Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Aphorismen und Glossen

Der Aphorismus

ist eine Kunstform wie jede andere. Er ist kein Keim, kein Abfall, kein Rest, kein Bruchstück, sondern ein Ganzes. Er ist weder eine Frühgeburt der Ohnmacht noch ein überhitztes Wunderkind. Er ist kein barbarisches Mißgeschöpf, sondern nicht anders zu wollen noch gewollt.

Niemand verlangt vom Lyriker, daß er seine kurzen Gedichte zu Epen oder Dramen blähe oder durch nachträgliche Übergänge logisch verbinde. Das wäre leichte Mühe, verminderte aber den Ausdruckswert seiner Schöpfungen.

Unsere Zeit liebt mehr als die dicke, verquetschte Karbonade ein sauber grilliertes Stückchen Fleisch.

Ideal

Ideal ist ursprünglich ein philosophischer Fachausdruck für eine Weltanschauung, deren Hauptvertreter Plato und Kant sind. Man soll den Fachphilosophen diesen Ausdruck nicht streitig machen.

Ideal nennt sich die Weltanschauung der Gebildeten, die das Christentum als Dogma fallen gelassen haben, aber den christlichen Geist festhalten wollen oder auf die Wissenschaft schwören, oder auf die Schönheit, die Menschheit, den Fortschritt oder auf Goethe, Beethoven oder Mrs. Blavatsky.

Ideal nennt sich ein Mensch, der, statt das tüchtig zu tun, was er vielleicht könnte, sich nach etwas »Höherem« sehnt oder darin pfuscht, der statt zu arbeiten von seiner »Mission«, seiner »Lebensaufgabe« spricht.

Ideal nennt sich ein Künstler, der sich nicht in den Rahmen seines Talentes zu fügen vermag, sondern »titanische Ideen« in das geduldige Material zwängen möchte.

Ideal nennt sich die Verherrlichung aller untauglichen Versuche.

Ideal nennen sich Frauen, die den zahmen Kitzel sogenannter »platonischer« Beziehungen einer tapferen Hingabe vorziehen.

Ideal nennen sich Männer, welche die Schüchternheit armer Mädchen ausnützen, um sie »aus Liebe«, d. h. umsonst, zu besitzen, Männer, die »um ihrer selbst willen« geliebt sein wollen.

Ideal heißt ein weniger gelungenes Riechwasser des sonst schätzenswerten Hauses Houbigant.

IdealVier Jahre später: Das Wort scheint wieder für den guten Stil frei zu werden, nachdem das Publikum, das es belegt hatte, sich jetzt dem Wort »Kultur« zuwendet. heißt eine Klosettschüssel, die, wie Fachleute versichern, Aussicht hat den »Kohinor« und die »Valesca« zu verdrängen. U. s. f.

Vorurteile sind anerzogene Unwissenheit. Man verwechselt häufig die Objektivität milder Scheu vor allem Außerordentlichen. Dieses gibt es aber auch, und wer es nicht empfinden kann oder will, der ist bei all seinem Maßhalten nicht objektiv, sondern höchst subjektiv.

Sozialismus. Ich hörte einen Mann aus dem Volke einer schönen Frau nachrufen: »Wie kann nur ein einzelner Mensch so schön sein!«

Es gibt Egoisten, die grundanständige und zuverlässige Charaktere sind, und Menschen mit stark altruistischem Trieb, sogenannte gute Kerle, die wir, so leid es uns tut, als Schweinehunde bezeichnen müssen.

Kosmische Urlandschaft im kleinen: Ich sah einmal in einem zoologischen Garten nach heftigem Regen ein Rhinozeros stehen; auf dem Rücken des Tieres hatte sich ein beträchtlicher See gebildet, aus dem ein Spatz trank.

Es ist leichter, kein Schweinefleisch zu essen und Samstags nicht zu rauchen, als an die unbefleckte Empfängnis oder die Dreieinigkeit zu glauben. Das erste kann man ohne weiteres seiner Mutter auf dem Totenbett versprechen, das zweite nicht. Darauf beruht die Zähigkeit des Judentums.

Gar mancher würde sich vor Tisch umbringen, wenn er nicht fürchtete, es nach Tisch zu bereuen.


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