Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Was den Frauen erlaubt ist

Ein Mangel an Takt ist schlimmer als ein Mangel an Tugend. Man hört von manchen Frauen, die ganz gut ohne Tugend gegen den Strom schwimmen; ich kannte keine, die dies ohne Takt wagte, und nicht sank.
Lord Beaconsfield.

Die Gesetze der herrschenden Moral erlauben der Frau keinerlei Gefühle, die nicht von einem gesetzlichen Band anerkannt sind oder werden sollen. Da nun aber die Frauen unter Umständen auch noch andere Gefühle haben, besteht eine ziemlich tiefgehende Bewegung mit einem radikalen und einem gemäßigten Flügel, welche die Freiheiten der Frau auch auf dem Gebiete der Liebe erweitern will. Die äußerste Forderung verlangt die Abschaffung der Ehe, »jenes Gefängnisses der Gefühle«, und vollständige Gleichberechtigung des weiblichen Begehrens mit dem männlichen. Es wird mit Recht erwidert, daß dadurch die Grundlagen der bestehenden, auf der Ehe beruhenden Gesellschaft zerstört würden. Ohne jene radikale Abschaffung der Ehe ist dagegen der Vaterschaft wegen eine wesentliche Erweiterung weiblicher Gefühlsrechte nicht recht vorstellbar. Dieser Verlegenheit der Liebesreformer gegenüber möchte man fast glauben, daß die Triebe, zu deren Anwälten sie sich machen, überhaupt erst seit den neunziger, frühestens seit den achtziger Jahren da sind, und man fragt sich: Wie waren denn die Menschen, ehe sie durch diese lästige Erscheinung heimgesucht wurden? Der Geschichtskenner und die Dame, deren Teetisch die eleganten Neudrucke der Erotika früherer Jahrhunderte schmücken, wissen, daß die Frauen auch vor den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ziemlich temperamentvoll gewesen sind. Wie haben sie es angefangen, um nicht zu verkümmern? Manche naive Leute sind wohl der Meinung, daß den Marquisen der Rokokozeit der Ehebruch erlaubt war. Das ist diese kindliche Art, die in der Vergangenheit stets gern das goldene Zeitalter der Gefühle erblickt. Vielmehr hat es keine Zeit gegeben, wo den Frauen mehr »erlaubt« war als heute, kein Land, wo die Konventionen weniger galten als Deutschland. Jeder Blick in vergangene Jahrhunderte oder über die deutschen Grenzen kann uns beweisen, daß überall bedeutend strengere Bindungen bestehen, die das Gefühlsleben der Frau unter oft harte Vorschriften stellen. Aber wir wissen freilich auch von einer ganzen Anzahl von Frauen der Vergangenheit, sowie von französischen und italienischen Frauen unserer Zeit, mit welcher Freiheit sie ihr Liebesleben geführt haben. Gewiß, das haben sie getan, aber erlaubt war es ihnen nicht, und dies ist der springende Punkt. Es liegt etwas Pöbelhaftes, an kaum abgestreifte Sklavenketten Erinnerndes in dem hitzigen Drang nach ausgesprochenen, verbrieften Rechten. Man vergißt, daß das ganze Leben sich aus Handlungen zusammensetzt, die nicht erlaubt sind, nicht erlaubt werden können, aber trotzdem stattfinden. Man kann viele Leute, die irgend eine Macht besitzen, durch nichts mehr in Verlegenheit bringen, als wenn man sie jedesmal um eine Erlaubnis fragt, sobald man ihr Machtgebiet betritt. Man tut es im Notfall ganz einfach; das Gefühl, daß man es eigentlich nicht tun sollte, macht einen verschwiegen und bescheiden, und solange man sich nicht »mausig« macht, ist der Machthaber froh, wenn er nicht einzuschreiten braucht. So steht es mit der Macht der Gesellschaft und den Wünschen der Frauen. Einem jungen Mädchen z. B. kann es nicht »erlaubt« werden, sich von einem Mann küssen zu lassen, der ihr gefällt. Geschieht es aber doch hie und da in einer verschwiegenen Ecke, so ist es kein Unglück. Dadurch, daß es Ausnahme bleibt, hat es nicht den abstumpfenden und entsittlichenden Einfluß, den der fast erlaubte, gewohnheitsmäßige »Flirt« in gewissen Kreisen Englands auf die Mädchen ausübt. Noch weniger können einer Frau ungesetzliche Beziehungen »erlaubt« werden, aber zweifellos gibt es einzelne Fälle, in denen man eine solche Beziehung entschuldbar findet, solange sie nicht in taktloser Weise auftritt. Hier kann man nun den Einwand erheben: Ja, wenn alle Leute so duldsam wären, dann ginge es, aber solange die Frau ihre Rechte nicht nach dieser Richtung hin erweitert, hängt sie immer von dem Zufall ab, ob die Menschen duldsam sein wollen oder nicht. Nun, vom Zufall hängen wir in einem fort ab, wenn einer für uns ausschlaggebenden Persönlichkeit unsere Nase nicht gefällt, so hilft es uns nichts, daß wir ein unbestreitbares Recht auf diese Nase haben. Ferner ist es gerade das Wagnis, das solche nur ausnahmsweise zu rechtfertigende Verhältnisse zwingt, sich verschwiegen zu verhüllen und nicht als maßgebendes Beispiel wirken zu wollen. Drittens soll auch nicht behauptet werden, daß die Welt nicht reformbedürftig sei, nur dürfte die Reformlust nicht in radikal-oberflächlicher Weise das Gewordene zu vernichten suchen, um es durch theoretisch Ersonnenes, Unerprobtes wie freie Liebe oder dergleichen zu ersetzen, sondern die Reform sollte es in geistigerer Weise auf eine Erziehung der öffentlichen Meinung zu etwas größerer Duldsamkeit absehen. Einem solchen Streben käme das wachsende psychologische Verständnis unserer Zeit helfend entgegen. Man erkennt heute bereits das Fehlerhafte einer auf die absoluten Begriffe gut und schlecht gestellten, leicht zur Verurteilung geneigten Ethik. Durch unser ganzes Leben geht der Wunsch nach psychologischem Verstehen der Vorgänge, und »alles verstehen, heißt alles verzeihen«. Leider sind aber fast alle Menschen, die sich aufs Reformieren legen, von solcher psychologischen Auffassung ebenso fern wie jene einseitigen Moralisten. Was sie an Stelle des starren Gut und Böse setzen wollen, ist ein moralischer Kommunismus, der die große Verschiedenartigkeit der menschlichen Veranlagung, sowohl der natürlichen wie der gezüchteten, verkennt und ganz einfach die Triebe befreien will, damit sie alles andere in grauer Eintönigkeit überwuchern. So verurteilt man z. B. nicht mehr so streng die Moral des Theaters. Wäre man psychologisch, so würde man sagen: Das Theater ist ein Organismus mit eigenen Gesetzen, die Frauen sind dort so vollkommen anderen Lebensbedingungen unterworfen als in der Ehe oder in den anderen weiblichen Berufen, daß man auf sie jene starren kleinbürgerlichen Sittlichkeitsbegriffe nicht anwenden soll. Gerade früher, als man das Wort Psychologie noch nicht im Munde führte, hat man instinktiv ungefähr so über das Theater geurteilt. Die Bühne mit ihrer Moral, sagte man sich, hat andere Gesetze als die bürgerliche Familie und Gesellschaft. Natürlich gestattete man sich die kleine Genugtuung, die Theatermoral für schlechter zu halten. Unsere psychologischere Zeit sollte sich nun sagen: Was wissen wir viel von schlechter und besser, die Moral der Bühne ist eben anders, sie ist organisch aus ganz bestimmten Voraussetzungen entstanden und hat deshalb ihr Lebensrecht. Die bürgerliche Gesellschaft dagegen kann ungefährdet und ruhig weiter nach ihren Gesetzen leben. Was tut man statt dessen? Man verlangt diesen ebenso unpsychologischen moralischen Kommunismus, der der Schauspielerin die vollen gesellschaftlichen Ehrenrechte gäbe, nach denen sie selten verlangt, der Bürgerfrau aber Freiheiten verleihen will, die das monogame Eheleben unmöglich machen würden. Dieser Kommunismus macht das Leben eintönig. Er zerstört ebensosehr die Tugend, wie er die Sünde spießbürgerlich machen will. Gott und der Teufel verlieren gleich viel dabei. Kann man nicht die Buntheit des Lebens bestehen lassen, die mannigfachsten Formen nebeneinander dulden, ohne ihre Schranken niederzureißen, so wie auch die besten Nachbarn nie auf den Gedanken kommen würden, aus reiner Menschenliebe die Grenzen ihrer Grundstücke zu verwischen? Ich vermute hinter dem Streben nach erotischer Freiheit eine Verschwörung der geschlechtlich besitzlosen Klassen.

Indem man zwanglos jedem Trieb einen Ausweg erlaubt, verhindert man die Kristallisation fester Formen, die bestimmter Gesetze bedarf, damit nicht alle Einzelteilchen auseinanderstieben. Menschen mit gemäßigtem Triebleben können in gewissen beschränkenden Gesellschaftsformen bestimmte sympathische und wertvolle Eigenschaften entfalten. Unter dem Zwang ihrer Klasse entwickeln sie Pflichtgefühl, Zuverlässigkeit, oft auch Ehre und Stolz. Wo aber die Leidenschaft zu stark ist, um sich in ein solches Gattungsdasein zu fügen, da soll sie erst an den einschließenden Mauern ihre Kraft erproben, und das Zerstören dieser Mauern soll ihr nicht zu leicht gemacht werden, damit man nicht jede Wallung für Leidenschaft hält. Die meisten Menschen werden nach den Gärungen der Jugend froh sein, sich unbeschädigt in ihren vier Wänden zu finden. Nur der wahren Leidenschaft kann es verziehen werden, wenn sie Schranken niederreißt, und darum darf dies der Frau nicht zu leicht gemacht werden– zu ihrem eigenen Schutze. Der hemmende Zwang gibt dem Trieb die Möglichkeit, seine Heftigkeit zu erkennen und sich klar zu werden, ob er wirklich das Opfer der Stellung und des Rufs wert ist. Das Unsinnige der modernen Lebensreformer ist, daß sie der bloßen Sinnlichkeit und Genußsucht gestatten wollen, was nur der Leidenschaft gebührt. Auch darin zeigen sie sich wieder als moralische Kommunisten. Wie entsetzlich gemein und langweilig wäre es, wenn Hans und Grete grundsätzlich zur Polygamie berechtigt wären und in der Volksschule lernen würden, wie man sich malthusianisch gegen ihre Folgen schützt. Das Naturrecht der persönlichen Leidenschaft, das allen Formen der Überlieferung widerspricht und sie gefährdet, kann niemals in soziale Formen einbezogen, d. h. erlaubt werden, sondern kann nur wie ein großartiger Naturvorgang im Gegensatz zu menschlichen Einrichtungen bestehen. Entweder die Leidenschaft zertrümmert die Formen, dann wird sie oft zur Tragik, oder sie weiß sie zu umgehen, dann entstehen meist komische Situationen. Das Recht der Kultur verlangt den Schutz gegen die Gewalt der Leidenschaft, die Leidenschaft aber fußt auf dem Recht der Natur, der Kampf zwischen Kultur und Natur ist das Leben. Sinnlichkeit und Genußsucht aber haben keine Rechte, sie müssen darauf angewiesen bleiben, hie und da einmal zu naschen, wo etwas Vergnügliches in ihre Greifweite kommt. Man soll diese Naschhaftigkeit zwar nicht als Diebstahl betrachten, aber, ihr ein Recht geben, wäre gemein. Es ist etwas ganz anderes, ob man etwas als menschliche Schwäche verzeiht oder durch Gesetze gestattet.

Die Verwirrung der Lebensreformer geht so weit, das Beispiel Christi heranzuziehen und aus seinem Verhalten gegen die Ehebrecherin beinah zu schließen, er habe den Ehebruch gewissermaßen entschuldigen wollen. Nichts liegt dem Sinne des Evangeliums ferner. Der Ehebruch bleibt nach wie vor verboten, aber wer ist so rein, daß er einen Stein auf die Ehebrecherin werfen darf? In diesem Wort Christi liegt die Lösung der ganzen Frage.

Der Grund dieser Mißverständnisse liegt im Individualismus, der den Wert alles Gruppenmäßigen verkennt. So ist z. B. die weibliche Tugend, die abgeschafft werden soll, eine vorwiegend soziale, aber darum nicht weniger wertvolle Eigenschaft. Sie ist das Ergebnis der Aufspeicherung gewisser Gemüts-, körperlicher und gesellschaftlicher Werte für eine bestimmte Gelegenheit, nämlich die Ehe. Die damit zusammenhängende Zucht ist eine Charaktereigenschaft erster Ordnung, die zur Zeit unserer Großeltern vielleicht übermäßig, als die einzige weibliche Eigenschaft, geschätzt wurde, heute aber doch wohl stark unterschätzt wird. Das kommt daher, daß diese Zucht fälschlicherweise auch da versucht wird, wo sie keinen Sinn hat, wo nämlich die Gelegenheit, auf die sie zielt, die Ehe, niemals kommt oder wenigstens nicht in einer so wünschenswerten Form kommen kann, daß sie die Opfer, die eine solche Zucht verlangt, wert ist. Daher hat jede Klasse ihre eigene Tugend, und man sollte mehr anerkennen, daß dies berechtigt ist. Mädchen mit geringen Aussichten auf eine angenehme Ehe die Tugend der wohlgehegten Familientöchter aufzwingen, ist eine der größten sozialen Grausamkeiten. Auch dies berechtigt zwar nicht zu dem Verlangen, die Tugend überhaupt abzuschaffen, sondern es kann auch hier nur eine Erweiterung der Duldsamkeit verlangt werden. Unsere moralischen Kommunisten und Kommunistinnen gehen so weit, auch den Familientöchtern, die jederzeit heiraten können, in Büchern über »Liebe und Ehe« die freie Liebe zu empfehlen. Das würde an Niederträchtigkeit grenzen, wenn es nicht ausgemachte Dummheit wäre. Die Folge davon ist die: Unerfahrenen Mädchen wird vorgelogen, die Welt wäre anders geworden, einer Frau sei heute vieles erlaubt, wovon unsere Mütter und Großmütter nichts geahnt hätten; hochstehende Frauen bekämen uneheliche Kinder und wären gesellschaftlich nicht nur vollkommen anerkannt, ja man betrachte sie sogar als Märtyrerinnen einer neuen Weltanschauung. Mir selbst sind eine Reihe von Fällen bekannt, wo junge Mädchen mit bester Kinderstube, mit guten Überlieferungen und allen Vorbedingungen zu einer glücklichen Ehe diesen namenlosen Bestrebungen zum Opfer gefallen sind und ihr Schicksal zerstört haben.

Die wichtigste Forderung ist, daß eine Frau, wenn sie irgendeinen Schritt von dem Pfade der bürgerlichen Moralvorschriften abweicht, ganz genau weiß, was sie tut, und nicht durch falsche Lehren oder Gedankenlosigkeit die Tragweite ihres Schrittes verkennt. Solange eine Dame, die sich einmal in Maske in den Strudel eines Faschingvergnügens stürzt, das Gefühl behält, daß sie damit eigentlich nichts Berechtigtes tut, sondern eine heimliche »Eskapade« begeht, wäre es langweiligste Pedanterie, ihr mit Moral zu kommen. Eigentlich gehört sie nicht hierher, aber weil sie das ganz genau weiß, ja dieses Wissen durch die Erkenntnis des Gegensatzes der unerlaubten Umgebung mit der ihr zukommenden noch steigert, darum kann sie ruhig da bleiben. Kurz, eine »Eskapade« ist stets erlaubt. Wer wollte jene leichte Frivolität missen, die wie Champagnerschaum am Rande der Gesellschaft perlt, sie ist etwas ganz anderes als diese traurige Nacktkultur der freien Liebe mit ihrem kommunistischen Moralgesetz. »Etwas Libertinage mildert die Sitten«, sagte ein weiser Moralist des 18. Jahrhunderts. Aber nur die Libertinage kann erlaubt sein, die sich als Libertinage bewußt bleibt und sich nicht mit dem Pathos einer neuen Weltanschauung selbst betrügt. Früher gaben sich die Frauen aus Temperament oder Gewinnsucht, vielleicht auch aus Gleichgültigkeit. Heute kommt eine dritte Klasse hinzu: die Amoureuse aus Weltanschauung. Nie hat im Garten der Venus eine häßlichere Distel gegrünt.

Gerade weil es nicht ohne Gefahr ist, ist das Spiel mit solchen Dingen so vergnüglich. Die freie Liebe aber will dem Leben diesen Zauber nehmen, indem sie ihn zum »Recht« entwürdigt, d. h. moralisch macht. Darum ist die freie Liebe gar nichts so entsetzlich Wüstes, sondern die letzte Folge trauriger Spießbürgerei: gewissermaßen alkoholfreier Champagner. Dem Abenteuer soll sein Wagnis genommen werden. Gleiches Recht für alle, auch für die Feigen und Garstigen. Man soll die freie Liebe nicht bekämpfen, weil sie wild und sündhaft, sondern weil sie so bodenlos langweilig ist. Wird sie eingeführt, dann bleibt reinlichen Menschen nichts anderes übrig als die Askese des Klosters.

Auf die Frage also, was der Frau außerhalb der Gesetzlichkeit erlaubt ist, gibt es nur eine Antwort: Nichts. Auf die Frage aber, was sie trotzdem unter Umständen wagen kann, gibt es auch nur eine Antwort: Alles.


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