Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Was ist ein Barbar?

Das Wort Barbar ist bekanntlich von den Griechen zur Bezeichnung jedes Nicht-Griechen geprägt worden und hat dadurch die Bedeutung eines an Kultur Minderwertigen angenommen. Dieser Sinn ist dem Wort in den verschiedenen klassischen Wiedergeburten der neueren Zeit geblieben, während die Bedeutung der nationalen Fremdheit durch die Weltverbreitung der antiken Kultur verloren gegangen ist. Je schwankender der Begriff Kultur ist, desto unsicherer wird auch der Begriff Barbar. Der Musiker nennt vielleicht so bereits einen Mann, der eine kleine Terz nicht von einer großen unterscheiden kann, ein Damenschneider empfindet vielleicht schon einen Verstoß gegen die letzte Modeform als barbarisch. Eines ist sicher: in unserem Sprachgebrauch ist der Barbar nicht gleichbedeutend mit dem Wilden, der überhaupt nichts mit Kultur zu tun hat, sondern der Barbar ist etwas im Hinblick auf eine Kultur, er setzt eine Kultur voraus, die er mißversteht und entstellt. Er ist heute ein ungewolltes Nebengewächs der Kultur. Über keinen Begriff hat man in der letzten Zeit mehr gesprochen und geschrieben, als über den Begriff Kultur, ohne zu einer übereinkömmlichen Klarheit gelangt zu sein. Vielleicht kann man ein wenig zur Klärung beitragen, indem man festzustellen unternimmt, was Kultur nicht ist und der Frage Beantwortung sucht: Was ist ein Barbar?

Der Barbar vergreift sich entweder an der Natur, ohne diesen Eingriff durch das Schaffen eines Kulturwertes zu sühnen: gescheiterte Kulturversuche wie diese kasernenartigen Hotelbauten in Gebirgstälern. Darüber gibt es bereits eine Literatur, die zu fassen der Kölner Dom vielleicht gerade groß genug wäre. Oder der Barbar vergreift sich an der Kultur selbst, er fühlt nicht ihre Werte, sondern er ist als Emporkömmling von ihr verblüfft (auch dies ist bekannt genug), oder, was schlimmer ist, als Pedant von ihr geärgert. Im einen Falle äfft er die Kultur sinnlos nach, im andern verdammt er sie von intellektuell vorgefaßten Grundsätzen aus. Bald legt er an das organisch Gewordene Maßstäbe einer willkürlichen Logik an, indem er z. B. die Unsinnigkeit der geselligen Sitten nachweist, ohne ihre Schönheit zu sehen, bald tötet er das Künstlerische mit den Forderungen einer schulmeisterlichen Ästhetik, oder das Menschliche mit den Gesetzen einer doktrinären Sittlichkeit. Von den barbarischen Emporkömmlingen ist oft genug gesprochen worden. Beschäftigen wir uns daher einmal mit dem pedantischen Barbaren.

Der pedantische Barbar ist weder wild noch kultiviert, er ist unorganisch und darum unnatürlich, naturfeindlich, künstlich. Aus seiner Theorie heraus möchte er an einem beliebigen Punkte heute oder morgen zerstörend in das Wachstum eingreifen, um der Natur seine Reformpläne aufzuprägen. Es kann vorkommen, daß er diese für den Inbegriff der Kultur hält und alles Blühende, Lebendige für das Barbarische, weil von seinen Ideen Unberührte, erklärt. Dem Naturapostel z. B. erscheint der natürliche Weltmensch barbarisch, weil er Fleisch ißt, die kleinen Lügen der Konvention nicht verschmäht usw. Als Wertmesser dient dem Barbaren niemals Wesen oder Kraft der Erscheinung selbst – das schiene ihm »oberflächlich« –, sondern er muß immer etwas Intellektuelles der Erscheinung unterschieben. Da ihn das Leben selbst verwirren würde, schwelgt er in seinen künstlichen Maßstäben, nach denen er die Erscheinung zwingen möchte. Ihr Abweichen und gelegentliches Übereinstimmen mit seinen »Forderungen« bestimmt ihm, was gut und böse, schön und häßlich, vernünftig und unvernünftig ist, er muß gewissermaßen immer erst in der Ethik, der Ästhetik oder der Logik nachschlagen, ehe er zu irgendeiner natürlichen oder kulturlichen Erscheinung eine Beziehung findet. Das Wertvolle, das Adelige, das Göttliche ist ihm niemals das, was in seinem Busen wurzelt, nicht ein Symbol seiner Art, denn die ist ihm halb unbewußt das Gemeine, Unreine, Tierische. Seine Tugend ist aus anderem Stoff als er selbst, sie ist etwas außer ihm, ein Jenseitiges, Schwer-zu-erreichendes, Außermenschliches, etwas Quälendes. Sie gräbt eine Kluft zwischen Gefordertem und Erfüllbarem, verdammt dadurch zur ewigen Unfertigkeit, zum Zweifel an sich selbst, zur chronischen inneren und äußeren Verlegenheit, die dann oft genug in ihr verzweifeltes Gegenteil umschlägt: die Anmaßung aus überspanntem Menschentum, die Frechheit aus innerer Befangenheit. Die inneren Qualen ohnmächtiger Zweifel und des zuchtlosen Fanatismus preist der Barbar als heilsam, gehaltvoll, tief, er nennt sie wahres Innenleben. Das Wesen der Kultur dagegen ist stets Vollkommenheit, welche die barbarische Fragestellung: »Inhalt oder Form?«, »Tiefe oder Oberfläche?« nicht etwa entgegengesetzten Sinnes löst, sondern überhaupt ausschließt, so etwa wie wortklaubende Erörterungen darüber, ob ein Werk subjektiv oder objektiv, realistisch oder idealistisch ist.

Dem pedantischen Barbaren fehlt ebenso die Blickschärfe, die das Leben mutig und klar betrachtet, wie jener zuzeiten freiwillig die Maßstäbe verwirrende oder umkehrende Humor, der gern einmal das Prinzip opfert und fünf gerade sein läßt.

Der Wilde frißt, der kultivierte Mensch speist, der Pedant ernährt sich. Daß auch der Speisende ein Augenmerk auf den hygienischen Wert der Gerichte hat, ist denkbar vernünftig und solange nicht tadelnswert, als es nicht zum selbstgefälligen Ausdruck kommt, man soll aber nicht vergessen, daß mit Kultur die Hygiene nicht das Mindeste zu tun hat. Gewiß, die Hygiene ist etwas Gutes, aber sie liegt in einer ganz anderen Ebene. Dem pedantischen Barbaren ist das nicht klar zu machen, er verzichtet auf das Blühen, er bleibt gesund und reizlos.

Alle gesellschaftliche Kultur beruht auf dem Unsichtbarbleiben der zur Lebenserhaltung notwendigen Notdurft, im weiteren Sinne gehört dazu alles Praktische und Moralische. In verkünstelter Form drückt sich dieser Standpunkt in der Furcht englischer Damen aus, man könne annehmen, sie hätten einen Magen. Dieser Körperteil darf in der englischen Unterhaltung nicht genannt werden. Die den Fortbewegungsapparat nicht verbergende Hosentracht wird von den Völkern, die sie nicht besitzen, als barbarisch empfunden. Zweifellos hat die Tracht etwas Großartigeres, die den Mechanismus des Gehens verhüllt und dadurch diese Bewegung zum Schreiten werden läßt.

Für die Kultur eines Gastmahls ist es gleichgültig, ob die dazu nötigen äußeren Mittel durch Erbschleicherei oder durch Straßenräuberei erworben sind, ob der Koch und der Kellermeister ihre Bezahlung erhalten haben, ob draußen tausende Hungers sterben, ob die, welche das Gastmahl genießen, arglistig, verderbt und grausam sind, während der Küchenjunge von einem Jammerlohn eine starblinde Mutter erhält und die Gouvernante des Hauses auf ihre Mitgift verzichtet hat, um einem lockeren Bruder die höhere militärische Laufbahn und vielleicht das Mitspeisen bei diesem so außerordentlich kultivierten Gastmahl zu ermöglichen. Daß römische Schwelger ihre Muränen mit Sklavenfleisch fütterten, läßt die verschiedensten Beurteilungen moralischer, sozialer und religiöser Art zu, vom Kulturstandpunkt aus, der hier nur scharf umrissen, weder für den einzigen, noch für den wichtigsten erklärt werden soll, ist allein die Frage entscheidend, ob die Muränen dadurch wirklich an Wohlgeschmack gewannen, oder ob das Opfer von Sklaven nur ein gastronomisches Pfuschertum war. Das ist dem Pedanten unangenehm zu hören, denn er möchte gern alles Gute auf der einen, alles Böse auf der anderen Seite haben.

Die einfache Zerschneidung des Lebens in Gut und Böse, wie einen Braten in Fleisch und Knochen, hat den englischen Schriftsteller Thomas de Quincey in einem Aufsatz über den Mord als Kunstwerk zu einer reizenden Satire veranlaßt (»On murder considered as one of the fine arts«). Fern davon, irgendwelche Stellung zum fünften Gebot zu nehmen, das in seiner Ehrwürdigkeit unangetastet bleibt, betrachtet der Verfasser die »schönsten« Morde der Geschichte, die ja nun doch einmal begangen sind, auf ihre reine Vollkommenheit als Morde und stellt betrübt fest, daß auch hier die Kunst der großen Meister bei einem dilettantischen Epigonengeschlecht in Vergessenheit geraten ist.

Es ist heute das Merkmal eines guten Hauses geworden, daß man die Dienstboten in gutgelüfteten Räumen wohnen, baden und sich vernünftig ernähren läßt. Das ist außerordentlich erfreulich, nichts ist zweckmäßiger, aber mit der eigentlichen Kultur hat auch das nicht das mindeste zu tun. Der edle Typus des wahren Dieners ist trotz zunehmender Reinlichkeit im Aussterben begriffen. Wo sind die Leduc unserer Zeit?

Die Kardinaltugenden des pedantischen Barbaren sind guter Wille, Fleiß und Wissen. Hier soll keineswegs zur Verachtung dieser Eigenschaften angeleitet, nur betont werden, daß das Wort Tugend viel erhabenere Inhalte in sich schließt, als jene sekundären, praktischen, selbstverständlichen Eigenschaften, die nur mechanische Mittel, Notdürfte des Lebens, nicht selbst Lebenswerte sind, wie Güte, Schönheit, Mut, Geist usw. Jene als Tugenden preisen, setzt eine im ganzen böswillige, träge, unwissende Umgebung voraus. Treten sie als Selbstzweck hervor, so entsteht biedere Selbstzufriedenheit, gequältes Hasten oder geistlose Gelehrsamkeit. Alles Gelungene muß den Schein des Mühelosen behalten. Man weiß, daß die Alten alle nicht geistigen, nicht unmittelbar das Lebensgefühl steigernden Beschäftigungen als kleinlich ächteten, selbst die Bildhauerei und den Erzguß, weil sie besonders sichtbar der Technik unterworfen sind. Während sie die Werke der Kunst nicht müde wurden zu preisen, war ihnen der Künstler ein banausischer Handwerker, bis Perikles durch seine Freundschaft für Phidias jenes geschichtliche Beispiel gab, das vielleicht nicht nur gute Früchte getragen hat.

Der Barbar ist stolz darauf, wenn seine Werke nach Schweiß und Lampe riechen. Er will nicht den »kalos kagthos«, den Galantuomo, den Weltmann bilden, sondern Schulbuben wie Fässer mit gelehrtem Wissen auffüllen. Statt Kultur preist er »allgemeine Bildung«. Sie soll auch dem Volke eingeflößt werden. Der Barbar ahnt nicht, daß sie im Blut wie ein Fremdkörper schwärt. Er fühlt nicht, daß die Gebärde des italienischen oder spanischen Bettlers, der Mutterwitz unserer Handwerker wertvollere Lebensgüter sind, als der tote Besitz allgemeinen Wissens. Er weiß nicht, daß es auch geistig und seelisch nicht auf das ankommt, was man verzehrt, sondern auf das, was man verarbeitet, zu Leben geformt hat, und daß gewohnheitsmäßige Mast die Rasse mehr verschlechtert, als zeitweilige Dürftigkeit der Ernährung. Der Barbar weiß nicht, daß jede, selbst seine Torheit reizvoll werden könnte, wenn sie sich geistreich gäbe; ist doch selbst die eigentliche Philosophie der Barbarei, das System Jean Jacques Rousseaus, von anmutigen Geistern geformt bis auf die Toilettentische der Herzoginnen und Marquisen gedrungen, denn »im Grunde gibt es nur ein verbotenes Genre, das Langweilige«.


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