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Letzte Weihnacht im Süden.

Nach diesem Erlebnis sah ich hier im Lande Alles anders, eine tiefe Abneigung ergriff mich gegen die Außenwelt. Ich beschränkte mich mehr und mehr auf mein Heim, auf meine Arbeit. Zur letzten Weihnacht im Süden setzte ich es durch, daß wir allein, einmal auch ohne Verwandtenbesuch blieben. In dem großen Bildersaal leuchtete deckenhoch die Tanne. Einst in Kindertagen hatten wir solch einen Baum daheim im Schloßpark in stiller Sommernacht geschmückt, reich behangen und angezündet, er schimmerte weit hinaus ins Land. Wir aber, damals halb erwachsen, voll von Träumereien und Einfällen, versteckten uns, und warteten, was nun geschehen würde. Es mußte doch etwas geschehen, wenn hier eine Weihnachtstanne lockte, silbern angetan, brennende Kerzen tragend. Erst kamen Tiere des Waldes, verwegen werdende Hasen, die Männchen machten, die Ohren spitzten. Dann raschelte ein Maulwurf heran. Nachtvögel schrien hoch oben in dunklen Lüften, unter dem Sternengeglitzer, kamen tiefer und tiefer. Eines Uhus, eines Käuzchens Stimme wurde laut. Erwachende Vögelchen huschten im Laube, saßen plötzlich flatternd zwischen den Kerzen, wagten es, an dem Kuchen zu knabbern. Allerlei weiteres Getier erschien, bestaunte das Wunder. Königlich frei und flammend stand der Baum, um ihn her, zu ihm emporstarrend, hockten auf dem Boden die Tiere, wie Menschen vor den Ewigkeitsrätseln, ratlos. – In den feuchten, schweren Geruch des nächtlichen Parkwebens mischte sich dieses Seligsüße der weihnachtlich glimmenden Tannenzweige, an denen das Harz blutete; der Wachskerzen, dieses Geruches, der vor jedem Menschen ein Buch Kindheit aufschlägt, Glauben, Erwartung. Selbst die tauschweren Blumen im Grase, die Sommerblumen dieses heißen Augustes schienen aufzuwachen, sich zu strecken; es war, als blinzelten verschlafene Äuglein aus ihren Kelchen, an denen eine Träne hing. Das warnende Krächzen eines bösen Raben, der alle verscheuchen wollte, um selber auf dem Baume zu rauben, war in der Nähe, und einiger Krähen Stimmen gaben Antwort. Fern schlug die alte Kirchenuhr des Dorfes. Entschleiert lag am geduldigen Himmelsantlitz, das so still herab sieht auf das irre Flackern einer Welt, des Mondes weißes Gesicht; es schien kindlich zu werden, auch erwartungsvoll, auch fragend. Plötzlich gewahrten wir draußen auf der Straße hinter dem Zaune zwei Kinder, die standen da wie verzückt; barfüßig, schmalwangig standen sie. Hielten sich fest bei der Hand, Holz- und Futterlasten auf dem Rücken, ganz arme Kinder; solche, die Christus besonders geliebt hat.

»Lasset die Kleinen zu mir kommen und wehret ihnen nicht.«

Der Ausdruck ihrer mageren Gesichter ist nicht zu schildern. So schaut ein Kinderblick ins Paradies. Da raunte ich, die wohl verborgen im dichtesten Haselbusch hockte:

»Kommt nur, kommt herein!« Ich tat es geisterhaft. Die anderen Versteckten fielen gleich mit ein. »Ja kommt! kommt!« Wohl erschraken sie entsetzlich. Aber gleich darauf waren sie schon über die Hecke, standen unter der Tanne, schweratmend, zitternd. Das eine fing laut zu beten an. Das andere, fürwitzig, biß in eine Kittenwurst und sah sich dann entsetzt um. Aber da ihm nichts geschah, fraß es weiter.

Nun aßen sie, bis sie zuckersüß und klebrig waren. Wieder raunte eine Stimme: Nehmt euch nur, ihr dürft! Da begannen sie von dem Wunderbaum zu pflücken, der gewiß der Erste in ihrem Dasein war. Die Tiere waren entrüstet fortgestrichen, nur die Augen einer Katze glommen grün und bös im Gestrüpp. In bunte Tüchlein, die nicht sauber waren, sammelten die Notstands-Kinder die Sommerweihnachtspracht, den Julklapp, der sich ihnen hier geboten. Dann knieten sie nieder, beteten laut ein Dankwort und bekreuzten sich. Scheu sahen sie sich nochmals um. Sacht verhallte das Aufschlagen der staubigen Füßchen, die, wund von weiten Wegen, neuen Schwung erhalten. Hupp! über den Zaun und hinaus in die Nacht wie mit Beute. In der Ferne noch ein Jauchzen. Da jauchzten wir zurück.

Langsam erlosch sie dann, die Wundertanne. Sie stand noch lang im Park, steht vielleicht noch. –

In Arco gab es keine grünen Tannen; die wurden von weit hergeholt, aus Judikarien. Schneerosen in Fülle säumten alle Tische, Orangenbäumchen mit goldenen Bällen, Mimosen, Veilchen, römische Narzissen; schon blühte der erste Calikanthus. Man stand in Blumen vor dem Christnachttisch. Die deutsche Weihnachtsfeier ward zum Volksfest; von überall kamen sie, hingen an den großen Glasfenstern des Saales, traten ein, standen andächtig mit ihren Kindern und Greisen: Il Natale tedesco!

Schon aufgeschossen, schlank und rank, sehe ich meine Tochter im Kreis der welschen Kinder. Mit ihnen singt sie ein altes welsches, dann ein deutsches Weihnachtslied, und auch in dieses fallen sie ein, die kleinen Stimmen. Keine Fremde ist da – mit einem Male! Das heilige Kind für Alle! Ein Glauben, eine Liebe.

Wir bescheren, empfangen die kleinen, anmutig gebrachten Gaben der südlichen Gärten, der Campagnen und Vignen. Grazie ist im Wesen dieses Volkes. Die Weihnachtssänger kommen mit den Mandolinen. Der zwanglose Chor fällt ein im Ritornell. Ein großer Menschenfriede rauscht um uns alle, mit versöhnenden Schwingen. Es ist zum letzten Male hier, wir ahnens nicht. Wir wissen nicht, was schon herandämmert. Meines Mannes stille Augen wie die meinen haften auf dem sonnigen Köpfchen, das unser Lebensglück bedeutet. Da kommt uns Beiden mit einem Male der Gedanke: Das Heranwachsende, sehend werdende, deutsche Kind muß fort von hier. Hier kann die Heimat einer ersten Kindheit sein, nicht eines jungen Werdens. Stille, gleichgestimmte Jugend, deutsche Weltanschauung braucht das knospende Geschöpf. Die ihm zu geben ist unsere Pflicht. Es muß geschehen. Und bald! Wir dürfen ihr kein Stück des Weges schuldig bleiben, keins soll sie überspringen. Das Leben geht so rasch!

Über eine Nacht erblüht ein junges Mädchen. Nie soll eine fremde, eine welsche Hand sich ausstrecken dürfen nach diesem deutschen Kinde. Nie das Land nach ihr greifen, vor dem ich zu schaudern lernte. Sie soll fort! Sie muß fort! Wir sehen uns an, mein Mann und ich, wir haben uns verstanden. Das war die letzte Weihnacht vor dem Kriege.

Wir haben hier keine bleibende Statt; unser Schicksal ist Wandern.



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