Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Weder als Subjekt noch als Objekt der Kritik schreibe ich hier pro domo. Weder bin ich – von einigen Pubertätsirrungen abgesehen – jemals selbst KritikerDieser schönen Jungfräulichkeit hat mich inzwischen das rauhe Leben beraubt. gewesen, noch bin ich – wieder von einigen Pubertätsirrungen abgesehen – je von Kritikern mißhandelt worden.Auch diesen Vorzug habe ich nun eingebüßt.
»Kritisieren ist leicht, bessermachen ist schwer.« Das ist eine der Grunddummheiten, an denen der Volksmund so reich ist. Bessermachen ist durchaus nicht das, was vom Kritiker zu verlangen ist. Die Fähigkeit der Kritik ist eine Gabe für sich. Wenn eine Frau Männer fragt, wie ihnen ihr neuester Hut gefällt, so ist sie gewiß nicht der Meinung, daß sie bessere Hüte machen könnten als Putzmacherinnen. Man höhnt bisweilen, jeder Theaterkritiker habe eine Reihe unausgeführter und unaufführbarer Stücke im Schreibtisch liegen, und zieht daraus den voreiligen Schluß, er sei Kritiker geworden, weil es zum Dichter nicht ausgereicht habe. Das ist ganz und gar falsch. Die literarische Gemeinsamkeit der beiden Tätigkeiten macht es in den Entwicklungsjahren oft schwer, die kritische von der dichterischen Begabung zu unterscheiden. Daher mag gewöhnlich der Weg zur Selbsterkenntnis des Kritikers durch dichterische Schiffbrüche führen. Mit dieser Eigentümlichkeit steht aber der Kritiker nicht allein. Gewiß hat auch mancher Politiker einmal schönes weißes Papier mit Römerdramen geschwärzt, und die Jugend vieler achtbarer Praktiker des Lebens mag schlechte Lyrik befleckt haben. Ein dichterisches Vorleben ist also gegen den Kritiker kein Einwand.
Die Mißachtung des kritischen Talents beruht auf der falschen Vorstellung, es sei verneinender Art. Wer das kleinste Werk vollendet hat, soll mehr wert sein als der, welcher die Mängel fremder Werke noch so scharf erkennt. In vielen Köpfen ist Kritik gleichbedeutend mit Verurteilen und Schimpfen. An diesem Vorurteil mag eine bestimmte Abart der Kritiker selbst schuld sein.
Kritik hat nur einen Wert (dann aber einen ebenso hohen wie jede andere geistige Schöpfung) als Ausdruck einer bejahenden Natur. Auch als Ablehnung und Kampf muß sie bejahend sein. Ein wohlgeratener Geist wehrt sich triebhaft gegen das Verneinen. Ich verstehe, daß jemand einen Ekel am Theater oder an der Politik bekommt, d. h. mit anderen Worten, daß diese Gebiete im Augenblick für ihn erschöpft sind und, falls er sich weiter mit ihnen beschäftigt, seinen Geist mit verneinenden Sätzen erfüllen. Ist er ein lebendiger Mensch, so wird er instinktiv diese Wüsten verlassen und sich entweder neuen Gebieten zuwenden ober seine Enttäuschungen zu einer milden Philosophie von der Eitelkeit aller Dinge veredeln. Vielleicht wird er Buddhist werden oder in ein Kloster gehen oder eine Farm in den Kolonien bebauen oder sozialer Fürsorge leben. In keinem Fall wird er in den für ihn nun unfruchtbaren Geländen verweilen und als verdrossener Kritikaster Gift und Geifer sprühen. Ich möchte so weit gehen, jede ablehnende Kritik, die nicht in einem größeren übersichtlichen Zusammenhange steht, zu verwerfen. Wenn einem ein einzelnes Buch oder ein Werk mißfällt, warum schreibt er darüber, warum sucht er nicht eins, das ihm gefällt, um seine Zusammenhänge ins rechte Licht zu setzen? Man wird erwidern: aber der Kritiker soll auch das Schlechte bekämpfen, um dem Guten Platz zu machen. Ein frommer Wunsch! Mißlungene Werke hat es immer gegeben, und gerade sie haben vielleicht den meisten Anspruch auf Nachsicht in der Behandlung. Eine grundsätzlich schlechte Literatur und Kunst, die der Unterhaltung einer voraussetzungslosen Masse dient, die weder den Reiz der Verfeinerung noch den der unverfälschten Derbheit besitzt, die bloß platt, ungebildet und doch nicht volkstümlich, zahm und dennoch nicht vornehm ist, sondern einfach feig und flau, eine solche Produktion besteht freilich erst seit dem neunzehnten Jahrhundert. Die Berufskritik, die ungefähr gleichzeitig ihre heutigen Formen angenommen hat, ist vollkommen machtlos dagegen gewesen. Noch niemals vielleicht hat die Kritik das wirklich Schlechte dadurch vernichtet, daß sie es angriff; wenn es fiel, so ist es dem Schicksal alles Irdischen gefolgt, zu sterben und Neuem Platz zu machen. Diesem Neuen aber den Weg zu ebnen, es zu verteidigen, zu beleuchten, seinen Gedankengehalt hervorzuheben, alles dieses ist die Aufgabe der bejahenden Kritik, die dadurch natürlich mittelbar den Tod dessen beschleunigt, was sie als schlecht erkennt.
Ich möchte hier einen kleinen gesundheitlichen Rat einfügen: die Heilkunde hat seit langem erkannt, daß der Inhalt unserer Vorstellungen die Chemie unserer Säfte beeinflußt. Man kennt den Wert, den die Aufheiterung des Gemüts für alle Kranken hat. Darum sollte uns schon der Selbsterhaltungstrieb veranlassen, so weit es irgend geht, keine verneinenden Gedanken in unser Hirn zu lassen, sondern sie als untaugliche Schlacke hinauszuwerfen. Wenn mir ein Verleger den Auftrag gibt, irgendein Stück Leben zu untersuchen und darüber zu schreiben, und ich komme zu rein verneinenden Ergebnissen, so lehne ich die Arbeit aus Rücksicht auf meine und meiner Leser Verdauung und Blutumlauf ab. Ich warte, ob mich diese trüben Erkenntnisse zu bejahenden Gedanken führen werden, so wie ich in diesem Augenblick zu bejahen hoffe, auf Grund der deshalb freilich nicht neuen Erkenntnis, daß eine gewisse Art der Kritik unfruchtbar, d. h. verneinend ist.
Verneinend ist besonders jede Art erhitzter Angriffslust, und wenn sie der besten Sache dient. Wegen dieses Fehlers sehen wir fortgesetzt die schönsten Absichten mißlingen, besonders im sozialen Kampf. Verbitterte Ressentimentmenschen, d. h. Menschen mit falschem verneinendem Verfahren, brauchen sich einer Sache nur anzunehmen, um sie scheitern zu machen. Man kann sich deshalb gar nicht genug gegen jene bekannte deutsche Unart wenden, die stets begierig ist, »Denkzettel zu geben«, etwas »niedriger zu hängen«, oder einen zu »verreißen«, kurz Zensuren zu verteilen. Wozu dient das alles, als irgendeinem Zerrbild von Miniaturtyrannen ein bißchen Machtkitzel zu verschaffen, den er durch Bejahung nicht erreichen kann? Entweder sein Eifer wendet sich gegen einen schlechten Gegenstand, dann ist es bedauerlich, daß er ihn nicht für einen besseren verwendet, oder die Nebel des Hasses oder der Dummheit geben solche Urteile ein, dann sind sie erst recht abzuweisen.
Ich kann eine kleine groteske Geschichte nicht unterdrücken, obwohl Menschen mit verneinendem Verfahren leicht behaupten werden, sie sei die Ursache meiner Gedanken über Kritik. Aber die Geschichte ist zu bezeichnend. Ich wohnte einen Sommer in einer deutschen Mittelstadt, in der zwei große Zeitungen erscheinen, die eine von allgemeiner politischer und literarischer Bedeutung, die andere ein gut gemachtes, für die Massen bestimmtes Lokalblatt. Jene hat meine literarische Tätigkeit ihren Lesern stets mit Liebenswürdigkeit angezeigt, dieses besaß einen Kritiker, der sich in etwas vorgerücktem Pubertätsalter befand und ein neues Buch von mir »verriß«. Die große Zeitung wurde von Leuten gelesen, bei denen ich bisweilen speiste oder tanzte, schlechte Kritiken würden sie kaum bewegen haben, mir ihre Türe zu verbieten. Das Lokalblatt hingegen lasen viel wichtigere Personen: die würdige Matrone, bei der ich wohnte, sowie ein bei ihr bedienstetes junges Kalb von übertrieben ländlicher Geistesrichtung. Beide betrübte es, daß meine Gewohnheit, spät aufzustehen, den Einklang des Haushaltes störte, aber man hatte bisher Nachsicht geübt, weil ich für einen gelehrten Herrn galt, der viel zu denken hat. Nun aber kam heraus, daß der, für den man bisher mit dem bekannten weiblichen Opfermut Unbequemlichkeiten auf sich genommen hatte, so gut wie nichts wert war, ein Nichtskönner, dazu ein frivoler Mensch, dem nichts für heilig galt. Man entsann sich plötzlich, daß einem schon manches aufgefallen war, kurz, ich wurde von jetzt ab schlecht bedient und mußte ausziehen. Auch Kellner lesen bisweilen Rezensionen und es bleibt nichts anderes übrig, als ihre ungünstigen Eindrücke durch höhere Trinkgelder zu verwischen. Mit Vorliebe erscheinen lieblose Kritiken in unserer Vaterstadt, zur Genugtuung derer, die es immer gesagt haben, daß es mit uns »nichts« sei. Auch das Blättchen des Mannes, um dessen Tochter wir vielleicht morgen anhalten wollen, ist so rückständig, uns manchmal beschimpfen zu lassen, ahnungslos, daß Scherl und Mosse vielleicht bereits für uns gesprochen haben. Das sind so ziemlich die einzigen Wirkungen der rein verneinenden Kritik.
Alles dies sind scherzhafte Kümmernisse des Daseins, aber sie haben auch eine ernste Seite. Wer sich die Mühe nimmt, von der Erstaufführung eines Bekannten aus den Zeitungen einen Eindruck zu gewinnen, wird nicht einmal über den Wärmegrad der Aufnahme zuverlässiges erfahren. Wir können von der Aufführung in den verschiedenen Blättern lesen, daß das Publikum sich ablehnend, gleichgültig, freundlich und begeistert gezeigt habe. Dagegen gibt es nur ein Mittel: Abschaffung der Tages-(oder vielmehr Nacht-)Kritik. Ein in jeder Spielzeit neu zu wählender, aus Presse und Theaterleuten und vielleicht einem oder dem anderen angesehenen Bürger zusammengesetzter Ausschuß sollte nach jeder Uraufführung einen Augenblick zusammentreten und, wie einen Börsenkurs (der auch nichts mit dem inneren Wert der Papiere zu tun hat), den heutigen »Kurs« des Stückes festsetzen. Diese Notiz erschiene gleichlautend in allen Morgenblättern, und würde nach auswärts gedrahtet. Nun steht es den Zeitungen frei, in den nächsten Tagen von ihnen geschätzte Kritiker heranzuziehen, die in der Form von Essays Stücke besprechen, die ihnen wertvoll erscheinen. So kann kein Verfasser um die Tatsache seines Erfolges gebracht werden. Andererseits kann ein Theaterdirektor durch eine ernsthafte Besprechung aus berufener Feder ermutigt werden, ein bei der Uraufführung abgelehntes Stück vor einem nun besser belehrten Publikum noch einmal zu versuchen. Wer es nicht lassen kann, wider die Tantiemenfestung eines erfolgreichen, aber literarisch zweifelhaften Verfassers Sturm zu laufen, der mag es versuchen; aber dadurch, daß niemand mehr berufsmäßig dazu verpflichtet ist (die Kursnotierung macht den oft verdrossenen Nachtkritiker überflüssig), wird auch diese verneinende Kritik nur von Freiwilligen übernommen werden, die damit immerhin eher positive Zwecke verfolgen werden als die, welche vertragsmäßig verpflichtet sind, über jedes Stück etwas zu sagen. Es ließe sich auch denken, daß zwei gleich starke Geister, z. B. anläßlich der so umstrittenen Hoffmannsthal-, Hauptmann- oder Wedekind-Uraufführungen, im selben Blatt die Klingen kreuzten, ein Mittel, wodurch langsam ein Theaterpublikum ersten Ranges erzogen werden könnte. Die Kritik befaßt sich naturgemäß mit Dingen, die noch nicht gewertet und geschichtlich eingeordnet sind. Ihre Vertreter sind daher erfahrungsgemäß ganz anderen Irrtümern unterworfen als vereidigte Taxatoren von Altertümern. Die Zeitungen sollten sich daher Temperament und Neigungen der mit Kritik Betrauten etwas näher ansehen. Ein großes Berliner Blatt bringt gelegentlich tödliche Operettenkritiken aus der Feder eines Mannes, der »Die lustige Witwe« und den »Walzertraum« ablehnt. Gegen die Berechtigung dieses Standpunktes ist nichts zu sagen, für einen Kritiker der Operette aber geht er heute nicht an. Man dürfte nur den in Tageszeitungen urteilen lassen, der das Beste, was es in dem zu beurteilenden Fach heute gibt, anerkennt und an ihm das Neue mißt. Ebensowenig soll man jemand in eine Wedekindaufführung schicken, der von Ibsen an den Verfall der Literatur rechnet. Das Publikum will und soll in der Tageszeitung nur erfahren, was etwas innerhalb eines bestimmten, von ihm durch den Kartenkauf anerkannten »Genres« wert ist. Die Berechtigung des »Genres« überhaupt muß an anderer Stelle besprochen werden. Für das »Genre« selbst den einzelnen Verfasser verantwortlich machen – in der Tageskritik wenigstens, sub specie aeterni mag er in die Hölle geschleudert werden – ist dasselbe, wie einen Kellner für zu hohe Preise ausschimpfen. Erkundige ich mich nach der Anständigkeit eines Kaufmanns, so meine ich sein Verhalten innerhalb der kaufmännischen »Usancen«, nicht vom Standpunkt einer höheren Ethik, die »Usancen« nicht kennt, sondern nur Werte.
Zum Schlusse noch (nach der hygienischen Bemerkung für den sterblichen Leib) eine Bemerkung für die Unsterblichkeit: Nur die positive Kritik überlebt, die geistvollsten Schmähschriften bleiben besten Falles literaturgeschichtliche Merkwürdigkeiten.