Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Geschmack

Man hört öfters sagen: wir Deutsche stehen an gesellschaftlicher Kultur und Geschmack den Franzosen nach, dafür haben wir größere Natürlichkeit. Aus dieser Ansicht spricht die Meinung, Geschmack sei eine Gabe, ein Talent wie jedes andere, das man haben könne oder nicht. Das ist richtig, wenn man den besonderen künstlerischen Geschmack meint, sei es, daß er sich nur wählend oder urteilend oder aber schöpferisch verhält. Das aber, was man im alltäglichen Leben Geschmack nennt, ist etwas ganz anderes, etwas eher zum Charakter als zum Geist Gehörendes, was ebenso unbedingt erforderlich ist wie körperliche Sauberkeit. Es ist kein schöpferischer Geschmack nötig, um sogenannte Geschmacklosigkeiten zu vermeiden, sondern nur wahre Natürlichkeit, das instinktive Erkennen der eigenen Art, die einen nichts tun läßt, was einem unnatürlich ist. Zu wissen, daß Manet besser ist als Thumann, beweist jenen natürlichen Geschmack noch lange nicht. Man kann sogar einen »Kitsch« in seinem Zimmer haben und in »unpersönlichen« Möbeln wohnen, und doch mehr Geschmack in seinem Leben und Verhalten beweisen als manche Künstler und von »Kultur« Besessene. Der natürliche Geschmack kennt keine ästhetischen Regeln, die bestimmen, ob man modernes Kunstgewerbe anerkennt oder nicht. Da aber die wenigsten Menschen mehr diese angeborene Natürlichkeit besitzen, sind die konventionellen Regeln heute notwendiger als je.

Unter geschmacklosen Menschen versteht man nicht etwa solche, die keinen Wert aufs Äußere legen, sondern gerade solche, die es tun, aber nicht aus ästhetischen Gründen, sondern um aufzufallen, Besitzunterschiede zu bezeichnen und dgl. Hier hängt das Ästhetische eng mit dem Ethischen zusammen. Sagen: ich richte mein Leben einfach nach meinen Bedürfnissen ein, das ist weit davon entfernt, das zu sein, was man Geschmacklosigkeit nennt. Dieses scheinbar nur ein Fehlen ausdrückende Wort meint vielmehr ein positives Übel. Erst der wird geschmacklos, der Ansprüche macht, die ihm nicht zukommen, ohne es in seiner verbildeten Unnatur zu ahnen. Man sollte etwas weniger auf den guten einfachen deutschen Reisenden schimpfen, so lange er wirklich keinen Wert aufs Äußerliche legt, sich von eleganten Orten fernhält und keinen Menschen stört. Aber leider legen manche Deutsche einen übertriebenen Wert aufs Äußere, und gerade das macht sie geschmacklos. Gewisse groteske Auswüchse in den Sitten und den Formen der Kleidung, in kleinstädtischen Konventionen, in überladenen Gebrauchsgegenständen und nicht minder die dagegen verkündeten Reformen drücken nicht etwa eine harmlose Gleichgültigkeit gegen das Äußere aus, sondern eine nur allzu bewußte Absichtlichkeit. Zu diesen Ansprüchen kommt seit einiger Zeit die des deutschen Snob, der den Leuten in die Ärmel schielt, ob sie keine »Röllchen« tragen, von dem Bade erzählt, das er neuerdings täglich nimmt, im Einhalten der englischen Vorschriften englischer ist als der »King«. Dies geht heute schon so weit, daß man sicher sein kann: sitzt irgendwo in einem Gasthof, der kein Luxushotel ist, ein einzelner Mann im »Smoking« unter einer internationalen Gesellschaft in Touristen-Kleidung, so ist er ganz gewiß ein Deutscher, der kürzlich gelernt hat, was »evening-dress« ist und noch eine allzu sichtliche Freude daran hat. Er ist genau so geschmacklos, wie sein größter Feind, der Herr im Jägerhemd, der laut für Deutschtum und Turnfahrten eintritt. Beide sind gleich absichtlich und unnatürlich. Was man dem heutigen jungen Deutschen wünschen möchte, ist, daß er wieder harmloser werde; fühlt er sich etwas ungelenk und bäurisch, nun, so überlasse er den Smoking und den Frack andern. Will er ihn aber tragen, so frage er sich erst, ob seine ganzen Lebensgewohnheiten diesem Stil entsprechen. Sonst setzt er sich der Gefahr aus, die neuen Formen des Weltmannes falsch zu gebrauchen und am hellichten Tage mit tief ausgeschnittener Weste zu erscheinen. Je mehr Wert jemand aufs Äußere legt, desto mehr positiven Geschmack muß man von ihm verlangen; wer aber bescheiden auftritt, braucht keinen besonderen Geschmack zu besitzen, um Geschmacklosigkeit zu vermeiden.


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