Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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4.

Maud hatte soviel Macht als möglich in ihren kleinen Händen zusammengerafft.

Sie war Vorsteherin des Rekonvaleszentenheims für Frauen und Kinder von Mac City geworden. Ferner gehörte sie einem aus Ärzten und Ärztinnen gebildeten Komitee an, dem die Hygiene der Arbeiterwohnungen, die Pflege von Wöchnerinnen und Säuglingen oblag. Aus eigener Initiative hatte sie eine Handarbeits- und Haushaltungsschule für junge Mädchen gegründet, einen Kindergarten und einen Klub für Frauen und junge Mädchen, in dem an jedem Freitag kleine Vorlesungen und musikalische Vorträge stattfanden. Sie hatte reichlich zu tun. Sie hatte ihre »Office«, genau wie Mac, und beschäftigte eine Privatsekretärin und eine Stenotypistin. Eine Schar von Pflegerinnen und Lehrerinnen – übrigens Töchter der ersten Familien New Yorks – stand ihr zur Seite.

Maud tat niemand etwas zuleide, sie war rücksichtsvoll, freundlich, sonnig, ihr Anteil an fremden Schicksalen war aufrichtig, und so kam es, daß alle Welt sie liebte und viele sie verehrten.

Sie hatte in ihrer Eigenschaft als Mitglied des Hygienekomitees fast alle Arbeiterhäuser betreten. Im italienischen, polnischen und russischen Viertel hatte sie eine energische und siegreiche Kampagne gegen den Schmutz und das Ungeziefer ausgefochten. Sie hatte es durchgesetzt, daß alle Häuser von Zeit zu Zeit desinfiziert und von oben bis unten ausgefegt wurden. Die Häuser waren fast ganz aus Zement und ließen sich auswaschen wie eine Waschküche. Ihre Besuche hatten sie den Leuten nahe gebracht und sie stand ihnen mit Rat und Tat zur Seite, wo immer sie konnte. Ihre Wirtschaftsschule war bis auf den letzten Platz besetzt. 151 Sie hatte ausgezeichnete Lehrerinnen engagiert, für die Küche sowohl als die Schneiderwerkstätte. Maud versäumte es nicht, zu kontrollieren und zu inspizieren, um ihre Institute fortwährend im Auge zu behalten. Eine ganze Bibliothek der einschlägigen Literatur hatte sie durchstudiert, um sich die nötigen theoretischen Kenntnisse anzueignen. Und es war ihr, bei Gott, nicht leicht geworden, alles so vortrefflich und gut zu schaffen, zumal sie von Natur aus keine besonderen organisatorischen Talente besaß. Aber es ging. Und Maud war stolz auf das Lob, das die Zeitungen ihren Einrichtungen spendeten.

Das Feld ihrer hauptsächlichen Tätigkeit aber war das Rekonvaleszentenheim für Frauen und Kinder.

Das Heim lag dicht neben ihrer Villa, sie brauchte nur zwei Gärten zu durchqueren. Sie erschien täglich Punkt neun Uhr morgens, um ihren Rundgang zu machen, interessierte sich für jeden einzelnen ihrer Schützlinge und half häufig aus eigener Kasse, wenn das Budget des Hospitals erschöpft war. Mit ganz besonderer Sorgfalt umgab sie die ihr anvertrauten Kinder.

Sie hatte Arbeit, Freude, Erfolge, ihre Beziehungen zu den Menschen und zum Leben waren fruchtbarer und reicher geworden, aber Maud war ehrlich genug sich einzugestehen, daß all das zusammen nicht imstande war, ihr das eheliche Glück zu ersetzen.

Zwei, drei Jahre lang hatte sie im reinsten Glück mit Mac gelebt – bis der Tunnel kam und ihn ihr entriß. Mac liebte sie ja noch, ja! Er war aufmerksam, liebenswürdig, gewiß, aber es war nicht mehr wie früher – keine Lüge!

Sie sah ihn jetzt häufiger als in den ersten Jahren des Baus. Er hatte wohl seine Bureaus in New York beibehalten, sich aber Arbeitsräume in der Tunnelstadt eingerichtet, wo er oft wochenlang mit kurzen Unterbrechungen blieb. 152 Darüber hätte sie nicht klagen können. Aber Mac selbst hatte sich verändert. Seine Harmlosigkeit, sein naiver Frohsinn, die sie im Anfang ihrer Ehe so überrascht und entzückt hatten, verschwanden mehr und mehr. Ernst wie in der Arbeit und in der Öffentlichkeit war er auch zu Hause. Er gab sich Mühe, so heiter und gutgelaunt wie früher zu erscheinen, aber es gelang ihm nicht immer. Er war zerstreut, absorbiert von der Arbeit, und aus seinen Augen wich nicht jener scheinbar geistesabwesende Ausdruck, den die Konzentration auf ein und dieselbe Idee erzeugt. Seine Züge waren auch magerer und härter geworden.

Die Zeiten waren vorüber, da er sie auf den Schoß nahm und liebkoste, er küßte sie, so oft er kam und ging, sah ihr in die Augen, lächelte – aber ihr weiblicher Instinkt ließ sich nicht täuschen. Merkwürdigerweise hatte er, gehetzt von der Arbeit, all die Jahre hindurch nie mehr einen der »wichtigen Tage« vergessen, wie Ediths oder ihren Geburtstag, ihren Hochzeitstag, Weihnachten. Aber Maud sah einmal zufällig, daß in seinem Taschenbuche diese Tage rot angestrichen waren – sie lächelte resigniert: er merkte sie sich mechanisch, nicht mehr mit dem Herzen, das ihn täglich daran erinnerte.

Es ging ihr nicht anders wie den meisten ihrer Freundinnen, deren Männer den Tag über in Fabriken, Banken und Laboratorien schufteten, sie anbeteten, mit Spitzen, Perlen und Pelzen behingen, sie zuvorkommend ins Theater führten, aber mit den Gedanken doch bei der Arbeit waren. Das Leben war nicht anders, aber sie, Maud, fand es entsetzlich, wenn es nicht anders war. Lieber wollte sie arm sein, unbekannt, fern von der Welt – dafür aber forderte sie ewige Liebe, ewige Zärtlichkeit. Ja, so wünschte sie es sich, obschon ihr das zuweilen töricht erschien.

Maud liebte es, nach getaner Arbeit bei einer Handarbeit 153 zu sitzen und ihren Gedanken nachzuhängen. Dann kam sie immer auf die Zeit zurück, da Mac um sie warb. Er erschien ihr in der Erinnerung unendlich jung und naiv. Völlig unbewandert im Umgang mit Frauen, war er nicht auf originelle Gedanken verfallen, ihr seine Liebe zu verstehen zu geben. Blumen, Bücher, Konzert- und Theaterbillette, kleine Ritterdienste – ganz wie der banalste Mensch. Und doch gefiel ihr das an ihm, jetzt mehr als damals. Ganz unerwartet hatte er sein Benehmen aber dann geändert und war mehr jenem Mac ähnlich geworden, den sie jetzt kannte. Eines Abends hatte er ihr nach einer ausweichenden Antwort bestimmt und fast unhöflich gesagt: »Denken Sie darüber nach. Ich lasse Ihnen bis morgen um fünf Uhr Zeit. Wenn Sie sich dann noch nicht entschieden haben, so sollen Sie nie wieder ein Wort von mir darüber hören. Good bye!« Und siehe da, Punkt fünf Uhr hatte er sich eingestellt . . .! Maud erinnerte sich stets mit einem Lächeln an diese Szene, aber sie hatte auch nicht vergessen, mit welcher Bangigkeit sie die Nacht und den Tag darauf verbracht hatte.

Je weiter der Tunnel ihr Mac entführte, desto hartnäckiger, mit desto größerer Beharrlichkeit, die gleichzeitig wohltat und schmerzte, verweilten ihre Gedanken bei ihren ersten Spaziergängen, Gesprächen und harmlosen und doch so bedeutungsschweren kleinen Erlebnissen ihrer jungen Ehe. Sie hatte einen Groll gegen den Tunnel im Herzen! Sie haßte den Tunnel, denn er war stärker gewesen als sie! Ach, die kleine Eitelkeit der ersten Zeit war längst verflogen. Es war ihr einerlei, ob man Macs Namen in fünf Kontinenten kannte oder nicht. Wenn nachts der gespenstische Widerschein der brennenden Tunnelstadt in ihr Zimmer drang, so war ihr Haß dagegen oft so stark, daß sie die Läden schloß, um ihn nicht zu sehen. Sie hätte weinen mögen vor Groll, und zuweilen weinte sie auch, still und ungesehen. Wenn 154 sie sah, wie die Züge sich in die Stollen stürzten, so schüttelte sie den Kopf. Es war Tollheit! Für Mac aber schien es nichts Selbstverständlicheres zu geben. Trotz alledem aber – und diese Hoffnung hielt sie aufrecht! – hoffte sie darauf, daß Mac wieder mit seinem Herzen zu ihr zurückkehren würde. Eines Tages mußte ihn der Tunnel doch wieder freigeben! Wenn der erste Zug lief . . .

Aber, o guter Gott, das waren noch Jahre! Maud seufzte. Geduld, Geduld! Vorläufig hatte sie ihre Tätigkeit. Sie hatte ihre geliebte Edith, die sich zu einem kleinen Dämchen entwickelt hatte und mit neugierigen, klugen Augen ins Leben blickte. Sie hatte Mac öfter als früher. Sie hatte Hobby, der fast täglich bei ihr speiste, allerhand Schnurren erzählte und mit dem es sich so wunderbar plaudern ließ. Auch ihr Haushalt stellte größere Ansprüche an sie als früher. Denn Mac brachte häufig Gäste mit, berühmte Leute, deren Name so gewichtig war, daß ihnen Mac den Zutritt in den Tunnel erlaubte. Maud freute sich über jeden derartigen Besuch. Diese Berühmtheiten waren meistens ältere Herren, mit denen es sich leicht verkehren ließ. Denn alle hatten eine Eigenschaft gemeinsam: sie waren sehr einfach, um nicht zu sagen schüchtern. Es waren große Gelehrte, die geologische, physikalische und technische Fragen zu Mac führten und die oft wochenlang mit ihren Instrumenten in einer Station tausend Meter unter dem Meeresspiegel hausten, um irgend etwas herauszufinden. Mac aber verkehrte mit diesen Berühmtheiten ganz wie er mit ihr oder mit Hobby verkehrte.

Aber wenn sich diese großen Tiere verabschiedeten, so verbeugten sie sich vor Mac und drückten ihm die Hand und konnten ihm nicht genug danken. Und Mac lächelte sein bescheidenes und gutmütiges Lächeln und sagte: »Allright, sir!« und wünschte ihnen gute Reise. Denn diese Leute kamen meist von weit her. 155

Einmal kam auch eine Dame zu ihr heraus.

»Mein Name ist Ethel Lloyd!« sagte diese Dame und hob den Schleier in die Höhe.

Ja, es war Ethel, in der Tat! Sie errötete, denn sie hatte keinen eigentlichen Anlaß, Maud einen Besuch zu machen. Und Maud errötete ebenfalls – weil Ethel errötete, und weil ihr der Gedanke durch den Kopf schoß, daß Ethel sehr unverfroren sei, und weil sie dachte, Ethel müsse diesen Gedanken in ihren Augen lesen.

Ethel faßte sich aber sofort. »Ich habe soviel von den Schulen gelesen, die Sie ins Leben riefen, Frau Allan,« begann sie, gewandt und fließend sprechend, »daß ich zuletzt den Wunsch hatte, Ihre Einrichtungen kennen zu lernen. Ich stehe ja persönlich ähnlichen Bestrebungen in New York nahe, wie Sie wissen werden.«

Ethel Lloyd trug einen angeborenen Stolz und eine natürliche Würde zur Schau, die nicht unangenehm wirkte, eine natürliche Offenheit und Herzlichkeit, die entzückte. Sie hatte das Kindliche, das Allan seinerzeit vor Jahren aufgefallen war, verloren und war eine vollkommene Dame geworden. Ihre früher etwas süßliche und zarte Schönheit war reifer geworden. Hatte sie vor Jahren den Eindruck eines Pastellgemäldes erweckt, so erschien jetzt alles an ihr klar und leuchtend, ihre Augen, ihr Mund, ihr Haar. Sie sah stets aus, als käme sie gerade aus ihrem Toilettezimmer. Die Flechte an ihrem Kinn hatte sich unmerklich vergrößert und war um eine Nuance dunkler geworden, aber Ethel suchte sie nicht mehr durch Puder zu verdecken.

Maud mußte aus Höflichkeit persönlich die Führung übernehmen. Sie zeigte Ethel das Hospital, die Schulen, den Kindergarten und die bescheidenen Klubräume des Frauenklubs. Ethel fand alles ausgezeichnet, ohne aber nach Art junger Damen übertriebenes Lob zu spenden. Und schließlich 156 fragte Ethel, ob sie sich irgendwie nützlich machen könne? Nein? Es war Ethel auch so recht. Zu Hause plauderte sie so reizend mit Edith, daß das Kind augenblicklich Zuneigung zu ihr faßte. Nun überwand Maud ihre unerklärliche und durch nichts begründete Abneigung gegen Ethel und bat sie, zum Diner zu bleiben. Ethel telephonierte an ihren »Pa« und blieb.

Mac brachte Hobby mit zu Tisch. Hobbys Anwesenheit gab Ethel eine große Sicherheit, die sie nie und nimmer gefunden haben würde, wenn nur der stille und schweigsame Mac dagewesen wäre. Sie führte die Unterhaltung. Hatte sie am Nachmittag Mauds Institute fachlich gelobt – nicht nach Art junger Damen übertrieben – so lobte sie sie jetzt überschwenglich. Mauds Argwohn wurde wieder wach. ›Sie hat es auf Mac abgesehen,‹ sagte sie sich. Aber zu ihrer größten Befriedigung schenkte ihr Mac kaum mehr als höfliches Interesse. Er betrachtete die schöne und verwöhnte Ethel mit denselben gleichgültigen Augen wie er etwa eine Stenotypistin betrachtete.

»Die Bibliothek im Frauenklub scheint mir noch etwas dürftig zu sein,« sagte Ethel.

»Sie soll im Laufe der Zeit ergänzt werden.«

»Es würde mir große Freude machen, wenn Sie mir erlaubten, einige Bücher beizusteuern, Frau Allan. Hobby, nehmen Sie meine Partei.«

»Wenn Sie einige Bücher übrig haben,« sagte Maud –

In den nächsten Tagen sandte Ethel ganze Ballen von Büchern, gegen fünftausend Bände. Maud dankte ihr herzlich, aber sie bereute ihr Entgegenkommen. Denn seitdem kam Ethel öfter herausgefahren. Sie tat, als sei sie innig befreundet mit Maud und überhäufte die kleine Edith mit Geschenken. Einmal fragte sie Mac, ob sie nicht gelegentlich in den Tunnel einfahren könne? 157

Mac sah sie erstaunt an, denn es war das erstemal, daß eine Dame diese Frage an ihn stellte.

»Das können Sie nicht!« antwortete er kurz und fast etwas schroff.

Aber Ethel war gar nicht gekränkt. Sie lachte herzlich und sagte: »Aber, Herr Allan, habe ich Ihnen Anlaß gegeben, ärgerlich zu werden?«

Seitdem kam sie etwas seltener. Und Maud hatte nichts dagegen. Sie konnte Ethel Lloyd nicht lieben, so sehr sie sich auch Mühe dazu gab. Und Maud gehörte zu den Leuten, die nur mit jemand verkehren können, wenn sie ihm aufrichtig zugetan sind.

Aus diesem Grunde war ihr Hobbys Gesellschaft so angenehm. Er verkehrte täglich in ihrem Hause. Er kam zum Lunch und Diner, einerlei ob Allan da war oder nicht. Es kam dahin, daß sie ihn vermißte, wenn er ausblieb. Und das selbst in Zeiten, da Mac bei ihr war.

 


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