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Dann ist es Mai, Ende Mai, in dem wir unser südliches Haus bestellt haben. Wir verbringen Übergangswochen in Torbole, wo die Ora in den schäumenden Wogen wühlt.
Es soll nach der südlichen Schweiz gehen, ins Berner Oberland, zuerst nach Interlaken, und ein wohl empfohlenes Institut, in dessen Nähe wir bleiben, soll die Kleine aufnehmen. Ich aber hoffte fest, wenn die wieder sehr schwankende Gesundheit meines Mannes sich da gestärkt hat, Valentine in eine richtige gut deutsche Schule im Reich zu bringen zu einer Erziehung und Ausbildung, wie sie mir vorschwebt. Die Schweizer Erziehung internationaler Institute sagt mir nichts.
Torbole: Silbern rauschen die tausendjährigen Oliven mit den gespaltenen Stämmen über dem Sand des Strandes. In der Villa Giulia blühen Oleander und Rosen, die Sterne der Passionsblumen, in denen die Nachtigallen singen, flimmern bräutlich an der Stirne der Jungsommernacht am See. Das ganze lange Ufer bis Riva ist ein Garten, wild, süßduftend, überschwänglich, mit einem leisen Hauch von Sumpf und Verwesung unter den Düften. Die finstere Note darin bleibt nur die Festung San Nicolo, zu Füßen des Monte Brione, in dem die unsichtbaren Befestigungen lauern. Zwischen den beiden Bundesgenossen sind überall Festungen. Da liegen welche am felsigen Rand der Ponalestraße, verbissen lauernd, zugeknöpft, Scheinwerfer bestreichen abends spukhaft die ganze Gegend. Von bleichem Felsen schimmert Arco herüber, das Castell; hingeweht an den Olivenbreiten, den Schieferhängen liegen die Ortschaften im Sommerdunste wie erloschen. Gräber- und Ruinenstimmung ist die ihre. Österreichische Soldaten, weißbestaubt, ziehen müde singend, nur auf Befehl singend, die Uferstraße der Kaserne zu; schwarzgebrannte Gesichter. Ich lausche ihren Volksliedern:
»Wann i geh auf die Pirsch,
Zittern d' Reh, zittern d'Hirsch!
»Hoch vom Dachstein an, wo der Aar noch haust.
Bis zum Kärntnerland am Bett der Aar,
Dieses schöne Land ist mein Steirerland
Ist mein liebes, teures Heimatland!«
Ein irrsinniges Heimweh zittert in den jungen Stimmen dieser Kaiserjäger und Landesschützen. Auch sie sind hier im Lande nicht daheim!
Ich sehe ihnen nach, wie sie dahinwandern im hohen Kalkstaub, im heißen, hauchenden Wind, der so müde macht. Welke Glycinien entblättern an ihren Kappen. Eichenlaub hält länger. Der Offizier zu Pferd sieht sich oft um nach ihnen, auch er ist todmüde. Der Dienst hier wird hart und härter. Warum? Darüber schweigen sie alle wie Tote. Es geht in neuester Zeit ein besonders tiefes Schweigen durchs Land auf österreichischer Seite. Zu meinem Balkon weht es flüchtig herüber, was wieder die Glieder strafft, den Takt verschärft im Schritt:
»Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land!
Laß uns seiner Väter Krone schirmen wider jeden Feind
Ewig bleibt mit Habsburgs Sohne Österreichs Geschick vereint!«
Auf dem See aber unter mir im großen Kahne klimpern grell die Mandolinen auf. Von schrillen Stimmen weit getragen klingt es herausfordernd:
O Italia! La regina, la regina sei del Mar!
Noch einmal flutendes glänzendes Leben im großen Kreise, wechselnde Menschentypen, Freunde, ein sorgloses Singen und Klingen. Die lachende Grenze! Ach was! Es geht alles so gut.
Es gibt Freischießen der Österreicher in Torbole, man erwartet einen Erzherzog. Dampfer voll junger Gestalten, in den blitzenden Uniformen, Offizierstafeln, Reden! Österreichischer Glanz und österreichisch warme Fröhlichkeit! Wie lacht sie aus Augen, die bald, so bald, für immer ...
O mein Gott! Rosenfarbene Akazienblüten wehen überall von den schlanken Bäumen; das Tal nach Arco zu ist ein Bacchanal von Blüten. Anders wie sonst, glaub ich hier zu empfinden. Anders wie sonst! Fieberig! Wie im Rausch! Ich weiß nicht, was es ist.
Ich stehe an dem Gitter der kleinen Kapelle auf dem Wiesenweg von Torbole nach Arco. Sie ist uralt, diese Kapelle, moosüberwachsen, durch ihre Fenster faucht gleich Seufzern der Wind. Um sie blühen Muskatellertrauben, hinter ihr steigen olivenbedeckt die Höhen des Brione mit ihren Geheimnissen empor. Ich habe mir so oft gedacht, wenn ich hier träumte: Es müßte schön sein, hier getraut zu werden aus Liebe. Und muß dann über mich selber lächeln. Getraut werden aus Liebe! Es ist ja viel Liebe auf Erden, obdachlose, die nicht unterkommt. Denn es ist noch mehr Haß da.
Die letzten Tage unseres Aufenthaltes vergehen, zerbröckeln in Stunden. Eine seltsame Leere ist in mir. Warum? Wir fahren nach der Schweiz, das ist nichts Besonderes. Über den See werden wir fahren, wir fuhren da schon oft. Kamen wieder; fanden, was wir verlassen. Das südliche Haus ist in den Händen von Leuten, die uns treu sein müßten, alles ist wohl bestellt, viel gab es da zu schaffen.
Es ist doch Alles wie es immer gewesen. Nicht? Was liegt mir so bleischwer in der Brust? Warum will ich immer Abschied nehmen? Anders als früher. Von Winkeln, Pflanzen, Stimmungen, nicht von Menschen. Die scheinen mir plötzlich so weit, ganz fremd. Ich gehe umher, zerschlagen und aufgeregt. Es ist nicht die immer wache Sorge um eine geliebte Gesundheit, um eines jungen Wesens Werden; was ist es? Eine Qual in mir, ich kann sie nicht nennen.
Der letzte Maitag! Kirschen überall. Und Rosen, verblühend fast im Erblühen, duftendes, südliches Heu. Morgen reisen wir! Ich bin allein noch einmal im kleinen Wagen nach Arco hinübergefahren, mit dem elenden Roß, das der Hypolitto so entsetzlich herumriß. Dieser Hypolitto, den ich dann wiedersah, in eine österreichische Uniform gesteckt, bei der Feldmesse in Brixen vor einem Truppenabmarsch an die Drina, betrunken, brüllend, sich wehrend. Man hat ihn gewaltsam in den Zug getragen, der ihn in den Kampf führte. Bei dem Eidschwur der Treue für den Kaiser und Österreich, zu Wasser, zu Land, in der Luft, hat er mit vielen anderen solchen Welschtirolern schauerliche Schimpfwörter gestammelt. Jetzt fuhr er mich vergnügt durch Sommerland.
Ich schließe unser Gartentor auf und betrete das dichtumwachsene, rote im Märchen daliegende Haus, meines Mannes Liebesgeschenk, mein Heim. Erfüllt von Erinnerungen, Erleben, Kämpfen und Wandlungen, ganz erfüllt von unserer eigensten Wesenheit. Der große Garten blüht bacchantisch. Um den Tennisplatz, auf dem so viel helle Stimmen erklungen, wuchern die Rosen, schwirren leise die Palmenblätter im Wind. Unter ihnen ungezählte, einzelne Pflanzen, aus Töpfen ausgesetzt, mit Tafeln, die Namen tragen, Abschiedsgrüße von Freunden, die ich ihrem Andenken pflegte, Jahrgänge von Freunden.
Leise rieselt die kühlende Wasserkunst zwischen den gelben Rosen neben dem Sonnenbad, an das sich fruchtbeladene Kirschbäume drängen. Erdbeeren sind reif, große, schwere, die ersten Feigen, rot glüht der wilde Feldmohn. Auch unser Wein blüht. Kein Mensch ist weit und breit, außer mir; der Gärtner ist heimgegangen. Ich bin ganz allein. Vierzehn Jahre südliches Leben stehn vor mir auf, sehen mich an. In ihnen meine heißen jungen Wünsche, das Zwingen-Wollen allen Lebens, des sieg-erhoffenden. Meine Verfehlungen und Irrwege, meine Versplitterungen, Glück und Leid im immer fremd gebliebenen Land. Ich denke an viele Nächte oben auf diesem Balkone, den Blick in Fernen gerichtet; an viel Sehnsucht. An Menschen, die ich fand, wieder verlor. Unheimlich glaube ich mich selbst zu sehen, kritisch und kalt. Versöhnend leuchtet unentwegt ein Stern über mir, eine unwandelbare Liebe. Das war hier allen Wesens Sinn und Kern.
Ich gehe noch einmal durch alle Räume, wie durch eine Gruft, mich faßt eine grenzenlose Traurigkeit; ein Abschiednehmen, wie ich es noch nie empfunden, rätselhaft und schrecklich ist es in mir. Eisig weht es mich an.
Dann wieder hinaus in die flammende Sonne! Die Tauben schwirren wild um mich her. Wie getragen von einem Zwang gehe ich langsam, langsam, ohne rückwärts zu blicken, dem Tore zu. Hinaus. Was aber ist es, das da hinter mir zurückbleibt?
Eine ganze Welt, die versinkt. Und ich weiß es nicht.
Ende des zweiten Bandes.
Dritter (Schluß-)Band: Vom Wohlstands- zum Arbeitsmenschen. (Die Zeit nach 1914.)