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Kultur ist ein Komplex von Werten, die nicht erworben, nicht erlernt, allenfalls entwickelt werden können. Sitte, Gebärden, Geschmack, Takt, Sensibilität, Welterfahrung usw. gehören dazu.
Zivilisation ist ein Komplex von Werten, die man sich aneignen, erlernen, kaufen, nachmachen kann; zu ihr gehören alle materiellen Vervollkommnungen des Lebens, – Hygiene, Wissen, Gesetze u. a.
Die Konventionen sind gleichzeitig Erzeugnisse der Kultur und der Zivilisation. Soweit sie ein äußeres Tun und Lassen regeln wie Grüßen, Besuche machen, Tageseinteilung, Kleidervorschriften, überhaupt soweit sie auf irgendwelchen Erwägungen und auf Ökonomie beruhen, gehören sie der Zivilisation an. In seinen Gruß Distanz oder Grazie legen, sich mit dem Modezwang anmutig auseinandersetzen, das erfordert Kultur.
Die Konventionen sind gewissermaßen die Spielregeln der Kultur. Wer bei ihrer Erfüllung dies nicht vergißt, wird niemals unter ihnen leiden. Nichts ist unkultivierter, als sie zu ernst zu nehmen, sei es als ihr gefügiger oder empörter Sklave, sei es als ihr feindseliger Freigelassener. Es gibt freilich Gesellschaftsklassen, für welche die Konvention ein Fetisch ist, dem alles geopfert wird, Geschmack, Behagen, Gefühle, ja das Glück. »Was werden die Leute zu meinem Leben sagen?« Die Leute! Ein Götze, ein Ungeheuer, das im Dunkeln wirkt, und sich höchstens von Zeit zu Zeit durch seinen unwillkommenen Geruch bemerkbar macht; will man es fassen, so entgleitet es, denn niemand will zu den »Leuten« gehören. Man selbst denkt ja ganz vernünftig, aber die Leute! Die jüngere Generation sucht sich nun diese Mittelstandsfurcht abzugewöhnen. Die moderne Literatur des gebildeten Bürgertums kämpft an gegen den Zwang solcher Konventionen, die sie als lügnerische Nachahmungen aristokratischer, in der Hoflust, meist in französischer gewachsener Formen empfindet.
Diese Formen werden von vielen nicht mehr als eine Erleichterung, sondern als eine Hemmung des auf Vernunft zu gründenden Lebens empfunden. Darin liegt ein zweifellos gesunder Kern. Was sollen die Urteile und Sitten einer »société polie« für den, der ihre Wohltat nicht genießt? Für ihn werden sie Vorurteile und Unsitten. Warum soll sich jemand einen ihm unbequemen Ehrenkodex aneignen, wenn er von den Vertretern dieses Kodex doch nicht für ganz voll genommen wird? Warum soll in engen Verhältnissen die strenge Bindung des Liebeslebens gelten, die nur vom Standpunkt starker Familieninteressen aus berechtigt ist? Warum muß ein besitzloses Mädchen verkümmern, um nicht gegen die Familienüberlieferungen zu verstoßen, von denen sie ganz und gar nichts hat, während das voraussetzungslose Geschöpf aus dem Volke wie ein Singvögelchen den Frühling seiner Jugend genießt? Warum soll man den Luxus eines Salons bezahlen, wenn man nicht empfängt, warum auf Reisen, Schauspiele und dergleichen verzichten, weil die allein standesgemäßen Gasthöfe, die höheren Klassen der Eisenbahnen, die vornehmen Theaterplätze teuer sind? Nichts ist echter und aufrichtiger als das Abschütteln solcher Konventionen durch einen Stand, für den sie nicht gemacht sind. Nur glaube man nicht, daß damit irgendein objektives Urteil über den Wert der Konventionen an sich gewonnen ist; denn alle diese abgeschüttelten Konventionen sind dadurch nicht als schlecht, sondern nur für bestimmte Menschen als unfruchtbar erkannt. Die, denen zur Erleichterung oder zur Stilisierung des Lebens Konventionen wertvoll sind, werden ganz von selbst jenes alte aristokratische Erbe antreten und es ihren heutigen Bedürfnissen entsprechend verwalten und wohl auch umformen. Nur der aber wird sich vernünftigerweise einem solchen Gruppenzwang unterwerfen, dem die Gruppe dafür alle Vorteile der Zugehörigkeit gewährt, denn für ihn ist dies kein Zwang, sondern ein natürlicher sozialer Trieb. Leider gehen die Bekämpfer der Konventionen so weit, das für sie nicht Passende als überhaupt schlecht abschaffen, entwurzeln zu wollen und begehen damit den Fehler, in den jeder geistige oder praktische Radikalismus verfällt. So recht sie für ihre kleinen Privatverhältnisse haben, so unrecht tun sie, wenn sie den einen Heuchler nennen, der sein Privatleben fremden Blicken nur in einer verallgemeinernden Stilisierung darbieten will, wie er es, ohne sich vor Hinz und Kunz rechtfertigen zu müssen, jeden Augenblick vertreten kann. Diesem Zweck dienen die Konventionen. Es gibt viele Handlungen, die man vor sich und dem, den sie wirklich angehen, zu verantworten vermag, die aber so persönlicher, zarter Natur sind, daß man sie dem Urteil der Leute nicht aussetzen darf. Es gibt Dinge, die, durch das vergröbernde Prisma der Öffentlichkeit gebrochen, ihren Charakter gänzlich verändern. Darum ist es eine große Erleichterung, daß die Konventionen davon entbinden, den Leuten unsere Liebe zu Fräulein X. oder den Grad dieser Liebe anzuzeigen, indem sie uns die Pflicht auferlegen, einfach die eindeutige Tatsache einer Verlobung oder Vermählung den Bekannten mitzuteilen. Dadurch wird der persönliche Charakter unseres Schrittes vor neugierigen Augen verhüllt. Wir und Fräulein X. werden schon Bescheid wissen, die Welt aber erfährt nur, was sie angeht, nämlich, daß wir von jetzt ab zu zweit erscheinen werden. Wer allzu harmlos seine Handlungen und die ihnen zugrunde liegenden Empfindungen der Kritik seiner Umgebung aussetzt, wird sich regelmäßig über die Gemeinheit und Dummheit der Welt zu beklagen haben. Die Schuld liegt aber allein an ihm; er kann nicht verlangen, daß jedes Wesen auf ihn eingeht und ihn versteht. Die Menschen, die durch Mißverständnis und Entstellung einen bösartigen Klatsch brauen, brauchen noch nicht sehr bösartig zu sein. Etwas Schwatzhaftigkeit, Freude am Flunkern, an witzigen Übertreibungen, ironischen Wortspielen genügen häufig, ohne die Beihilfe von Neid und Ränken, um einen guten Ruf langsam zu untergraben. Um sich gegen die Entstellungen zu schützen, die nach einem Naturgesetz die Tatsachen erleiden, wenn ihr Bericht durch den Mund mehrerer gegangen ist, hat man zum Schutz die Konventionen erfunden, welche die persönlichen Angelegenheiten für die Allgemeinheit so stilisieren, wie man sie aufgefaßt zu sehen wünscht. Dadurch werden die Konventionen gerade nicht zum Hemmnis, sondern zum Schutz des persönlichen Lebens. Wenn jemand erzählt: ich liebe Fräulein X., so gibt er jedem das Recht, über seine Liebe zu urteilen, zu lächeln, zu spotten usw. Wenn er dagegen sagt, ich heirate Fräulein X., so mag man über die Vernunft eines solchen Schrittes reden soviel man will, die Zartheit der Empfindungen kann in keiner Weise berührt werden. Wie aber, wenn man Fräulein X. liebt und sie nicht heiratet? Dann hat man erst recht die Verpflichtung, die Konventionen aufs Äußerste zu beachten, um Fräulein X. vor allen Unannehmlichkeiten zu schützen, die diese gewagte Situation für sie hat. Die Liebe ist bekanntlich der Punkt, wo die göttliche und die tierische Natur des Menschen am engsten zusammenstoßen. Nichts ist entsetzlicher, als wenn über die Art dieses Zusammenstoßes die Öffentlichkeit sich ein Urteil erlaubt. Es ist einfach nicht möglich, die zartesten Liebesbeziehungen in einer rohen Umgebung aufrecht zu erhalten, die davon nur oberflächlich weiß, sie als Schmutz betrachtet, dies Tag für Tag äußert und dadurch eine Luft der Unreinheit und des Hasses um diese Beziehungen schafft. Nicht als ob eine solche Liebe dadurch unrein würde, aber sie verliert ihre Unbefangenheit, ihre Blumenhaftigkeit, ihren Schmelz. Sie sucht sich vor sich selbst anzuerkennen, zu rechtfertigen, was sie vorher nicht nötig hatte, sie wird zum Grundsatz, womöglich zur kriegerischen Forderung; so wird sie häßlich oder sie erstickt in Dornen.
Warum sind aber die Menschen so schlecht? fragen harmlose Gemüter, daß sie in dieser Vereinigung des Göttlichen und Tierischen, genannt Liebe, immer mit Vorliebe das Tierische sehen? Ach, das ist eine sehr einfache Geschichte: Die Liebe zweier Menschen wirkt nun einmal auf Unbeteiligte immer mehr oder weniger humoristisch oder fordert zum mindesten zu Scherzen heraus, deren Grenze je nach Temperament und Bildung sehr weit gezogen ist. Darum haben auch die besten Witze meist eine erotische Beziehung. Gewöhnlich kann man sie gar nicht einmal in Damengesellschaft erzählen. Ernstgemeinte Theaterstücke stürzen am leichtesten über den häufig unfreiwilligen Humor einer Liebesszene. Der ungeheuere Gegensatz, in dem die Liebe häufig zu dem ganzen übrigen Ich eines Menschen steht, zu seiner Haltung, seiner Stellung, seinem Alter, seinem Äußeren, seinen Grundsätzen, seinem Beruf, alles das war, seit die Welt besteht, eine Fundgrube menschlichen Witzes und Humors. Die heitere Literatur aller Völker beruht darauf. Das Allerkomischste ist vielleicht, daß die beiden von der Liebe selbst betroffenen Wesen ihren für jeden andern auf den ersten Blick erkenntlichen Ausnahmezustand nicht sehen. Dazu kommt, daß die Liebe meist mit derjenigen Leidenschaft verknüpft ist, die in unserem zivilisierten Leben vielleicht noch als die derbste, ursprünglichste gelten kann, mit der Eifersucht. Kein Besitz wird rücksichtsloser gehütet, beneidet und geraubt, als der eines geliebten Wesens. Selbst wenn wir ganz absehen wollen von dem Schamgefühl, das heute manche nur für eine Konvention halten, schon die zweifellos unschönen körperlichen Dinge, die mit der Liebe häufig zusammenhängen und nur für die Liebenden selbst unsichtbar werden, werden jederzeit, wie auch Sitte und Recht sich immer gestalten mögen, die Geheimhaltung der Liebesbeziehungen verlangen. Der Schutz durch Konventionen ist jedenfalls bereits eine sehr gesittete Milderung gegenüber dem durch Haremsmauern. Die Konventionen sind oft Lügen, gewiß; aber diese Lügen beeinträchtigen den Charakter weniger als die Entstellungen, welche die Tatsachen durch das Geschwätz der Umgebung erfahren. Daß man andere über seine Privatangelegenheiten, sei es durch Worte, sei es durch Gebärden, belügt, muß erlaubt sein. Es gibt nur eine Lüge, die unbedingt unsittlich ist, weil sie den Charakter verdirbt: die Lüge gegen sich selbst. Sonst hat niemand uns gegenüber ein bedingungsloses Recht auf Wahrheit. Die Wahrheit ist meistens so verwickelt, daß man sie unmöglich jedem Außenstehenden klar machen kann. Um sich vor mißverstehenden Anmerkungen zu schützen, muß man die Wahrheit häufig verhüllen. »Wenn ich etwas, was ich tue, für gut halte, dann kann ich es auch in der Öffentlichkeit vertreten.« So sagen viele Schwärmer der Aufrichtigkeit und vergessen das eine: Wären die Dinge so einfach, daß man sie in ihrem Wesen jederzeit der Öffentlichkeit klar machen könnte, wie sie wirklich sind, dann sollte man allerdings, was man vor sich selbst verantworten kann, auch vor der Öffentlichkeit verantworten. Aber welches noch so anständige Privatleben ist nicht leicht zu beschmutzen, wenn z. B. im Falle eines Rechtsstreits ein gegnerischer Anwalt ohne Tatsachenentstellung nur das Was und nicht das Wie darlegt? Was aber nützt es, die Wahrheit zu sagen, wenn sie so verwickelt ist, daß sie notgedrungen eine falsche Auffassung hervorrufen muß? Wieso ist sie dann besser als eine Lüge? Gerade die psychologische Erkenntnis unserer Zeit sollte das anerkennen. Wäre mit dem öffentlichen Zugeständnis einer ungesetzlichen Liebe z. B. tatsächlich etwas Wesentliches zugestanden, so könnte man es vielleicht sittlich begründen, daß man sich ihrer nicht schämen und nicht heucheln soll. Weil aber damit gar nichts über das Wie gesagt ist, sondern nur dem Spottbedürfnis, der Eifersucht, dem Neid oder der Bosheit Nahrung gegeben wird, wollen wir uns der Konventionen freuen, die uns, besonders aber den Frauen, verbieten, andere als eheliche Beziehungen der Geschlechter zuzugeben. Da wir nun schon einmal von Sittlichkeit sprechen: es gehört häufig eine sehr viel stärkere sittliche Kraft dazu, ein nicht alltägliches Privatleben hinter den Konventionen von Besudelung und Hemmung unberührt zu halten, als zu jener Allerweltstreuherzigkeit und dem Bedürfnis nach Geständnissen und Aussprache, die gerade schwächliche und oft auch innerlich verlogene Menschen so häufig haben. Ein selbstbewußter Charakter, der die Konventionen beherrscht, ist eine höhere Blüte der Menschlichkeit, als der unzufriedene Intellekt, der sie mit billigen Einwänden bekrittelt. Man darf freilich kein pedantischer Sittenrichter sein, um in einer gewissen gesellschaftlichen Heuchelei, die manches verschweigt, eine tiefere Achtung vor eigener und fremder Menschlichkeit zu erkennen, als in haltloser Offenheit. Wer die Formen beherrscht, wird sie nicht mehr als Hemmnisse, sondern als Stützen erkennen. Er wird lernen, sich mit Hilfe der Konventionen, ohne anzustoßen, abzusondern, wenn es ihm paßt, und ohne ihr Sklave zu werden, sich der Geselligkeit zu erfreuen, wenn sein Herz danach begehrt. Nur die Unfähigkeit, die Konventionen zu meistern, läßt viele Leute sich in der Gesellschaft unbehaglich fühlen, sie als eine Last empfinden. Sie verfallen darum einer Einsamkeit, die sie auch eigentlich nicht wollen und die sie deshalb verbittert. Würden sie sich zu kleinen befreienden Unwahrheiten verstehen, so könnten sie leicht den Strom freundlicher und feindlicher Besuche, die an ihre Tür klopfen, regeln. Jene anspruchsvolle Weltfernheit findet sich in zahllosen neuen Romanen verherrlicht.
In Deutschland findet man noch zu viele kleinliche Sklaven der Übereinkömmlichkeiten, und darum als notgedrungenes Gegengewicht wildgewordene Sanskulotten. Ganz anders als ihre grobe Beweisführung muten die Scharmützel an, welche die skeptischen französischen Moralisten des achtzehnten Jahrhunderts, z. B. Chamfort, den Vorurteilen des »monde« lieferten. Jedes Wort dieses die Gesellschaft höhnenden Schriftstellers setzt feinste gesellschaftliche Kultur als selbstverständlich voraus und wird seines ganzen Wertes beraubt, wenn es ein Barbar für seine Zwecke anführt. Dasselbe Urteil ist ein anderes im Mund eines Zugehörigen und eines Draußenstehenden. Diejenigen aber, welche die Konventionen angreifen, sind meistens solche, die ihren Wert zu erproben zu wenig Gelegenheit hatten.
Der Haupteinwand gegen die Konventionen wird im Namen der Überzeugung gemacht, die man angeblich immer auszusprechen habe. Dieser Irrtum ist der Grund, warum deutsche Geselligkeit so leicht in Zank ausartet. Aber ist es denn wirklich sittlich wertvoll, wenn jemand auf die Frage, ob er Geschwister habe, antwortet, in Preußen müsse das allgemeine Wahlrecht eingeführt werden, oder auf die Frage nach dem Wetter sich für einen Republikaner erklärt? Daraus ließen sich übrigens Beispiele für eine neue Ollendorfgrammatik zusammenstellen. »Gehen Sie diesen Sommer aufs Land?« »Nein, aber meine Großmutter lebt in wilder Ehe mit einem Tenor.«