wolltest auch einmal später etwas studieren und in der Welt herumreisen, schöne Länder sehen und es machen wie der Onkel X. oder der Vetter Z. Na, das scheint Dir ja alles keinen Spaß zu machen, Du willst lieber dumm bleiben und spielen. Auch recht. Natürlich darfst Du Dich nicht wundern, wenn es uns zu langweilig ist, mit Dir viel zu sprechen, der Du nichts kennst und nichts weißt. Du kannst deshalb ja ruhig weiter im Hause wohnen bleiben und mit am Tisch essen, das stört uns weiter nicht.« Nach dieser Ansprache ließ ich ihn mit einem außerordentlich nachdenklichen Gesicht allein. Zunächst ging er trotzig an seinen Spielschrank, öffnete ihn, blieb aber dann unbeweglich davor sitzen. Nach einer Stunde kam seine Mutter ins Zimmer; er saß noch nachdenklich in derselben Stellung. Plötzlich sagte er entschlossen: »So kann das nicht weiter gehen.« Er kam zu mir und erklärte mir, er habe sich's anders überlegt und fragte mich ängstlich, ob ich ihm vielleicht doch weiter Stunden geben wollte. Lesen müsse er auf alle Fälle lernen. »Und dann?« fragte ich. »Das weiß ich noch nicht,« sagte er, »wenn ich erst einmal Bücher lesen kann, dann wird sich's schon finden.«

Durch dieses kleine Vorkommnis hatte der Bub den Zweck des Wissens ein für allemal erkannt und das Schicksal der Unwissenden verstanden.

Dieses Beispiel läßt sich auf alle Arten des Lernens anwenden. Man kann nicht verlangen, daß jemand sich um Ursprünge einer Sache abquält, deren fertige Form er nicht kennt. Für einen lebendigen Geist ist die Vergangenheit nur anziehend, weil er stark in der Gegenwart lebt. Er verlangt zu wissen, wie die Gegenwart mit all ihren Vorzügen und Fehlern geworden ist, der Tätige sucht in der Vergangenheit Lehren und Erfahrungen für die Gestaltung der Zukunft. Nichts ist daher törichter, als Kinder mit den messenischen Kriegen oder der Völkerwanderung zu plagen. Man beginne vielmehr mit der Lebensgeschichte solcher großer Männer, die noch heute in den Gesichtskreis der Kinder reichen. Es wird nicht schwer sein, einen Knaben für Bismarck zu erwärmen. Von hier führt der Weg leicht zu Friedrich dem Großen, von ihm zu Napoleon und dann zu Cäsar und Alexander. Dann mag man einen Dichter oder Künstler herausgreifen, dessen Werke für das Kind Anziehungskraft besitzen, von ihm zur Antike schreiten und über Perikles wieder zu Alexander kommen; so wird sich langsam ein Netz von bedeutenden Dingen um das Kind bilden, eine immer mehr eindringende Übersicht des Wissens und jetzt, wo es schon eine Vorstellung mit Hellas oder dem Vaterlande oder der Dichtung verbindet, wird es einen zureichenden Grund sehen, auch die trockenen Einzeltatsachen zu erlernen. Das wird ihm ebenso leicht fallen, wie uns das Lesen eines guten Aufsatzes, der uns in dem Augenblick eines bedeutenden Vorfalls in der Türkei oder in Skandinavien schnell mit den Tatsachen der Landesgeschichte vertraut macht, nur mit dem Unterschied, daß unsere nicht mehr so weiche Hirnmasse im Treiben des Tages einen großen Teil des täglich aufgenommenen Wissens ebenso schnell wieder vergißt, wie aufnimmt, während das empfänglichere Hirn des Kindes alles festhält, was ihm in nicht zu großen Gaben in zeitweiliger planmäßiger Wiederholung beigebracht wird. Man wird in den allerverschiedensten Zusammenhängen immer und immer wieder auf dieselben Tatsachen zurückkommen, zuerst in der äußeren politischen und Kriegsgeschichte, vielleicht wieder in der Anthropologie, und schließlich werden die allertrockensten Fragen wie Steuer- und Finanzpolitik bedeutend, weil wir ihnen von irgendeinem bedeutenden Gesichtspunkte aus nahen. Mit einem Wort: Zunächst die bedeutenden Männer zeigen, dann erst die Völker, die nach dem Worte eines Philosophen nur der Umweg sind, den das Schicksal zu den Großen macht.

Man muß mit der Methode brechen, den Unterricht mit dem Ei der Leda zu beginnen, und darf sich nicht wundern, wenn ein gescheites Kind einem auf diesen Versuch antwortet: »Ich interessiere mich doch gar nicht für Eierlegen.«

Indem man Kinder, ehe sie selbst fühlen, lehrt, wie man früher gefühlt hat, geht das Abc der Menschlichkeit verloren.


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