Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Reisen

Der Baedeker oder die Technik des Reisens

Leute, die einen unabhängigen Geist zeigen wollen, pflegen auf den guten Baedeker zu schimpfen. Haben sie es vielleicht nötig, sich durch einen Stern oder gar durch zwei darauf hinweisen zu lassen, welche Bilder gut, welche Bauten sehenswert, welche Gebirgsaussichten unvergleichlich sind? Nein, sie wollen ihrer eigenen Individualität folgen, die wird sie schon richtig bedienen.

Andere bescheidenere Menschen stellen sich in den Zeiten des regsten Verkehrs mitten auf die Piazza della Signoria oder Trafalgar Square, entfalten einen riesenhaften Stadtplan, während die Flut der Weltstadt um sie brandet oder das südliche Volksleben, von ihnen ungesehen, seine Reize zeigt. Sie entdecken plötzlich am Abend vor der Abreise, daß sie einen Baedekerschen Stern außer acht gelassen haben und ihr Gewissen quält sie, wie das eines Schülers, der seine Aufgabe nicht gelernt hat.

Man kann behaupten, daß beide Menschen die Technik des Reisens nicht besitzen.

Wozu, wird mancher fragen, ist zum Reisen überhaupt eine Technik nötig? Die meisten Leute müssen mit Zeit, Geld und Kräften sparsam sein. Nun befinden sie sich plötzlich in der Lage, über ein kleines Kapital von Zeit, Geld und Kräften zu verfügen, und deshalb hängt alles davon ab, ob sie die Kunst der Ökonomie besitzen. Technik des Reisens ist also nichts anderes, als Ökonomie mit Geld, Zeit und Kräften.

Ich denke hier nicht an Menschen, die in einseitiger Absicht reisen, z. B. solche, die ein paar Wochen lang »ausspannen« wollen und aufs Geratewohl in einem Land herumreisen, gleichgültig, was sie sehen. Sie mögen sorglos mit Zeit und Geld umgehen. Ebenso sehe ich ab von Gelehrten, die in einer beschränkten Zeit eine bestimmte Anzahl von Dingen unbedingt sehen müssen, auch auf die Gefahr hin, ihre Kräfte etwas zu überspannen. Ich stelle mir vielmehr einen Reisenden vor, welcher in einer bestimmten Zeit ein bestimmtes Land kennen lernen will, der nicht die Wut der Vollständigkeit hat, aber auch nichts Wesentliches auslassen will. Für ihn ist es wichtig, daß er von seiner Reise »etwas hat«, daß er sich nicht durch ihm langweilige Dinge erschöpft, sondern bis zum Schlusse der Reise genießt.

Gerade Menschen der letzten Art pochen oft auf ihre Individualität und lehnen jeden gedruckten oder lebendigen Führer ab, um sich ganz dem Zufall zu überlassen. Nun ist nichts wahrer, als daß ein auf zufälligem Spaziergang erstiegener Berggipfel oder eine beim Umherschlendern gefundene abliegende Kirche uns erheblich mehr erfreuen, ja uns sogar mehr von dem Wesen eines Landes mitteilen kann, als die Sehenswürdigkeiten mit Baedekerschen Sternchen. Wer sich aber rein auf diese Zufälle verläßt, macht den großen Fehler, welchen so viele »individuelle« Menschen heute in ihrer ganzen Lebensführung begehen: sie mißachten Überlieferung, Gewohnheit und Konventionen. Sie verdammen sich freiwillig zu einem gewissen Außenseitertum und verlieren schließlich alle Fühlung mit dem Wirklichen. Wer die nun einmal aufgestellten Wegweiser geflissentlich mißachtet, kann wohl von Zeit zu Zeit einmal in ein besonders liebliches Wiesental geraten, meistenteils aber wird er sich verlaufen. Gerade dieses Unvorhergesehene sollte man dem Zufall überlassen. Wer aus dem Zufall ein System macht, eine Reise (oder auch das Leben) auf den Grundsatz aufbaut, an den Wegweisern vorbei zu laufen, ist ein Narr, meinetwegen ein individualistischer.

Eine möglichst gute Vorbereitung für eine Reise ist also Hauptbedingung, zumal wir die Erfahrung machen können, daß unsere Interessen mit unseren Kenntnissen steigen. Die meisten Dinge, die uns langweilig sind, sind es bloß, weil wir nichts davon verstehen. Die Vorbereitung auf eine Reise soll in uns gewissermaßen die Gefächer »immer«, in die wir die Eindrücke aufnehmen werden, oder wenn wir das Andrängen der Eindrücke mit einem Strom vergleichen wollen: wir müssen Gefäße mitbringen, um aus der Flut schöpfen zu können. Ich habe ganz Europa und einen Teil von Afrika und Asien bereist und habe es immer für ein Unglück gehalten, wenn für ein Land noch kein Baedeker da war. Welchem Bildungs- und Wissensgrade ein Reisender auch angehören mag, er soll zum Baedeker greifen. Indem ich das anerkenne, enthülle ich mich vor den Augen vieler als Pedant und Philister, aber ich freue mich dennoch, eine alte Dankesschuld an den Urheber der roten Bände abtragen zu können, über den es Sitte ist, sich lustig zu machen. Wer sogenannte Kulturinteressen hat, findet im Baedeker die ersten notwendigen Literatur- und Quellenangaben, die wissenschaftlich durchaus zuverlässig sind. Ich gebe zu, daß die kunstgeschichtlichen Aufsätze aus bewährten Federn dem dilettantischen, rein verstandesmäßigen Kunstbetrieb unserer Zeit zu weit entgegenkommen und damit die Manteltaschen der nicht von dieser Kunstwut Angesteckten mehr als nötig beschweren. Ich würde vorziehen, statt dessen in jedem Bande ein ganz kurzes alphabetisches Wörterbuch zu finden, das auf die dem Reisenden täglich auftauchenden Fragen über die Hauptereignisse und -personen des Landes bündige Auskunft gibt. Darin dürfte aber die Kunst keinen weiteren Raum einnehmen, als andere Gebiete, besonders Geschichte und Politik, es wäre wichtiger, in diesem Wörterbuch eine Angabe zu finden über einen im Mittelpunkt des modernen Lebens stehenden Mann, als über halbvergessene Lehrer und Schüler großer Meister der Kunst.

Was nun die praktischen Angaben im Baedeker betrifft, so sind sie fast ganz zuverlässig. Man muß bloß das einfache System seiner Sternchen und Beiworte begriffen haben, um schon in der Bahn den Gasthof herauszufinden, der einem passen wird. Besonders bezeichnend ist es, wenn bei dem Namen einer Stadt der erstgenannte Gasthof weder ein Beiwort noch ein Sternchen hat, dem zweiten etwa das Wort »Gelobt« beigefügt ist, über dem dritten aber ein Sternchen strahlt. Das soll wohl heißen: Der erste Gasthof ist anspruchsvoll und schlecht, der zweite ist wahrscheinlich ein Konkurrenzunternehmen, das notgedrungen ein bißchen besser sein muß, um sich halten zu können. Das dritte ist ein altes, gutes aber nicht anspruchsvolles Haus. In dieser Beziehung folge ich Baedeker so unbedingt, daß ich lieber in ein Haus zweiten Ranges mit Stern, als in eines ersten Ranges ohne Stern gehe, denn die Sterne werden, wie ich höre, nur auf Grund eines »concensus omnium« verliehen, der sich aus den zahlreichen, an den Verlag gelangenden Zuschriften ergibt.

Persönlicher wird man bei der Auswahl der Sehenswürdigkeiten verfahren. Der Guide Joanne oder die Führer von Brown und Murray geben die Beschreibung der Sehenswürdigkeiten, ohne sie irgendwie nach dem Rang zu ordnen. Individualisten ziehen das vor, weil sie sich weniger in ihrem Selbstbestimmungsrecht beeinflußt fühlen. Ich habe es sehr ermüdend und zeitraubend gefunden. Wenn ich eine Anzahl von Moscheen oder antiken Tempeln gesehen habe und ich lese nun, daß in irgendeiner nur mit Anstrengung oder großen Kosten zu erreichenden Einöde noch ein solches Denkmal steht, so gibt es nur eine Frage bei der Entscheidung, ob man die Reise machen soll: Welchen Rang nimmt der Bau in der Schätzung der Kenner ein? Es ist daher vollkommen berechtigt, dem Tempel von Paestum zwei Sterne zu geben und einem anderen gar keinen. Wer überhaupt noch keinen gesehen hat und auch so bald keine andere Gelegenheit dazu haben wird, mag auch zu den ungestirnten Tempeln pilgern und vielleicht einen stärkeren Eindruck haben, als ein anderer vor der Akropolis. Baedekers Vorzug ist, daß er nach konventionellen Maßstäben urteilt. Wer heute in den Louvre oder den Prado geht, will an ganz bestimmten Bildern nicht vorbeilaufen und wird, besonders wenn seine Zeit drängt, für jeden Wegweiser dankbar sein. Individuellen Entdeckungen kann ja außerdem jeder so viel Raum geben, wie er mag. Dafür kann es naturgemäß keinen anderen Führer geben, als die eigene Laune, aber selbst einer individuellen Minderheit kommt Baedeker so weit entgegen, daß er in eng gedruckten Absätzen auf vieles aufmerksam macht, woran der konventionelle Durchschnittsreisende vorübergehen, was aber den Liebhaber von Seltenheiten erfreuen mag.

Zweifellos gehört es zu den unangenehmsten Dingen auf Reisen, wenn man überall sofort als Fremder erkannt und behandelt wird. Daran soll auch häufig der Baedeker schuld sein. Er ist es nur da, wo er falsch benutzt wird. Dank dem Baedeker sind wir vielmehr in der Lage, an jedem Bahnhof so anzukommen, als wären wir hier bekannt. Wir lesen im Baedeker, daß wir in Budapest bei der Ankunft »Hordar« rufen müssen. Das heißt Gepäckträger. Wir sagen dem Mann den Namen des im Baedeker gefundenen Hotels, kennen die Taxe, die er zu beanspruchen hat, und nichts kann den Mann hindern, uns für echte Magyaren zu halten, wenigstens liegt ihm der Gegenbeweis ob, daß wir es nicht sind. Wir haben die Zeit in der Bahn dazu benutzt, zu erforschen, ob wir, falls uns der Gasthof nicht gefällt, in einem uns vielleicht mehr verlockenden Haus speisen können. Wir unterliegen daher nicht den Vorschlägen des Gasthofbesitzers, Geschäftsführers oder Oberkellners. Wir wissen die Namen der besten Zeitungen, in denen wir die Theateranzeigen finden, wir haben den Stadtplan im Kopf, so daß wir nicht öfter einen Kutscher brauchen, als zu Hause, Wir wissen die Sehenswürdigkeiten, die wir auf alle Fälle sehen wollen, und können daher, dank Baedeker, viel Zeit zum »individuellen« Bummeln gewinnen. Wir wissen, ob wir auf einem Spaziergang ein erträgliches Speisehaus finden werden, oder ob wir an einem Sommerabend ein Flußbad nehmen können. Wir sind nicht auf das gönnerhafte Gutachten des Oberkellners angewiesen, um zu erfahren, ob wir an dem oder jenem Ort Frack oder Straßenanzug tragen sollen. Kurzum, durch die richtige Benutzung des Baedekers, den wir hübsch in der Tasche behalten, fallen wir so wenig wie irgend möglich als Fremde auf.


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