Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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2.

Am nächsten Morgen, einige Minuten vor vier Uhr, ereignete sich die Katastrophe.

Der Ort, an dem die Bohrmaschine des vorgetriebenen Südstollens an diesem unglückseligen 10. Oktober den Berg zermalmte, war genau vierhundertundzwanzig Kilometer 189 von der Mündung des Tunnels entfernt. Dreißig Kilometer dahinter arbeitete die Maschine des Parallelstollens.

Der Berg war soeben geschossen worden. Der Scheinwerfer, mit dem der kleine Japaner von gestern die Befehle erteilte, blendete kreideweiß in das rollende Gestein und die Rotte halbnackter Menschen, die den rauchenden Schuttberg emporjagte. In diesem Augenblick streckte einer die Arme empor, ein zweiter stürzte hintenüber, ein dritter versank urplötzlich. Der rauchende Schuttberg rollte rasend schnell vorwärts, Leiber, Köpfe, Arme und Beine verschlingend wie eine wirbelnde Lawine. Der tobende Lärm der Arbeit wurde verschlungen von einem dumpfen Brummen, so ungeheuer, daß das menschliche Ohr es kaum noch aufnahm. Ein Druck umklammerte den Kopf, daß die Trommelfelle zerrissen. Der kleine Japaner versank plötzlich. Es wurde schwarze Nacht. Niemand von all den »Höllenmännern« hatte mehr gesehen als einen taumelnden Menschen, einen verzerrten Mund, einen sinkenden Pfosten. Niemand hatte etwas gehört. Die Bohrmaschine, dieses Panzerschiff aus Stahl, das die Kraft von zwei Schnellzugslokomotiven vorwärts bewegte, wurde wie eine Wellblechbaracke aus den Schienen gehoben, gegen die Wand geschleudert und zerdrückt. Die Menschenleiber flogen in einem Hagel von Felsblöcken wie Projektile durch die Luft, die eisernen Gesteinskarren wurden weggefegt, zerfetzt, zu Klumpen geballt; der Wald aus Pfosten krachte zusammen und begrub mit dem niedergehenden Gestein alles unter sich, was lebte.

Das geschah in einer einzigen Sekunde. Einen Augenblick später war es totenstill und das Dröhnen der Explosion donnerte in der Ferne.

Die Explosion richtete auf eine Entfernung von fünfundzwanzig Kilometern Verwüstungen an und der Tunnel 190 brüllte achtzig Kilometer weit auf – als donnere der Ozean in die Stollen. Hinter dem Gebrüll aber, das wie eine große eherne Kugel in die Ferne rollte, kam die Stille, eine fürchterliche Stille – dann Staubwolken – und hinter dem Staub Rauch: der Tunnel brannte.

Aus dem Rauch kamen Züge gerast, mit Trauben von entsetzten Menschen behangen, dann kamen unkenntliche Gespenster zu Fuß angestürzt, in der Finsternis, und dann kam nichts mehr.

Die Katastrophe trat unglücklicherweise gerade bei Schichtwechsel ein und in den letzten zwei Kilometern waren rund zweitausendfünfhundert Menschen zusammengedrängt. Mehr als die Hälfte war in einer Sekunde zerschmettert, zerfetzt, erschlagen, verschüttet und niemand hatte einen Schrei gehört.

Dann aber – als das Dröhnen der Explosion in der Ferne verhallte – wurde die Totenstille des nachtschwarzen Stollens von verzweifelten Schreien zerrissen, von lautem Jammern, von wahnsinnigem Gelächter, von hohen winselnden Tönen des letzten Schmerzes, von Hilferufen, Verwünschungen, Röcheln und tierischem Gebrüll. An allen Ecken begann es zu wühlen und sich zu regen. Geröll rieselte, Bretter splitterten, es rutschte, glitt, knirschte. Die Finsternis war entsetzlich. Der Staub sank wie dicker Aschenregen herab. Ein Balken schob sich zur Seite und ein Mensch kroch keuchend aus einem Loch heraus, nieste und kauerte betäubt auf dem Schutthaufen.

»Wo seid ihr?!« schrie er, »In Gottes Namen!!« Fortwährend schrie er dasselbe und nichts antwortete ihm als wilde Schreie und tierisches Stöhnen. Der Mensch aber brüllte lauter und lauter vor Entsetzen und Schmerzen und seine Stimme klang immer schriller und irrsinniger.

Plötzlich aber schwieg er still. In der Finsternis flackerte 191 ein Feuerschein. Eine Flamme leckte aus der Spalte eines hausähnlichen Trümmerhaufens und plötzlich schoß eine schwelende Feuergarbe empor. Der Mensch, ein Neger, stieß einen Schrei aus, der in ein entsetztes Röcheln überging: denn – Gott sei mir gnädig! – mitten in der Flamme erschien ein Mensch! Dieser Mensch kletterte durch die Flamme empor, ein qualmendes Bündel mit gelbem Chinesengesicht, ein schreckenverbreitendes Gespenst. Das Gespenst kroch lautlos höher und höher, so daß es haushoch oben zu hängen schien, dann rutschte es herab. In diesem Augenblick stellte sich eine Erinnerung in dem verstörten Hirn des Negers ein. Er erkannte das Gespenst.

»Hobby! brüllte er. »Hobby!«

Aber Hobby hörte nicht, antwortete nicht. Er taumelte, stürzte in die Knie, klopfte sich die Funken von den Kleidern, röchelte und schnappte nach Luft. Eine Weile kauerte er betäubt am Boden, ein dunkler Klumpen im Feuerschein. Es sah aus, als wolle er fallen, aber er fiel nur auf beide Hände und begann nun langsam, mechanisch, vorwärts zu kriechen, instinktiv der Stimme entgegen, die unaufhörlich seinen Namen schrie. Unerwartet stieß er auf eine dunkle Gestalt und hielt inne. Der Neger hockte mit blutüberströmten Gesicht da und brüllte. Bald blinkten ihn zwei weiße Augen an, bald eines. Das kam daher, weil das Blut immer wieder ein Auge des Negers anfüllte und er es krampfhaft aufreißen mußte.

Sie hockten einander eine Weile gegenüber und sahen sich an.

»Fort!« flüsterte dann Hobby, ohne Sinne, und richtete sich automatisch auf.

Der Neger griff nach ihm.

»Hobby!« heulte er entsetzt. »Hobby, was ist geschehen?!«

Hobby leckte sich die Lippe ab und versuchte zu denken. 192

»Fort!« flüsterte er dann wieder mit heiserer Stimme, immer noch betäubt.

Der Neger klammerte sich an ihn und wollte sich aufrichten, stürzte aber schreiend zu Boden. »Mein Fuß!« heulte er. »Großer Gott im Himmel – was ist mit meinem Fuß –?!«

Hobby vermochte nicht zu denken. Ganz instinktiv tat er, was man tut, wenn ein Mensch niederfällt. Er versuchte den Neger aufzuheben. Aber sie stürzten beide zu Boden.

Hobby fiel mit dem Kinn gegen einen Balken, so heftig, daß sein Schädel krachte. Der Schmerz rüttelte ihn auf. In seiner Betäubung war es ihm, als habe er einen Schlag gegen den Kiefer erhalten, und er richtete sich, halb bewußtlos, zu einer verzweifelten Gegenwehr. Da aber – da aber ging etwas Merkwürdiges mit ihm vor. Er sah keinen Gegner, seine Hände hatten sich im Schutt geballt. Hobby wurde wach. Plötzlich wußte er, daß er im Stollen war und daß etwas Furchtbares geschehen sein mußte –! Er begann zu zittern, all seine Rückenmuskeln, die sich nie in seinem Leben so bewegt hatten, zuckten konvulsivisch wie die Muskeln eines erschrockenen Pferdes.

Hobby verstand.

»Katastrophe . . .« dachte er.

Er richtete sich halb auf und sah, daß die Bohrmaschine brannte. Zu seinem Erstaunen sah er Haufen nackter und halbnackter Menschen in den erschreckendsten Verrenkungen auf dem Schutt liegen und sie alle regten sich nicht. Er sah, daß sie überall lagen, neben ihm, rings umher. Sie lagen mit offenem Mund, lang hingestreckt mit zermalmten Köpfen, eingeklemmt zwischen Pfosten, aufgespießt, in Stücke zerfetzt. Überall lagen sie! Hobbys Haare flogen. Sie lagen verschüttet bis zum Kinn, zusammengerollt zu einem Knäuel, und soviele Steinblöcke, Balken, Pfosten und 193 Karrentrümmer es hier gab, ebenso viele Köpfe, Rücken, Stiefel, Arme und Hände starrten aus dem Schutt. Mehr! Hobby schrumpfte ein vor Grauen, es schüttelte ihn, daß er sich festhalten mußte, um nicht hinzuschlagen. Jetzt verstand er auch die sonderbaren Laute, die nah und fern den halbdunklen Stollen füllten. Dieses Miauen, Greinen, Winseln, Schnauben und Brüllen wie von Tieren – diese unerhörten, nie gehörten Laute –: das waren Menschen! Seine Haut, sein Gesicht und seine Hände erstarrten wie vor Kälte, seine Füße waren gelähmt. In seiner nächsten Nähe saß ein Mensch, dem das Blut aus dem Mundwinkel lief wie aus einem Brunnen. Der Mensch atmete nicht mehr, aber er hielt die hohle Hand darunter und Hobby hörte das Blut plätschern und rieseln. Es war der kleine Japaner. Er erkannte ihn. Plötzlich sank seine Hand herab und sein Kopf neigte sich, bis er aufschlug.

»Fort, fort!« flüsterte Hobby, vom Grauen geschüttelt. »Wir müssen fort von hier!«

Der Neger griff nach Hobbys Gürtel und half mit seinem unverletzten Fuß nach, so gut es ging. So krochen sie zusammen durch das Gewirr von Pfosten und Leichnamen und Gestein, den Schreien und tierischen Lauten entgegen.

»Hobby!« stöhnte der Neger und schluchzte vor Angst und Entsetzen. »Mister Hobby, the Lord bless your soul – verlassen Sie mich nicht, lassen Sie mich nicht hier! O, Lord, mercy –! Ich habe eine Frau und zwei kleine Kinder draußen – verlassen Sie einen armen Nigger nicht! O Barmherzigkeit!«

Die brennende Bohrmaschine warf grelle, böse Lichtzacken und schwarze flatternde Schatten in das dunkle Chaos und Hobby mußte darauf achten, nicht auf Gliedmaßen und Köpfe zu treten, die aus dem Geröll hervorragten. Plötzlich tauchte zwischen zwei umgeworfenen Eisenkarren 194 eine Gestalt auf, eine Hand tastete nach ihm und er fuhr zurück. Da sah er in ein Gesicht, das ihn mit idiotischem Ausdruck anstarrte.

»Was willst du?« fragte Hobby, zu Tode erschrocken.

»Hinaus!« keuchte das Gesicht.

»Geh weg!« antwortete Hobby. »Das ist die falsche Richtung!«

Der Ausdruck des Gesichts änderte sich nicht. Aber es zog sich langsam zurück. Und ohne jeden Laut verschwand die Gestalt, wie verschluckt vom Schutt.

Hobbys Kopf war klarer geworden und er versuchte seine Gedanken zu sammeln. Die Brandwunden schmerzten ihn, sein linker Arm blutete, aber sonst war er heil. Er erinnerte sich, daß Allan ihn zu O'Niel mit einem Auftrag geschickt hatte. Zehn Minuten vor der Explosion hatte er noch bei den Gesteinskarren mit O'Niel, dem roten Irländer, gesprochen. Dann war er in die Bohrmaschine geklettert. Weshalb, wußte er nicht mehr. Er hatte die Maschine kaum betreten, als er fühlte, wie plötzlich der Boden unter ihm schwankte. Er sah in ein Paar erstaunter Augen – dann sah er nichts mehr. Soweit wußte er alles, aber es war ihm rätselhaft, wie er wieder aus der Bohrmaschine herausgekommen war. Hatte ihn die Explosion herausgeschleudert?

Während er den stöhnenden und jammernden Neger hinter sich herzerrte, überdachte er die Lage. Sie schien ihm nicht hoffnungslos zu sein. Wenn er den Querschlag erreichte, in dem gestern der tote Monteur lag, so war er gerettet. Dort gab es Verbandzeug, Sauerstoffapparate, Notlampen. Er erinnerte sich deutlich, daß Allan die Lampen probiert hatte. Der Querstollen lag rechts. Aber wie weit entfernt? Drei Meilen, fünf Meilen? Das wußte er nicht. Gelang es ihm nicht, so mußte er ersticken, denn der Rauch 195 wurde mit jeder Minute stärker. Und Hobby kroch verzweifelt vorwärts.

Da hörte er dicht in der Nähe eine Stimme seinen Namen keuchen. Er hielt inne und lauschte mit fliegenden Lungen.

»Hierher!« keuchte die Stimme. »Ich bin es. O'Niel!«

Ja, O'Niel, der große Irländer war es. Er, dessen Knochen sonst soviel Platz wegnahmen, saß eingerammt zwischen Pfosten, die rechte Gesichtshälfte von Blut überströmt; grau, wie mit Asche bedeckt sah er aus und seine Augen waren rote schmerzhafte Feuer.

»Ich bin fertig, Hobby!« keuchte O'Niel. »Was ist geschehen? Ich bin fertig und leide schrecklich. Erschieße mich, Hobby!«

Hobby versuchte einen Balken zur Seite zu schieben. Er nahm alle Kraft zusammen, stürzte aber plötzlich auf unerklärliche Weise zu Boden.

»Es hat keinen Wert, Hobby,« fuhr O'Niel fort. »Ich bin fertig und leide! Erschieße mich und rette dich!«

Ja, O'Niel war fertig, Hobby sah es. Er nahm den Revolver aus der Tasche. Die Waffe wog zentnerschwer in seiner Hand und er konnte den Arm kaum heben.

»Mach' die Augen zu, O'Niel!«

»Warum sollte ich, Hobby –?« O'Niel lächelte ein verzweifeltes Lächeln. »Sage Mac, ich habe keine Schuld – danke, Hobby!«

Der Rauch beizte, aber der Feuerschein wurde immer schwächer, so daß Hobby hoffte, er werde erlöschen. Dann gab es keine Gefahr mehr. Da aber ertönten zwei kurze, heftige Detonationen. »Das sind die Sprenghülsen,« dachte er.

Gleich darauf wurde es heller. Ein hoher Pfosten brannte lichterloh und leuchtete weithin durch den Stollen. Da sah Hobby, wie einzelne sich auswühlten und andere langsam, 196 Schritt für Schritt vorwärts kletterten, nackte, schmutzige Rücken und Arme, schwefelgelb im Feuerschein. Es winselte und schrie aus dem Gestein, Hände ragten heraus und winkten mit verkrampften Fingern, und dort hob sich der Boden ruckweise in die Höhe, aber die Schuttlage sank immer wieder herab.

Hobby kroch stumpf weiter. Er keuchte. Der Schweiß tropfte aus seinem Gesicht und er war halb bewußtlos vor Anstrengung. Er achtete nicht auf den Arm, der aus dem Schutt ragte und ihn am Fuß festhalten wollte, apathisch kletterte er durch eine Traufe von Blut hindurch, die von der Decke herabkam. Wieviel Blut ein Mensch hat! dachte er und nahm seinen Weg direkt über einen Toten hinweg, der auf dem Bauche lag.

Der Neger, den ihm das Schicksal in dieser schrecklichen Stunde zugeteilt hatte, klammerte die Arme um seinen Nacken und heulte und weinte vor Schmerzen und Angst und zuweilen küßte er seine Haare und flehte ihn an, ihn nicht zu verlassen.

»Mein Name ist Washington Jackson,« keuchte der Neger, »ich stamme aus Athens in Georgia und heiratete Amanda Bell aus Danielsville. Vor drei Jahren nahm ich den Tunnel-Job, als Steinträger. Ich habe zwei Kinder, sechs und fünf Jahre alt.«

»Halt's Maul, Boy!« schrie Hobby. »Klammere dich nicht so fest.«

»O, Mister Hobby,« schmeichelte Jackson, »Sie sind gut, man sagt es – o, Mister Hobby –« und er küßte Hobbys Haar und Ohr. Plötzlich aber, da ihn Hobby auf die Hände schlug, überfiel ihn eine wahnsinnige Wut: er glaubte, Hobby wolle ihn abschütteln. Mit aller Kraft schraubte er die Hände um Hobbys Hals und keuchte: »Du meinst, du kannst mich hier verrecken lassen, Hobby! Du meinst – 197 ach!« Und er fiel mit einem lauten Schrei zu Boden, denn Hobby hatte ihm die Daumen in die Augen gedrückt.

»Hobby, Mister Hobby,« flehte er winselnd und weinte und streckte die Hände aus, »verlassen Sie mich nicht, bei Ihrer Mutter, Ihrer guten, alten Mutter –«

Hobby rang nach Luft. Seine Brust schraubte sich zusammen, er wurde steif und lang und glaubte, es gehe nun dahin mit ihm.

»Komm!« sagte er, als er wieder Atem bekam. »Du verfluchter Teufel! Wir müssen unter diesem Zug durch! Wenn du mich wieder drosselst, so schlag ich dich nieder!«

»Hobby, guter Mister Hobby!« Und Jackson kroch wimmernd und stöhnend, mit einer Hand an Hobbys Riemen hängend, hinter Hobby her.

»Hurry up you idiot!« Hobbys Schläfen waren nahe am Zerspringen.

 

Der Stollen war in einer Länge von drei Meilen nahezu vollkommen zerstört, von Pfosten und Gestein verschüttet. Überall kletterten Gestalten, blutig, zerfetzt, schreiend, wimmernd, wortlos, und keuchten so rasch wie möglich vorwärts. Sie kletterten über Gesteins- und Materialzüge, die aus den Schienen gehoben waren, sie krochen Schutthaufen hinauf und hinunter, zwängten sich zwischen Balken hindurch. Je weiter sie vordrangen, desto mehr Gefährten begegneten sie, die alle vorwärts hasteten. Hier war es ganz dunkel und nur ein fahler Lichtzacken leckte zuweilen herein. Der Rauch drang vorwärts, beizend, und sobald sie ihn in der Nase spürten, schlugen sie ein verzweifeltes Tempo an.

Sie stiegen brutal über die Leiber der langsam kriechenden Verletzten hinweg, sie schlugen einander mit den Fäusten zu Boden, um einen einzigen kleinen Schritt zu gewinnen, und ein Farbiger schwang sein Messer und stieß jeden blind 198 nieder, der ihm in den Weg kam. Bei einer engen Passage zwischen einem umgestürzten Waggon und einem Gewirr von Pfosten gab es eine richtige Schlacht. Die Revolver knallten und die Schreie der Getroffenen vermischten sich mit dem Wutgeheul jener, die einander drosselten. Aber einer nach dem andern verschwand durch die Spalte und die Verwundeten krochen stöhnend nach.

Dann wurde die Strecke freier. Hier standen weniger Züge im Wege und die Explosion hatte nicht sämtliche Pfosten eingerissen. Aber hier war es vollkommen dunkel. Keuchend, zähneknirschend, schweiß- und blutüberströmt rutschten und kletterten die Fliehenden vorwärts. Sie rannten gegen Balken und schrien auf, sie stürzten von einem Waggon und suchten. Vorwärts! Vorwärts! Die Wut des Selbsterhaltungstriebes ließ langsam nach und allmählich erwachte wieder ein Gefühl der Kameradschaft.

»Hierher, hier ist der Weg frei!«

»Geht es hier durch?«

»Rechts an den Waggons!«

 

Drei Stunden nach der Katastrophe erreichten die ersten Leute aus dem zerstörten Holzstollen den Parallelstollen. Auch hier war die Lichtleitung zerstört. Es war finstere Nacht und alle stießen ein Geheul der Wut aus. Kein Zug! Keine Lampen! Die Mannschaften des Parallelstollens waren längst geflüchtet und alle Züge fort.

Der Rauch kam und das wahnwitzige Rennen begann von neuem.

Die Rotte glitt, lief, stürzte eine Stunde lang durch die Finsternis vorwärts, dann brachen die ersten erschöpft zusammen.

»Es hat keinen Sinn!« schrien sie. »Wir können nicht vierhundert Kilometer laufen!« 199

»Was sollen wir tun?«

»Warten, bis sie uns holen!«

»Holen? Wer soll kommen?«

»Wir verhungern!«

»Wo sind die Depots?«

»Wo sind die Notlampen?«

»Ja, wo sind sie?«

»Mac –!«

»Ja, warte Mac –!«

Und plötzlich flammte ihre Rachegier auf. »Warte Mac! Wenn wir hinauskommen –!«

Aber der Rauch kam und sie stürzten wieder vorwärts, bis abermals ihre Knie wankten.

»Hier ist eine Station, hallo!«

Die Station war dunkel und verlassen. Die Maschinen standen, alles war von der Panik hinausgerissen worden.

Die Horde drang in die Station ein. Mit den Stationen waren sie vertraut. Sie wußten, daß hier plombierte Kisten mit Nahrungsmitteln standen, die man nur zu öffnen brauchte.

Es krachte und knackte in der Finsternis. Niemand war eigentlich hungrig, denn das Entsetzen hatte den Hunger verscheucht. Aber inmitten der Vorräte erwachte in ihnen ein wilder Instinkt, sich den Magen anzufüllen, und sie stürzten sich wie Wölfe auf die Kisten. Sie stopften die Taschen voll Nahrungsmittel. Noch mehr, sinnlos vor Entsetzen und Wut verstreuten sie Säcke von Zwieback und getrocknetem Fleisch, zerschlugen sie Flaschen zu Hunderten.

»Hier sind die Lampen!« schrie eine Stimme.

Es waren Notlampen mit Trockenbatterien, die man nur einzuschalten hatte.

»Halt, nicht andrehen, ich schieße!«

»Warum nicht?«

»Es könnte eine Explosion geben!« 200

Dieser Gedanke allein genügte, um sie erstarren zu lassen. Vor Angst wurden sie ganz still.

Aber der Rauch kam und wieder begann die Jagd.

Plötzlich hörten sie Geschrei und Schüsse. Licht! Sie stürzten durch einen Querschlag in den Parallelstollen. Und da sahen sie gerade noch, wie in der Ferne Haufen von Menschen um einen Platz auf einem Waggon kämpften, mit Fäusten, Messern, Revolvern. Der Zug fuhr ab und sie warfen sich verzweifelt auf den Boden und schrien: »Mac! Mac! Warte, wenn wir kommen!«

 


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