Heinrich Pestalozzi
Lienhard und Gertrud
Heinrich Pestalozzi

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27.
Fleiß und Arbeitsamkeit ohne ein dankbares und mitleidiges Herz.

Vom Marx weg ging der Vogt nun endlich zum letzten. Dieses war der Kienast, ein kränklicher Mann. Er ging zwar erst gegen die fünfzig, aber Armut und Sorgen hatten ihn gar abgeschwächt, und heute war er besonders in einem erschrecklichen Kummer. Seine älteste Tochter hatte gestern in der Stadt Dienste genommen, und zeigte dann heute dem Vater den Dingpfennig, worüber der arme Mann gewaltig erschrocken war. Seine Frau, die noch kindete, war eben jetzt nähig (der Entbindung nahe), und das Susanneli war unter den Kindern das einzige, das der Haushaltung Hilfe leisten konnte; jetzt aber sollte es in vierzehn Tagen den Dienst antreten. Der Vater bat es mit weinenden Augen und um Gottes willen, es solle das Haftgeld wieder zurückgeben, und bei ihm bleiben bis nach der Mutter Kindbett. Ich will nicht, antwortete die Tochter. Wo find' ich denn gleich wieder einen andern Dienst, wenn ich diesen aufgebe?

Der Vater. Ich will nach der Kindbett selbst mit dir nach der Stadt gehen, und dir helfen, einen andern suchen. Bleib' doch nur so lange!

Die Tochter. Es geht ein halbes Jahr, Vater, bis zum andern Ziel, und der Dienst, den ich jetzt habe, ist gut. Wer kann wissen, wie dann der sein werde, den du mir willst suchen helfen? Und kurzum, ich warte nicht bis auf das andere Ziel.

Der Vater. Du weißt doch, Susanneli, daß ich auch alles an dir getan habe, was ich immer konnte. Denke doch auch an deine jüngern Jahre, und verlasse mich jetzt nicht in meiner Not!

Die Tochter. Willst du mir denn vor meinem Glücke sein, Vater?

Der Vater. Ach, es ist nicht dein Glück, daß du deine armen Eltern in diesen Umständen verlässest. Tue es doch nicht, Susanneli! Meine Frau hat noch ein schönes Fürtuch; es ist das letzte, und es ist ihr lieb; sie hat es von ihrer sel. Gotten (Pate) zum Seelgerät (Todesandenken); aber sie muß es dir nach der Kindbett geben, wenn du nur bleibst.

Die Tochter. Ich mag nichts, weder von euern Lumpen noch von eurer Hoffart; ich kann das und Besseres selber verdienen. Es ist einmal Zeit, daß ich für mich selber sorge. Wenn ich noch zehn Jahre bei euch bliebe, ich würde nicht zu Bett und Kasten kommen.

Der Vater. Es wird doch auch nicht alles auf dieses halbe Jahr ankommen; ich will dich nach der Kindbett gewiß nicht mehr versäumen, bleib' doch nur noch diese wenigen Wochen.

Nein, ich tue es nicht, Vater, antwortete die Tochter, kehrt sich um und läuft fort zu einer Nachbarin.

Der Vater steht jetzt da, niedergeschlagen von seinen Sorgen und von seinem Kummer, und sagt zu sich selber: Wie will ich mir in diesem Unglück helfen? wie will ich sie nun meiner armen Frau anbringen, die Hiobsbotschaft? Ich bin doch ein elender Tropf, daß ich mit diesem Kinde so gefehlt habe. Es arbeitet so brav, dacht' ich immer, und verzieh ihm dann alles. Meine Frau sagte mir hundertmal: Es ist so grob und so frech gegen seine Eltern, und was es seinen Geschwistern tun und zeigen muß, das tut und zeigt es ihnen alles so hässig, so unartig und so ganz ohne Anmut und Liebe, daß keines etwas von ihm lernt – Es arbeitet doch brav; vielleicht sind die andern auch schuld; man muß ihm verzeihen, war immer meine Antwort. – Jetzt habe ich dieses Arbeiten! Ich hätte es doch denken sollen: wenn bei einem Menschen das Herz einmal hart ist, so ist es aus; was er auch sonst Gutes hat, man kann nicht mehr auf ihn zählen. Aber wenn ich es nur auch meiner Frau schon gesagt hätte; wie wird sie doch tun!

Da der Mann so mit sich selber redete, stand der Vogt neben ihm, und er sah ihn nicht einmal.

Was darfst du denn deiner Frau nicht sagen, Kienast! fragte ihn jetzt dieser.

Der Kienast sieht auf, erblickt den Vogt, und sagt: Bist du da, Vogt? ich sah dich nicht. Ha, was darf ich meiner Frau nicht sagen? Das Susanneli hat in der Stadt Dienste genommen, und wir hätten es jetzt auch so nötig. Aber ich hätte fast vergessen zu fragen: was willst du bei mir?

Vogt. Es kann dir vielleicht ein Trost sein, was ich bringe, weil es mit dem Susanneli so ist.

Kienast. Das wäre wohl ein Glück in meiner Not.

Vogt. Du hast Arbeit an dem Kirchbau und alle Tage 25 Kreuzer Taglohn; damit kannst du dir in allweg helfen.

Kienast. Herr Gott im Himmel! darf ich diese Hilfe hoffen?

Vogt. Ja ja, Kienast, es ist gewiß, wie ich sage.

Kienast. Nun so sei Gott gelobt und ihm gedankt! (Es wird ihm blöd, seine Glieder zittern.) Ich muß niedersitzen, diese Freude hat mich so übernommen auf meinen Schrecken. (Er setzt sich auf einen nahen Holzstock, und lehnet sich an die Wand des Hauses, daß er nicht sinke.)

Der Vogt sagte: Du magst wenig erleiden. Und der Kienast: Ich bin noch nüchtern.

So spät? erwiderte der Vogt, und ging seines Weges fort.

Die arme Frau in der Stube sah, daß der Vogt bei ihrem Manne war, und jammerte entsetzlich: Das ist ein Unglück! Mein Mann ist heute den ganzen Tag wie verwirrt, und weiß nicht, was er tut; und eben jetzt sah ich das Susanneli bei der Nachbarin beide Hände zerwerfen, als wenn es vor Verdruß außer sich wäre; und jetzt noch der Vogt! Was ist doch für ein Unglück vorhanden? Es ist keine geplagtere Frau unter der Sonne . . . schon so weit in Vierzig und noch alle Jahre ein Kind, und Sorgen und Mangel und Angst um mich her. – So grämte sich die arme Frau in der Stube; der Mann aber hatte sich indessen wieder erholt, und kam mit einem so heitern und freudigen Gesicht zu seiner Lieben, als er seit Jahren nicht hatte.

Du tust fröhlich. Meinst du, ich wisse nicht, daß der Vogt da war? sagte die Frau.

Und er antwortete: Wie vom Himmel herab ist er gekommen zu unserm Trost.

Ist das möglich? antwortete die Frau.

Kienast. Setze dich nieder, Frau; ich muß dir Gutes erzählen. – Da sagte er ihr, was eben mit dem Susanneli begegnet, und wie er in einer großen Herzensangst gewesen, und wie ihm, gottlob, jetzt gänzlich aus der Not geholfen sei.

Da aß er die Suppe, die er in der Angst zu Mittag hatte stehen lassen, und er und die Frau weinten heiße Tränen des Danks und der Freude gegen Gott, der ihnen also geholfen in der Not, und sie ließen das Susanneli noch desselbigen Tages gehen in seinen Stadtdienst, wie es wollte.


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