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Ist es schon Mai? In Arco zu heiß, wenn man auch den Tag zur Nacht, die Nacht zum Tag macht? Schon brennen die Luccioli wieder über den berauscht-blühenden Campagnen. Zentimeterhoch liegt der weiße Kalkstaub, die Sonne siedet. Es blüht der Wein und duftet – duftet. Mit ihm natürlich kommen in Scharen die Fremden, die Touristen; es sind fast ausschließlich Deutsche, die Italien unentwegt vergöttern. –
In allen Typen, aus allen Orten kommen sie; hervorstechend ist die Spießbürgernote und dann das frisch getraute junge Pärchen, hellblond – glücklich, ganz neu eingekleidet. Der übellaunige und gründliche Mensch im Jägerhemd, der Renommist mit den zwei Dutzend falsch ausgesprochenen italienischen Floskeln, der versunkene Professor, der Reiseprotz, ohne Sinn für irgend etwas, und so fort.
Der Einheimische liebt es, die Zollstation in Riva zu beleben, da sieht er schadenfroh zu, wie die schönen Köfferchen mit der neuen Wäsche und so weiter durchwühlt werden. Dann begleitet er die Pärchen auf einem Vergnügungsspritzer nach Gardone, Malcesine, Salo, San Vigilio. Sitzt auf dem Vaporetto; studiert, wer in dieser Ehe die Oberhand haben wird. Lieschen oder Hansemann? Meistens ist es Lieschen, die sich bereits den größten Teil des warmen Plaids sichert.
Die Pärchen, die abends die herrlichen Gärten der Seehotels bevölkern und da mit den Nachtigallen um die Wette liebesjodeln und schluchzen, sind die reine Freude dieser Küstenbewohner. Ihre Nuancen waren zahlreich, und ich amüsierte mich gern, sie zu studieren. Ihr Italienisch war das Neueste, das ich je vernommen. In Italien sogar noch nicht eingeführt, aber prachtvoll tönend. Ich klettere den schmalen Weg zum Castell Arco wieder einmal empor; vor mir tänzelt ein Hochzeitspaar. Ein Lottchen und ein Willibäldchen, zu dem man später einmal »mein guter Dicker« oder »Dickerchen« sagen wird. Sie sind feldmäßig ausgerüstet, mit Reisekomfort, sehr gediegen beisammen; wie sie, untergehakt, sich auf diesem schmalsten aller Pfade dahinaufbewegen können, bleibt mir achtenswert und schleierhaft; sie lassen nicht von einander. Über uns grünen Oliven mit knorrigen edlen Stämmen; große Schafheerden wandern, langsam weidend, über südduftenden, aber knappen Rasen an den Felsen hin. Hoch ragen die schwarzen schlanken Zypressen, wie hingeweht an den Schieferplatten. Oben winkt das Castell, von dem man weit das Trentinische Land, den Gardasee, das ferne Italien überschaut, das Sarchatal, durch das sich das Flüßlein silbern schlängelt, zwischen Weincampagnen hin, dem Gardasee zu. Rosenrote Obstbäume blühen, weiße und blaßlila Veilchen ohne Duft stehen im kurzen Grase.
Die junge Frau vor mir bückt sich, sie hebt etwas auf, sie hält es ihrem Willibäldchen, der mehr in den Baedeker als in die Natur blickt, hin. Sie unterbricht seine Belehrungen: »Ach sieh mal; nu hör mal; laß Dir erklären. Ach, geh Willimännchen,« schäkert sie, »nu laß das mal, sei nicht gar so doll wissenschaftlich. Koste lieber. So jrade vom klassischen Baum herab hast Du die Oliven noch nie verspeist. Nu sag? Wenn wir das daheim bei Dünkelmanns erzählen, die sie doch blos allemal einjemacht im Glase haben zur Tunke«. Ihr rosiges Patschchen mit dem neuen Ringe schiebt geschäftig dem jungen Gatten ein Häufchen Irgendwas in den Mund. Dann kostet sie selbst, sie bleiben genießend stehen. Ich auch. Ich starre sie an, meine Augen weiten sich. Winzige harte, braune Knöllchen sind es, die die Guten aus Kötchenwaida in sich aufnehmen, mit Genuß! Nur gut beißen, sie sind hart, diese »Oliven«. Schon etwas trocken, von der letzten Ernte eben.
Sie schlucken und kauen – o Gott!
Diese Kügelchen haben mit Oliven nichts zu tun, aber wohl mit Schafen. Ja. Aber ich breche hier nicht in Aufklärungen aus, o nein! Die junge Frau könnte einen Nervenchok bekommen und er vom Süden einen falschen Begriff. Ich lasse sie weiter schwelgen. War das gemein von mir? Man soll Illusionen niemals stören, meine ich.
Das rückständige Hotel Du Lac auf der Straße zwischen Riva und Torbole war jedes Jahr unser Übergangsaufenthalt vor der Reise nach dem Norden. Es war ein altes Herrschaftshaus, das der Mutter des Schriftstellers Freiherrn von Torresani gehört hatte und im Jahre 1866 von dieser jungen Witwe aus Angst vor dem Krieg verschleudert, dann in ein Hotel verwandelt wurde. Der begabte Schilderer österreichischer Militärverhältnisse selbst liegt nach seinem Wunsch auf dem träumerischen Friedhof von Torbole begraben, diesem wundervollen Fischernest, in dem Goethe an der Iphigenie schrieb. Der Garten am See, in dem es märchenhaft blühte, war ein Paradies. Hier verlebte mein Mann Tage mit der Kleinen auf dem Wasser, ich saß unter der rosenüberdeckten Pergola oder am Strand und schrieb. So nah waren die Schlachtfelder.
So habe ich an jenen Küsten in Riva, Torbole, im sonnenüberstrahlten Malcesine und in Gardone nach langen Wanderungen durch die Stätten geschichtlicher Erinnerung den ersten Teil von »Königsglaube« geschaffen. Die Krone der Arbeit und ihr tiefstes Erleben aber mußte der zweite Band werden.
Ich stehe an einem zweiten Juli auf dem Schlachtfelde von Königgrätz; unweit von mir beugt sich mein Mann über eine Karte. Nebel streichen, wie damals an jenem Schreckenstage der österreichischen Geschichte. Es ist noch sehr früh und trotz des Hochsommers kalt. Ich wenigstens fühle ein Frösteln in tiefster Wesenheit, ein eisiges Schauern der aufgepeitschten Nerven. Die ganze Nacht im Gasthaus habe ich gearbeitet. Wir kamen von Chlum, wo eigentlich im Jahre 1866 das Schicksalswort der Armee bereits gesprochen war, schon vor dem Entscheidungstage. Von der Grenze an haben wir den ganzen Aufmarsch des deutschen Heeres verfolgt, aufs Genaueste den ganzen Feldzugsplan an uns vorüber passieren lassen. Überall finden wir befreundete Offiziere, die schon auf uns warten, uns alle Wege ebnen. Es ist, als seien bald fünfzig Jahre wie weggewischt. Mir geht hier der Begriff von Raum und Zeit verloren.
Stundenlang kauere ich auf meinem Feldsessel, starre hin über diese Weiten, knapp schlägt die Rede der Männer an mein Ohr. Dann wieder wandern wir weiter von Stelle zu Stelle, suchen – nach Gräbern nicht mehr, nein, nur nach den Erinnerungen, die als Merksteine in uns lebend sind. Ich sehe um mich diese furchtbare, diese unmögliche Schlacht lebendig werden, die verloren war, ehe sie begann. Die Ungleichheit der Waffen, das Hinschlachten der Österreicher auf Befehl der Krone! Damit dem Stolz des Erzhauses Genüge werde, sterben Hunderttausende.
Daß es so kommen müsse, wußte der verantwortliche Feldherr, dessen Befehle seine Generalstabschefs und Führer nicht ausführten – hinter seinem Rücken in gefährlichster Stunde mit Wien packtierend. Am Vortage kam nach Wien sein Telegramm: Friedensschluß unbedingt notwendig. Schlacht zu schlagen unmöglich. Darauf die ausschlaggebende Antwort von höchster Stelle. Und ihre Folge die Hinopferung des kaiserlichen Heeres in unmöglichen Verhältnissen. Die Tragödie der Waffen: Vorderlader, Hinterlader. Erzherzog Albrecht selbst war es, der sich gegen eine zeitgemäße Neubewaffnung gestemmt, er machte die österreichischen Soldaten zu Krüppeln, ehe sie geladen hatten und schießen konnten. Die dadurch erzeugte Stimmung mußte beispiellos sein. Dennoch gelang es Benedek in der entsetzlichen Auflösung, den Rest der Armee zu retten vor einer Katastrophe, die ihres Gleichen nicht gehabt hätte. Man muß das einfache Volk jener Kriegsschauplätze in Böhmen reden hören. Fast kein Haus, in dem nicht noch ein Stück schreckliche Erinnerung wäre, Geschichte mit Geißel und Blut geschrieben. Ein Feldherr, der sich gegen seine Überzeugung hingegeben, schuldig werdend am Vaterland, durch diese blinde Soldatenanbetung für die Dynastie, wird verraten von seinen eigenen Leuten. Der Hochadel wünschte dem Bürgerlichen, dem Protestanten, der so hoch gestiegen, so unbestechlich geblieben, der den Volkston, das Bürgertum mit seiner besseren Disziplin in das Heer gebracht, die vollkommene Vernichtung, eine persönliche Katastrophe. Die Vernichtung des Vaterlandes ging so nebenbei mit. Vom Jahre 1866 ab ist die österreich-ungarische Monarchie stetig abwärts gegangen; sie war erschüttert bis ins Mark, innerlich zerrissen. Der Kaiser verlor den Glauben an sein Kriegsglück, den hohen Offensivgeist, der Radetzky und Benedek getragen, wenn es galt, Würde und Ehre des Reiches zu schützen. Auch der Feldherr Conrad von Hötzendorf hat weder die Kriegsmittel, die er forderte, noch die streitbare Armee zu rechter Zeit erhalten können. In seinem Schicksal wirkte das der vorhergegangenen Führer fort: »Österreich kriegt ja doch immer Schläg, und dann schmeißt's den Leuten gleich alles hin!« hieß es. Nach dem Siege von Custozza mit Benedeks geschultem Heer wurde Italien Venedig, die Lombardei, wurden Landstrecken hingeworfen, auf denen österreichisches Blut in Strömen geflossen war. Es ist mir unmöglich, irgend einen Aufblick zu haben an solche Regierungspraktiken, wie sie geübt wurden seit Franz des Gütigen gewissenloser Epoche der Finsterlinge.
Im Swipwald, wo das schrecklichste Morden gewesen, lehnte ich an einem Baum, ich sehe das alles vor mir. Die Österreicher wie in eigener Schlinge gefangen: ein Würgen, ein Ringen, ein Sterben! Noch zittert es wie Seufzer in der Luft. Eine sonderbare Schwere ist in diesem Walde. Stimmen packen mich an. Sie rufen: »Bete Du! Bete!«
Nie mehr wird er lächeln, dieser Wald.
Ich starre auf den Übergang, durch den die Preußen kamen; er war so schmal, daß sie Mann für Mann gingen, grenzenlos verwundert über die Preisgegebenheit dieser Stätte. Ein adeliger Fant ließ hier seine Pflicht im Stich, ließ den Feind herein. Niemand von diesen Leuten ist später gestraft worden. Nicht gerne maßregelte die Krone ihren Adel. Niemand, keiner der hoch- und hohlklingenden Namen ist gebrandmarkt in der Geschichte. Nur Ludwig Benedeks Feldherrnname, der wurde vernichtet.
So sieht österreichisches Erleben aus, das Schicksal der Besten des Landes. Schiller hat es im Wallenstein ausgesprochen: Dank von Haus Österreich!