Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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98.
Auftritte, die ans Herz gehen sollen.

Der Pfarrer, die Frauen und die Töchter, gerührt von diesem Auftritte, hatten Tränen in den Augen, und alles schwieg eine Weile still, da der Mann fort war.

Therese. Was das für ein Abend war, Junker! Gottes Erdboden ist schön, und die ganze Natur bietet uns allenthalben Wonne und Lust an; aber das Entzücken der Menschlichkeit ist größer als alle Schönheit der Erde.

Junker. Ja wahrlich, Geliebte, sie ist größer als alle Schönheit der Erde.

Pfarrer. Meine Tränen danken Ihnen, Junker, für alle herrlichen Auftritte, die Sie uns vor Augen gebracht haben. In meinem Leben empfand ich die innere Größe des menschlichen Herzens nie reiner und edler, als bei dem Tun dieses Mannes. Aber, Junker, man muß, man muß in Gottes Namen die reine Höhe des menschlichen Herzens beim armen Verlassenen und Elenden suchen.

Die Frau Pfarrerin aber drückte die Kinder, die alle weinten, an ihre Brust, redete nichts, lehnte ihr Angesicht hinab auf die Kinder, und weinte wie sie. Nach einer Weile sagten die Kinder zu ihr: Wir wollen doch heute noch zu seinen armen Kindern gehen. Schicket doch unser Abendessen dahin!

Die Frau Pfarrerin sagte dann zu Arners Gemahlin: Gefällt es Ihnen, so gehen wir mit unsern Kindern.

Sehr gerne, antwortete Therese, und auch der Junker und der Pfarrer sagten, sie wollten mitgehen.

Arner hatte ein gebratenes Kalbsviertel in seinem Wagen mitgebracht für die arme Haushaltung, und die Frau Pfarrerin hatte eine gute, dicke, fette Suppe dazu kochen lassen. Sie hatte eben alles abschicken wollen; jetzt aber stellte sie noch das Abendessen für sie und die Kinder dazu, und Klaus trug alles in die Hütte des armen Mannes. Alles Volk aus dem Dorfe, jung und alt, Weib und Mann, und alle Kinder aus der Schule standen bei des Rudis Hütte und bei dem Heuwagen und bei der schönen Kuh. Ein paar Schritte nur hinter dem Klaus kamen der Junker und seine Gemahlin und die Frau Pfarrerin und alle Kinder auch in die Stube, und fanden – und fanden – und sahen im ganzen Hause nichts als halbnackende Kinder, serbende, Hunger und Mangel atmende Geschöpfe.

Dieser Anblick erfüllte Arners Herz mit neuer Wehmut, und er fühlte nun doppelt tief, was die Unvorsichtigkeit und die Schwäche eines Richters für Elend erzeugen können. Alles, alles war vom Elende des Hauses bewegt. Da sagte Arner zu den Frauen: Dieser Rudi will jetzt dem Vogt, der ihn in dieses zehnjährige Elend, das ihr da sehet, gestürzt hat, lebenslänglich noch den dritten Teil Heu ab seiner Matte versichern.

Therese (schnell und im Eifer über dieses tiefe Elend). Nein, das ist nicht auszustehen, daß der Mann bei seinen vielen Kindern einen Heller des Seinigen dem gottlosen Buben verschenke!

Arner. Aber wolltest du, Geliebte, wolltest du dem Laufe der Tugend und der Großmut Schranken setzen, die Gott durch Leiden und Elend auf diese reine Höhe gebracht hat, auf eine Höhe, die soeben dein Herz so sehr bewegte, und dich zu Tränen rührte?

Therese. Nein, nein, das will ich nicht! das will ich nicht! Verschenke er alle seine Habe, wenn er es kann. Einen solchen Menschen verläßt Gott nicht.

Arner sagte jetzt zu dem Rudi: Gib doch deinen Kindern zu essen. Der Rudeli aber nahm seinen Vater beim Arme und sagte ihm ins Ohr: Vater, ich bringe doch der Gertrud auch etwas. Ja, sagte der Rudi, aber warte nur!

Arner hatte das Wort Gertrud gehört, und fragte den Rudi: Was sagt der Kleine von Gertrud? Da erzählte der Rudi dem Arner von den gestohlenen Erdäpfeln, von dem Todbette seiner Mutter, von der Güte des Lienhard und der Gertrud, und wie selbst die Schuhe und Strümpfe, die er trage, von ihnen seien. Dann setzte er hinzu: Gnädiger Herr! der Tag ist mir so gesegnet; aber ich könnte mit Freuden keinen Mundvoll essen, wenn ich diese Leute nicht einladen dürfte.

Wie das Arner lobte; wie dann die Frauen die stillen Taten einer armen Mäurerin und das erhabene Todbett der Kathrine mit Tränen bewunderten; wie dann der Rudeli mit klopfendem Herzen zu Lienhard und Gertrud lief, sie einzuladen, und wie diese mit ihren Kindern, beschämt und mit niedergeschlagenen Augen nicht auf des Rudelis Bericht, sondern auf Arners Befehl, der seinen Klaus nachgeschickt hatte, endlich kamen; auch wie Karl für den Rudeli vom Papa und Emilie für Gritte und Lise von ihrer Mama Schuhe und Strümpfe und abgelegte Kleider erbaten; auch wie sie den armen Kindern von ihrem bessern Essen immer zulegten; auch wie Therese und die Frau Pfarrerin mit ihnen so liebreich waren; wie aber diese erst, da Gertrud kam, recht freudig wurden, alle ihr zuliefen, ihre Hände suchten, ihr zulächelten und sich an ihren Schoß drängten: Alles das will ich mich hüten, mit vielen Worten zu erzählen.

Arner und Therese standen, so lange sie konnten, bei diesem Schauspiele der innigsten Rührung, bei dem Anblicke des erquickten und ganz geretteten Elendes. Endlich nahmen sie mit Tränen in den Augen stillen Abschied.

Der Junker sagte zum Kutscher: Fahre eine Weile langsam. Die Frau Pfarrerin aber suchte noch alles übriggebliebene Essen zusammen, und gab es den Kindern. Lienhard und Gertrud blieben noch beim Rudi, bis um acht Uhr, und waren von Herzen fröhlich.


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