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Der Ahnl ihr Merkbuch.

Ein Stück Oberösterreich.

Sie ist siebenundachtzig. Hockt nur mehr in der Stuben. Alleweil liegt das Buch vor ihr, a dicks, zerlesens, schmierigs, in Leder 'bundenes Buch, in altem Druck aus dem Jahre 1621. Es steht drin: Das war die Lutherzeit, auch in Oberösterreich. Damals ging es um, auch unter den Bauern. Trotz Hörigkeit und Knechtung regte sich der Freiheitsdrang dunkler schwerer Menschenseelen.

Der Ahnl ihr Merkbuch stammt von einer Frau, die damals in peinliche Untersuchung nach Linz kam. Ein Hexenverdacht umschwebt sie düster. Ihr Bild liegt in dem Buch, ein großes, hartes, tiefes Weibergesicht, im Albrecht Dürerstil. Eine schwere Gestalt, geprüft in den vielen Mutterschaften und Lebenslasten, jener mitleidlos die Menschen verbrauchenden Methoden. Scheinbar ist dieses Bäuerinnenantlitz auf dem gelb gewordenen Blatte ganz alltäglich und ist es doch nicht, es liegt über ihm wie ein großer Schatten, ein schwerer Zweifel, eine unendliche Seelenangst. Eine Kerze brennt neben ihr in einem Leuchter, der ist noch im Hause, der Barbaraleuchter. An hohen Tagen der Kirche wird er angezündet, und es wird für die arme Seele dieser Ahnin leise gebetet, die aus Linz vom Gerichte nicht wiederkam. Über ihr hängt ein Marienbild, das auch noch im Haus ist. Aber sie steht schroff von ihm abgewendet; seltsam, sie blickt starr auf ein hartes, nüchternes Kruzifix.

Es liegt in diesem verblassenden Bild eine ganze Geschichte, die nie jemand erzählt. Wer weiß sie noch? Wer will sie wissen?

Mitleidlos ist Bauernart für Irregegangene, ganz mitleidlos. Diese Barbara Schöffin ist die Ur-Urgroßmutter der Ahnl gewesen, wohl niedergestreckt von der Geschichte der Zeit, in der sie gelebt, der Zeit der Reformation, die in Österreich und Tirol schwere Schicksale auslöste. Davon erzählt manche stille Hauschronik noch heute.

Auf den Blättern, die die Namen der Familienmitglieder von da ab tragen, steht es; sie hat sechzehn Kinder gehabt. Die kamen in die Zeit der vielen Kriege und litten auch sehr. Wenn der Fürst den Krieg bestimmt, zerbricht Volksleben in der Stille. Ein frühes junges Sterben steht im Merkbuch verzeichnet, Kreuz an Kreuz, Seuchen, Soldatentod, Unglück, Hunger, das schleppt sich tief hinein ins achtzehnte Jahrhundert. Auch Karl des Sechsten, des letzten Habsburgers, auch Maria Theresiens Tage lächelten nicht. Da kamen aus Wien die Kontrollen, da mißbrauchten die Pächter, Verwalter, Beamte das arbeitende Landvolk. Da wuchteten die großen Missionen fanatisch und unheimlich heran. Bei einer solchen ist mit den Sündern ein mitleidloses Gericht gehalten worden, wurde einer irrsinnig aus dem Schöffenhof. Sie aber glaubten ihn vom Satan besessen; man wollte ihn rein waschen im reißenden Fluß, ersäufte ihn. Er hatte begehrt ans Kreuz geschlagen zu werden für seine große Schuld. Seine arme Mutter schrieb in das Buch: War wie die Sonn' so warm und gut, mein liebster Sohn.

Dann kamen die zehn Jahre Kaiser Josefs des Zweiten, des ungestümen Reformators, des Bestgehaßten, der schließlich Überstürztes gebrochenen Herzens widerrufen mußte. Das Volk hatte nicht mit ihm gefühlt. Hier vom Hofe war einer von den vielen Kindern Mönch, eine Clarissin im Nonnenkloster gewesen. Sie kamen Beide eines Tages wie Bettler an. Beschimpft, verhöhnt, hinausgestoßen, des Klostergewandes entkleidet, Müßiggänger genannt, die ihr Brot suchen sollten. Aber für die Welt sind sie nicht mehr zu brauchen gewesen, der Hof konnte sie nicht mit ernähren. Sie starben beide in krasser Not, nachdem der Mann ein Revolutionär in Frankreich geworden, der Göttin Vernunft gehuldigt, ein Wegverlorner. Diese Geschichte erzählt in den tiefsten Klagetönen hilflosen Volkstums das Merkbuch und schreit auf: Betet, o betet, für sie. Sie dürfen nicht verdammt sein.

Dann huscht Napoleons Gestalt durch diese Blätter, taucht zwischen Bibelsprüchen, Psalmen auf, grotesk; steht am Horizont des Volkslebens wie ein Weltgewitter. Und einmal klingt liebkosend ein Fürstenname auf, Erzherzog Karl-Aspern.

Da ist ein Schöff sehr schwer verwundet worden, zum Krüppel geschossen. Aber es hat sich gelohnt. Das begriff dieses Volk und Haus.

Das Jahr 48 grollt herüber, zweischneidig ist's, bäuerliche Freiheit bringt es. Der Gutsherr darf nicht mehr prügeln, schinden. Aber er sorgt auch nicht mehr, er haftet nicht mehr. Es ist eine Losreißung wie von einem Elternhaus, das, hart und grausam, doch Elternhaus war. Ein Schüttern geht durch das uralte Bauerntum, ein Bangen; Kinder, im Dunkeln allein, finden die Wege nicht. Was für eine Hand wird nun nach ihnen greifen? Es ist eine große Wende.

Der sechsundsechziger Krieg; Blut und Tränen, zwei gefallene Söhne, Verzweiflung. Des Wohlstands Niedergang seit diesem Krieg. Und nun, auf der letzten beschriebenen Seite des Merkbuchs, steht verzeichnet von zitternder uralter Hand, was der Weltkrieg diesem Hofe in den Bergen genommen hat: Alles! Großvater, Vater, Sohn, sie alle blieben. Weiber herrschen im verkommenden Hausstand, werden fremde Männer hereinbringen. Die Armut kommt unerbittlich. Vielleicht kommt bald der Jude, um billig zu kaufen. Dann wird irgendein Massenunternehmen hier eine Ablagerstätte, eine Filiale, gründen, auf der Leute aus dem Osten sitzen.

Die Ahnl horcht ins Leben hinaus mit einer Furcht, die ist in Worte nicht zu fassen. Die Menschen, die Sachen, alles ist hin!

Bald wird sie draußen sein, wo die vielen Gräber ihren Namm tragen.

Es war ein Geschlecht. Das Schlechteste nicht.



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