Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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9.

Am 1. Januar pflegen alle Theater, Konzerthallen, Restaurants in New York überfüllt zu sein.

Dieser 1. Januar aber war tot. Nur in einigen großen Hotels herrschte Leben wie gewöhnlich. Die Trambahnen verkehrten nicht. Die Hochbahnen und die Subway ließen nur vereinzelte Züge laufen, die von Ingenieuren geführt wurden. Im Hafen lagen die verödeten Ozeanriesen mit gelöschten Feuern in den Docken, eingepackt in Nebel und Eis. Die Straßen waren am Abend dunkel, nur jede dritte Lampe brannte, und die Reklametableaus, die sonst mit der Regelmäßigkeit von Leuchtfeuern aufblitzten, waren erloschen.

Schon um Mitternacht stand eine dichtgedrängte Menschenkette vor dem Syndikatgebäude, bereit die Nacht zu durchwachen. Sie alle wollten ihre fünf, zehn, zwanzig, hundert Dollar an Zinsen retten. Es ging das Gerücht, daß das Syndikat am 3. Januar die Pforten schließen werde, und niemand war geneigt, sein Geld zu riskieren. Immer mehr kamen.

Die Nacht war sehr kalt, zwölf Grad Celsius unter Null.

Ein feiner Schnee siebte wie weißer Sand aus dem tiefschwarzen Himmel herab, der die oberen Stockwerke der schweigenden Turmhäuser verschlang. Frierend und zähneklappernd schoben sich die Wartenden zusammen, um sich zu wärmen, und erregten einander durch Befürchtungen, Vermutungen und Gespräche über das Syndikat, Aktien und Shares. Sie standen so eng, daß sie recht gut im Stehen schlafen hätten können, aber niemand machte ein Auge zu. Die Angst hielt sie wach. Die Türen des Syndikats könnten am Ende doch geschlossen bleiben! Dann waren ihre Shares plötzlich vollkommen wertlos! Mit blaugefrorenen fahlen 320 Gesichtern, die Augen voll von Angst und Besorgnis, harrten sie auf ihr Schicksal.

Das Geld! Das Geld! Das Geld!

Die Arbeit ihres Lebens, Schweiß, Mühe, Demütigungen, schlaflose Nächte, graue Haare, eine vernichtete Seele! Noch mehr: ihr Alter, ein paar Jahre Ruhe bis zum Tod! Wenn sie verloren, so war alles vorbei, zwanzig Jahre ihres Lebens fortgeworfen, Nacht, Elend, Schmutz und Armut . . .

Die Angst und Erregung wuchs von Minute zu Minute. Wenn sie ihre Ersparnisse einbüßten, so wollten sie Mac Allan, diesen Champion aller Schwindler, lynchen.

Gegen den Morgen kamen immer größere Scharen. Die Kette stand bis hinauf zur Warrenstreet. So kam der graue Tag heran.

Um acht Uhr ging eine plötzliche Bewegung durch die Menge: im schweigenden, von rauchender Kälte umhüllten Syndikat-Building leuchteten die ersten Lampen auf!

Um neun Uhr – mit dem Glockenschlage! – öffneten sich die schweren Kirchentüren des Gebäudes. Die Menge wälzte sich hinein in das prunkvolle Vestibül und von da aus in die gleißend hellen Kassenräume. Ein Heer von frischgewaschenen, ausgeschlafenen Beamten wimmelte hinter den kleinen Schalterfenstern. Die Einlösung der Kupons ging blitzschnell vonstatten. An allen Schaltern wurden von fliegenden Händen die Dollarnoten auf die Marmorplatte geblättert, das Kleingeld klirrte. Alles wickelte sich ruhig ab. Wer bedient war, wurde von selbst durch die nachschiebende Menge zum Ausgang hinausgepreßt.

Etwas nach zehn Uhr aber gab es eine Stockung. Drei Schalter schlossen gleichzeitig, da ihnen das Wechselgeld ausgegangen war. Das Publikum wurde unruhig und die Beamten der übrigen Schalter wurden von zehn und 321 zwanzig Ungeduldigen gleichzeitig bestürmt. Da ließ der Kassenvorstand verkünden, daß die Schalter auf fünf Minuten geschlossen würden. Die Herrschaften möchten Kleingeld bereithalten, da sich die Auszahlung sonst zu sehr verzögere. Die Schalter schlossen.

Die Situation der Wartenden im Schalterraum war keineswegs angenehm. Denn die Menge, von den Zeitungen auf 30 000 geschätzt, drängte von draußen gleichmäßig nach. Wie ein Baumstamm vom Mechanismus eines Sägewerks in die Säge geschoben wird, so gleichmäßig wurde die Menschenkette in das Syndikat-Building hineingepreßt und – in Teile aufgelöst – durch den Ausgang nach Wallstreet gedrückt. Ein Mann setzt den Fuß auf die erste Granitstufe. Nach einer Minute hebt ihn die nachdrängende Menge in die Höhe, er steht mit beiden Füßen auf der ersten Granitstufe. Nach zehn Minuten ist er oben und wird langsam durchs Vestibül gemahlen. Nach weiteren zehn Minuten wird er in den Schalterraum gedrückt. Er ist eine mechanische Figur ohne Eigenbewegung geworden, und Tausende vor ihm und hinter ihm absolvieren genau die gleichen Bewegungen in genau der gleichen Zeit.

Infolge der Stockung aber war der riesige Schaltersaal in wenigen Minuten gedrückt voll. Die Leute im Vestibül wurden zum Teil die Treppe zu den oberen Stockwerken hinaufgeschoben.

Die Wartenden an den Schaltern aber konnten die Position nicht länger halten und hatten die hübsche Aussicht, nach zehnstündigem Warten an den Schaltern vorbeigepreßt und gegen den Ausgang gedrückt zu werden. Dann konnten sie sich wieder hinten anreihen.

Sie alle hatten die Nacht schlaflos verbracht, gefroren wie Hunde, nicht gefrühstückt, sie versäumten Zeit, hatten Unannehmlichkeiten in ihren Büros und Geschäften zu 322 erwarten – ihre Laune war die denkbar schlechteste. Sie schrien und pfiffen, und der Lärm setzte sich durchs Vestibül auf die Straße hinaus fort.

Eine ungeheure Erregung ging durch die Menge.

»Die Schalter werden geschlossen!«

»Das Geld ist ihnen ausgegangen.«

Und das Drängen wurde ungeduldiger und gewaltsamer. Kleider wurden abgerissen, und Menschen, die keine Luft bekamen, schrien und fluchten. Manche aber, die getragen wurden und bis zur Brust über die Köpfe hinausragten, heulten laute Verwünschungen.

An den Schaltern stauten sich die Massen zum Ersticken. Schreie, Flüche wurden laut. Ein Chauffeur schlug mit der Faust die Scheibe des Schalters ein und schrie, dunkelrot vor Atemnot im Gesicht: »Mein Geld, ihr Schwindler. Ich habe hier dreihundert Dollar! Gebt mir meine dreihundert Dollar, ihr hundsgemeinen Diebe und Halsabschneider!«

Der Beamte drinnen sah den Schreihals bleich und abweisend an: »Sie wissen genau, daß die Shares unkündbar sind. Sie haben Ihre Zinsen zu fordern, das ist alles!«

Die Scheiben klirrten plötzlich an allen Ecken und Enden und die Clerks begannen nunmehr wieder fieberhaft rasch Geld auszuzahlen. Allein es war zu spät. Das Geschrei, das sich erhob, als die Auszahlung wieder begann, wurde von dem zusammengepreßten Menschenhaufen im Saal und Vestibül mißdeutet, und das Gedränge wurde noch schrecklicher.

Wer den Ausgang erreichen konnte, machte sich so rasch wie möglich davon. Aber auch das gelang nur einzelnen. Plötzlich krachten die Schaltertüren und die Menge wurde in den Kassenraum gepreßt. Die Clerks und Beamten flüchteten, Bücher und Kassetten und Geld 323 zusammenraffend, so gut es ging. Die Menge brandete hinein und im Nu waren die eichenen Schalterwände eingedrückt. Auf diese Weise war Luft entstanden. Die Menge rannte durch alle denkbaren Türen hinaus. Aber nun wirkte der Druck von hinten um so stärker, die Menschenhaufen wurden hineingeschossen. Hier aber fanden sie zu ihrer größten Verblüffung eine zerstörte und geplünderte Bank vor. Umgeworfene Pulte, verstreute Papiere, ausgeschüttete Tinte und Haufen von Kleingeld und zertretenen Dollarscheinen.

Eines aber war klar für sie: ihr Geld war verloren! Hin! Kaputt! Ihr Geld, ihre Hoffnungen, alles!

Das ganze Gebäude heulte vor Wut und Empörung. Man begann zu demolieren, was zu demolieren war. Fenster klirrten, Tische, Stühle zerkrachten und ein fanatischer Jubel brauste auf, so oft es Trümmer gab.

Das Syndikat-Building wurde gestürmt!

Dreißigtausend Menschen – und nach manchen mehr – drängten hinein und wurden die Treppen empor in die oberen Stockwerke geworfen. Die wenigen Schutzleute, die zur Ordnung da waren, waren vollkommen machtlos. Die friedlich Gesinnten suchten irgendwo einen Ausweg, die Wütenden aber suchten sich festzukeilen, wo immer es ging, und ihren Zorn zu befriedigen.

Das Gebäude war an diesem zweiten Januar fast vollkommen verlassen und die meisten Stockwerke gänzlich leer. Um Geld zu sparen hatte man beschlossen, nur die notwendigsten Räume beizubehalten und die frei werdenden Etagen zu vermieten. Die meisten Ressorts waren schon nach Mac City übergesiedelt, andere im Umzug begriffen, die an Anwälte und Firmen vermieteten Etagen aber heute noch nicht im vollen Betrieb.

Das zweite und dritte Stockwerk war angefüllt mit Ballen von Briefschaften, Rechnungen, Quittungen, Plänen, die 324 in den ersten Tagen des Jahres nach den neuen Büros transportiert werden sollten.

Sinnlos in seiner Wut begann der Pöbel diese Ballen durch die Fenster auf die Straße zu werfen und das Treppenhaus damit anzufüllen.

Bis hinauf zum siebenten Stockwerk sah man plötzlich Gesichter an allen Fenstern.

Drei junge, freche Burschen, Mechaniker, kamen sogar bis zu Allan im 32. Stockwerk hinauf!

»Mac muß uns unser Geld geben! Hallo!« Das war eine bestrickende Idee!

»Go on, boy – wir wollen zu Mac!«

Der Liftboy weigerte sich, die lauten Frechdachse zu fahren. Da warfen sie ihn zum Lift hinaus und fuhren ab. Sie lachten und schnitten dem Liftboy, der vor Wut heulte, Grimassen. Der Lift stieg und stieg – und plötzlich wurde es ganz ruhig! Vom zwanzigsten Stock an hörte man das Getöse nur noch wie fernen Straßenlärm.

Der Lift flog an verödeten Korridoren vorbei. Sie sahen nur wenig Menschen, aber die wenigen, die sie sahen, schienen nicht zu ahnen, was da drunten, zwanzig und fünfundzwanzig Stockwerke tiefer vor sich ging. Ein Beamter schloß gleichmütig die Tür seines Büros auf, im 30. Stockwerk saßen zwei Herren mit der Zigarre im Mund auf einem Fenstersims und unterhielten sich lachend.

Der Lift hielt, und die drei Mechaniker stiegen aus und brüllten: »Mac! Mac! Mac, wo bist du! Heraus mit Mac!«

Sie gingen an alle Türen und pochten dagegen.

Plötzlich aber erschien Allan in einer Tür und sie starrten ihn, den sie im Bild so oft gesehen hatten, eingeschüchtert an und konnten kein Wort herausbringen.

»Was wollen Sie?« fragte Allan ungehalten. 325

»Unser Geld wollen wir!«

Allan hielt sie für betrunken.

»Geht in die Hölle!« sagte er und warf die Tür ins Schloß.

Da standen sie und starrten die Tür an. Sie waren gekommen, um aus Mac unter allen Umständen ihr Geld herauszuschlagen, und nun hatten sie keinen Cent erhalten und wurden noch dazu in die Hölle geschickt.

Sie berieten und entschlossen sich abzufahren.

In die Hölle gingen sie nicht, nein, aber durchs Fegfeuer mußten sie doch! Im zwölften Stockwerk stürzten sie durch Rauch und im achten sauste ein brennender Lift voller Feuer und Flammen an ihnen vorbei.

Verstört und halb wahnsinnig vor Schrecken erreichten sie das Vestibül, wo die Woge der nach außen fliehenden Menschen sie mit auf die Straße riß.

 


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