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Die Langeweile, das Unerträgliche, ist die durch keinen Rhythmus belebte Einförmigkeit. Durch Rhythmus wird das Schwere leicht. Darum feuern sich Arbeiter durch Lieder an, darum gestattet die militärische Zucht matten Truppen auf dem Marsch das Singen. Wer einer ermüdenden Arbeit von vier Stunden mit Grauen entgegensieht, schiebe in der Mitte eine Pause von zwanzig Minuten ein, während der er einen kleinen angenehmen Weg geht, eine Zigarette raucht, irgendwo ruhig eine Tasse Tee trinkt, um dann wieder an die Arbeit zurückzugehen, er hat seine Last um ein Drittel erleichtert. Es handelt sich dabei nicht um den Genuß dieser Viertelstunde, die schnell verflogen ist, sondern um den rhythmischen Einschnitt, den sie in die trostlos lange Linie der Zeit macht. Es gibt eine falsche Sparsamkeit mit der Zeit, wie es eine mit dem Gelde gibt. Sie beruht darauf, daß man sich nichts gönnt, und das Sparen zum Selbstzweck macht. So hört es auf, Ökonomie zu sein. Ich bezweifle, daß ein Mann, der von drei bis sieben Uhr in der Bibliothek sitzt, der genau so lange arbeitet wie ein anderer, nur mit dem Unterschied, daß er sich nicht jene zwanzig Minuten gönnt, ich bezweifle, daß er in den vier Stunden mehr zuwege bringt. Wenn der andere an seinen Platz zurückkehrt, blickt er ihn triumphierend an, als wolle er sagen: Nun hast du deiner Genußsucht zwanzig Minuten geopfert, jetzt sind sie vorbei, während ich in meiner Arbeit fortgeschritten bin. Bereust du nicht die verlorene Zeit? Nein, er bereut sie nicht, denn der kleinliche Rechner weiß nicht, was jener an neuen Kräften und neuer Arbeitslust für diese zwanzig Minuten eingewechselt hat. Die Ökonomie dieses Mannes beruht darauf, daß er auf seinem kleinen Kapitälchen sitzen bleibt und so wenig wie möglich davon ausgibt. Er kennt nicht die fruchtbaren Transaktionen, mit denen man ein Kapital verdoppelt und verdreifacht.
Die Nervosität vieler Menschen kommt aus dem unrhythmischen Chaos einer übermäßigen Geschäftigkeit oder eines sinnlosen Müßigganges, der ihnen weder Genuß noch Ruhe bringt. Wer die Herrschaft über seine Nerven verloren hat, sollte sich angewöhnen, täglich einige Seiten eines guten Buches Wort für Wort zu lesen, nichts Überanstrengendes wie Astronomie oder Finanzwissenschaft, und nichts zu Zerstreuendes wie einen modernen Roman, sondern etwas Sammelndes, am besten einen anschaulichen Geschichtsschreiber oder klaren Philosophen. Dies wirkt wie eine gelinde Knetkur, die einem seine Kräfte wieder bewußt macht. Um diese eine Stunde der Sammlung wird sich dann ein immer gehaltreicherer Tag kristallisieren. Geistige Sammlung stärkt mehr als Sport und völlige Ruhe, weil sie durch Rhythmus belebt.
Es ist zweifellos, daß der Mensch mit einer täglichen Mahlzeit für seine Ernährung auskommen kann. Aber man versuche einmal, eine Zeitlang das Mittag- oder das Abendessen auszuschalten und sich mit etwas Schokolade und Biskuits zu begnügen. Es wird viel weniger der Magen sein, der unter einem solchen Leben leidet, als die Nerven. Die wohltätige rhythmische Unterbrechung des Tages durch die Mahlzeiten ist aufgehoben. Man weiß nicht mehr, wann der Vormittag aufhört, der Nachmittag anfängt. Das Trostloseste tritt ein: man wird der Zeit gewahr, wozu man bei einer rhythmischen Tageseinteilung auch bei nur mäßiger Beschäftigung niemals kommt. Der Zeit gewahr werden ist aber für uns Menschen das Schrecklichste. Darauf beruht die Qual der schlaflosen Nächte, wenn wir eine Viertelstunde nach der andern schlagen hören, oder die Trostlosigkeit des Wartens, während dessen wir zwischen dem Augenblick und dem Erwarteten eine leblose, inhaltlose Zeitkluft fühlen. Am schlimmsten wird es, wenn es immer unbestimmter wird, ob sich diese Kluft überhaupt noch schließen kann, da das Erwartete am Ende gar nicht kommt. Hier gibt es nur den einen Ausweg, diese tote Zeitspanne auszufüllen, indem man irgend etwas anderes beginnt, worin man sich durch das Erwartete überraschen läßt.
Es ist nicht wahr, daß das Vergangene ganz vergangen ist, daß es, wenn die Jugend doch einmal vorbei ist, gleichgültig wird, wie man sie verbracht hat. X und Y haben vielleicht als alte Leute in einem Stift ganz das gleiche Leben, und dennoch mag der eine zufrieden, der andere von Selbstquälerei erfüllt sein, weil rhythmisch, im Verhältnis zum ganzen Leben, dieses augenblicklich gleiche Schicksal doch etwas ganz andres bedeutet. Für den einen ist es die organische Fortsetzung einer lebendigen Jugend, ein zufriedenes Ausruhen von ihr. Für den andern ist es nichts als die ewig gleiche Inhaltlosigkeit eines zu allen Zeiten inhaltlosen Daseins. Es hilft einem Manne, der im Gefängnis sitzt, nichts, wenn er sich am Abend sagt: wenigstens könnte ich am Abend zufrieden sein, denn auch wenn ich frei wäre, täte ich jetzt nicht viel andres als hier. Aber die einsame Ruhe ist etwas andres nach einem belebten und nach einem unbelebten Tag. Für den Bettlägerigen ist nachts das Bett nicht dasselbe wie für den sich tagsüber frei Bewegenden.
Auch der Wert der Feiertage, des Vergnügens beruht im wesentlichen nur auf den dadurch ermöglichten Einschnitten. Es handelt sich dabei wirklich nicht um das bißchen »Pläsier«, sondern um etwas ganz anderes. Ich erinnere mich, einmal eine nette kleine Geschichte darüber gehört zu haben. In einer glücklichen Ehe in Paris wunderte sich die Frau darüber, daß ihr Mann jeden Abend nach dem Essen auf eine knappe Stunde wegging, angeblich ins Kaffeehaus. Sie versuchte es, ihn dadurch zurückzuhalten, daß sie ihm einen unübertrefflichen Kaffee zu Hause vorsetzte. Er trank ihn schnell, lobte ihn und ging dann doch fort. Schließlich erwachte die Eifersucht der Frau, sie vertraute sich einem Bruder an, der versprach, die rätselhaften Schritte des Gatten zu beobachten. Es fand sich, daß der tatsächlich nur gegenüber eine Tasse Kaffee trank und, meist allein, eine Zigarre rauchte. Nun setzte sich die Frau mit dem nahegelegenen Kaffeehaus in Verbindung, ließ von dort in einer strohumflochtenen Kanne den Kaffee heiß herüberbringen und setzte ihn dem Manne vor. Nach dem ersten Schluck weigerte er sich, das abscheuliche Getränk zu sich zu nehmen. Nach wie vor verbrachte er den Nachmittag in seinem Arbeitszimmer zu Hause, speiste mit seiner Frau, die sich an seinen Rhythmus gewöhnte, unternahm dann seinen geheimnisvollen Gang, und war von zehn Uhr ab wieder ein einwandfreier Gatte. Als er erfuhr, woher der schlechte Kaffee gekommen war, hielt er es für unmöglich, und wenn er nicht gestorben ist, glaubt er es heute noch nicht.
Das Unrhythmische ist das Hoffnungslose, und darum kann man auch jenen Mann verstehen, von dem Chamfort erzählt. Dreißig Jahre lang war er mit einer getrennt von ihrem Manne lebenden Frau befreundet, die er jeden Abend besuchte. Schließlich starb der Gatte, und alle Welt, besonders die Dame, nahm an, nun würde ihr Freund sie heiraten. Er machte aber nicht den mindesten Versuch. Ein Bekannter wurde schließlich zu ihm geschickt, um ihm nahezulegen, daß er eigentlich der Dame diesen auch für seine Jahre vernünftigen Schritt schulde. Er antwortete: »Seit dreißig Jahren besuche ich jeden Abend Madame X. Wenn ich sie aber heirate, weiß ich nicht mehr, was ich mit meinen Abenden anfangen soll.«
Aus demselben Grunde habe ich bei häufigen Aufenthalten am Genfer See stets vorgezogen, in dem eintönigen Vevey zu wohnen. Bei schlechtem Wetter, wenn Ausflüge nicht möglich sind, kann man dort die Eintönigkeit unterbrechen, indem man nach dem belebten Montreux geht, wo es Konditoreien, Musik, elegante Läden und Toiletten gibt. Wer aber in Montreux selbst wohnt, ist bei schlechtem Wetter verraten und verkauft. Nach dem langweiligen Vevey zu gehen, wird keinem Menschen einfallen, und in Montreux ist man schon.
Gewöhnt man sich an einen Rhythmus zu sehr, dann wird er wieder eintönig und man muß ihn unterbrechen. Nichts regt mehr an, als einmal zu nicht gewohnter Stunde aufzustehen oder zu essen. Nach einiger Zeit solcher Unregelmäßigkeiten sehnt man sich nach dem gewohnten Rhythmus zurück.
Als die menschliche Phantasie die höchste Qual ersann und die Hölle schuf, gab sie ihr als bezeichnendste Eigenschaft die Ewigkeit. Was das Fegefeuer von der Hölle unterscheidet, ist sein Rhythmus. Seine Strafen sind abgestuft, sie stehen in einem ganz bestimmten Verhältnis zu den begangenen Sünden. Im einzelnen mögen sie den Höllenstrafen gleichen, aber sie sind abwechslungsreicher, nicht »ewig«, und darum zu ertragen. Auch die Seligkeit ist freilich ewig gedacht, aber die Rhythmuslosigkeit ist es, die es den Menschen verbietet, sich eine Vorstellung von ihr zu machen. Oft genug ist scherzhaft gefragt worden, ob sich die Engel in ihrer dauernden Helle und Reinheit nicht tödlich langweilen?
Nur der Rhythmus belebt, und ein Erlebnis haben ist nichts andres, als den Rhythmus des Lebens spüren. Warum erlebt der eine, wo der andre stumpf bleibt? Warum können auf einmal viele da etwas erleben, wo einmal ein schöpferischer Geist etwas erlebt und der Mitwelt mitgeteilt hat? Erleben in der Natur, in der Kunst, im Verkehr mit Menschen heißt nichts andres, als einen Rhythmus in den Dingen spüren. Ohne Rhythmus empfindet freilich niemand. Schon daß unser Auge beständig Farbflecken zu Gegenständen zusammenordnet, heißt rhythmisch empfinden. Aber diese Rhythmen sind zu alltäglich, als daß sie noch besonders genußreich wären. Viel reizvoller ist es bereits, aus einzelnen Worten und Gebärden den Rhythmus eines ganz bestimmten Charakters zu erkennen. Die große Masse der Menschen ordnet Farben, Formen, Worte und so weiter nicht in dieser Weise zusammen, sondern sie empfindet sie einzeln, getrennt, das heißt sinnlos. Sie besitzen nur die Buchstaben, nicht die Sprache des Lebens. Obwohl es die Buchstaben sind, die den ganzen Geist eines Buches enthalten, ist es doch nicht die Summe der Buchstaben, die das Buch ausmacht. Die meisten Menschen buchstabieren nur in dem Buche des Lebens. Das einzelne, die einzelne Handlung ist gar nichts, erst die Zusammenhänge geben ihr Wert. Ja, das aus dem Zusammenhang gerissene einzelne, zum Beispiel ein Ausspruch oder eine Handlung eines Menschen, gibt nicht nur ein unvollkommenes, sondern oft genug sogar ein falsches Bild von ihm. Spricht man zum Beispiel von Cäsar als einem fetten Mann mit einer Glatze, von Goethe als einem sächsischen Geheimrat, und wiederholt vielleicht gar noch einen Ausspruch von ihnen, der gewissen Zeitströmungen zuwider ist, so verkehrt man die Bilder dieser Männer vollkommen, obgleich man nur richtige Einzelzüge von ihnen anführt. Die Unwahrheit beruht auf der falschen rhythmischen Einordnung dieser Züge. Daher kommt es auch, daß man niedrigem Klatsch häufig so schwer begegnen kann. Die behaupteten Tatsachen sind als einzelne richtig, aber, aus dem Zusammenhang gerissen, haben sie den Erfolg bösartiger Lügen.
Wer in dem Chaos der ihn umgebenden Welt kleine sinnvolle Zusammenhänge findet, wird entdecken, daß sie sich rhythmisch zu tieferen Zusammenhängen gliedern lassen. Dies gibt ihm bald die Fähigkeit, immer leichter alle seine Einzelbeobachtungen einzuordnen. Seine Gesichtspunkte befähigen ihn zu einer Weltanschauung, seine Einfälle verstärken seine Ideen. Sein Geist hat nicht etwa neue Kräfte gewonnen, nur der neue Rhythmus löst die alten in Bewegung auf. Der Rhythmus erst ist es, der den Dingen Wert verleiht. Kein Rhythmus ist in den Dingen selbst, der Mensch trägt ihn hinein und schafft damit erst die Welt. Das ist nicht zu verwechseln mit fanatischem Einzwängen der Tatsachen unter ein vorgefaßtes Schema moralischer oder politischer Art. Es muß immer scheinen, als käme der Rhythmus aus den Dingen, sonst ist es kein Rhythmus, sondern Zwang und Hemmung.
Eine Weltanschauung besitzt, wer eine Zauberformel hat, die das ungeordnete Chaos des Alltaglebens zum geordneten Kosmos bannt. Jede Formel, die dies vermag, ist gut für den, dem sie das Gewünschte leistet, und ist schlecht für den, der sie nicht begreift. Daher kommt es, daß dieselben Religionen und Philosophien, in denen das Lebensblut ganzer Zeitalter aufschäumte, die die Besten ihrer Zeit an sich fesselten und ruhig in den Tod gehen ließen, einige hundert Jahre später die schale, abgestandene Bettelsuppe der geistig Armen bilden. Daher kommt es ferner, daß Zeiten oder Persönlichkeiten von besonderem Glanze jedem späteren Geschlecht in neuem Zusammenhange erscheinen und immer wieder neu werden und immer wieder veralten. Welche stets lebensvollen Veränderungen hat zum Beispiel das Gefühl für die Antike im Laufe der Zeiten erfahren! Unter wie verschiedenen Formen ist das Christentum lebendig und tot gewesen! Der völlig vergessene Johann Sebastian Bach ist erst im neunzehnten Jahrhundert wieder lebendig geworden. Man kann sagen, daß das Deutschland der dreißiger bis achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts goethefremd gewesen ist, während augenblicklich wieder Schiller in der Schätzung sinkt. Modefragen, wird man erwidern. Nun, auch die Mode ist ein Rhythmus, dessen Lebenswert nur Pedanten unterschätzen können. Gewiß ist ihr Tempo im Augenblick viel zu rasend, aber wer will ermessen, wieviel Kraft wir eintauschen durch die Freude an dem wechselnden Formen- und Farbenspiel, mit dessen Reizen sie uns umgibt.
Alle Einzeltatsachen sind wie reizlose Riffe, die über die Flut ragen. In der Tiefe aber verbindet sie eine Korallenbank zur Einheit.