Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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3.

Das gerichtliche Verfahren, das gegen das Syndikat eingeleitet worden war, wurde nach einigen Wochen wieder eingestellt, da es sich bei der Katastrophe ganz offenbar um force majeure handelte.

Allan war solange in New York zurückgehalten worden. Nun aber war er frei und reiste augenblicklich ab.

Er verbrachte den Winter auf den Bermudas und Azoren und blieb einige Wochen in Biskaya. Zuletzt erschien er auf der Kraftstation Ile Ouessant, dann verlor sich seine Spur.

Allan verlebte den Frühling in Paris, wo er unter dem Namen C. Connor, Kaufmann aus Denver, in einem alten Hotel der Rue Richelieu wohnte. Niemand erkannte ihn, obwohl jeder hundertmal sein Porträt gesehen hatte. Er hatte dieses Hotel absichtlich gewählt, um jener Klasse von Menschen zu entgehen, die er am meisten haßte: die reichen Müßiggänger und lauten Schwätzer, die sich von Hotel zu Hotel durchschlagen und die Mahlzeiten mit einer lächerlichen Feierlichkeit einnehmen.

Allan lebte ganz allein. Er saß täglich nachmittags vor dem gleichen Boulevard-Café an seinem runden Marmortischchen, trank seinen Kaffee und blickte still und gleichgültig in den lauten Strom der Straße. Von Zeit zu Zeit wandte er den Blick empor zu einem Balkon im zweiten Stock des gegenüberliegenden Hotels: dort hatte er vor Jahren mit Maud gewohnt. An manchen Tagen erschien dort oben eine hellgekleidete Frau; dann konnte Allan den Blick nicht von dem Balkon abwenden. Täglich begab er sich in den Jardin de Luxembourg, in jenen Teil, wo die Kinder zu Tausenden spielen. Dort stand eine Bank, auf der er einmal mit Maud und Edith gesessen hatte. Und auf dieser 270 Bank saß Allan jeden Tag und sah zu, wie sich die Kinder um ihn her tummelten. Jetzt, nach einem halben Jahre, begannen die Toten und der Schmerz allmählich eine merkwürdige Macht über ihn zu bekommen. Im Laufe des Frühlings und Sommers absolvierte er die gleiche Reise, die er mit Maud und Edith vor Jahren unternommen hatte. Er war in London, Liverpool, Berlin, Wien, Frankfurt, begleitet von düsteren und schmerzlich-süßen Erinnerungen.

Er wohnte in den gleichen Hotels und häufig sogar in den gleichen Räumen. Oft hielt er den Schritt an vor Türen, die Mauds Hand einst öffnete und schloß. Es fiel ihm nicht schwer, sich in all den fremden Hotels und Korridoren zurechtzufinden. Die vielen Jahre, die er in den finstern unterirdischen Labyrinthen der Bergwerke verbrachte, hatten seinen Ortsinn geschult. Die Nächte verbrachte er schlaflos in einem Sessel, im dunkeln Zimmer. Da saß er mit offenen, ausgetrockneten Augen, ohne sich zu regen. Zuweilen richtete er an Maud halblaut kleine Ermahnungen, wie er es zu tun pflegte, als sie noch lebte. »Geh jetzt schlafen, Maud!« – »Verdirb dir die Augen nicht.« Er quälte sich mit Vorwürfen, daß er Maud an sich gefesselt habe, obgleich er doch damals schon sein großes Werk plante. Es schien ihm, als habe er ihr niemals seine Liebe ganz enthüllt, als habe er sie überhaupt nicht genügend geliebt – nicht so, wie er sie jetzt liebte. Voller Pein und Selbstanklage erinnerte er sich daran, daß ihm Mauds Vorwürfe, er vernachlässige sie, sogar lästig geworden waren. Nein, er hatte es nicht verstanden, seine kleine süße Maud glücklich zu machen. Mit brennenden Augen, überschattet von seinem Gram, saß er in den toten Räumen, bis es Tag wurde. »Es wird schon Tag, die Vögel zwitschern, hörst du?« sagte Maud. Und Allan erwiderte raunend. »Ja, ich höre sie, Liebe.« Dann warf er sich aufs Bett. 271

Schließlich verfiel er auf den Gedanken, Gegenstände aus diesen geheiligten Räumen zu erwerben, einen Leuchter, eine Uhr, ein Schreibzeug. Die Hotelbesitzer, die Mr. C. Connor für einen spleenigen reichen Amerikaner hielten, forderten schamlos hohe Summen, aber Allan bezahlte, ohne zu feilschen, jeden Preis.

Im August kehrte er von seiner Rundreise wieder nach Paris zurück und stieg wieder in dem alten Hotel in der Rue Richelieu ab, noch stiller, trüber, ein düsteres Feuer in den Augen. Er machte den Eindruck eines gemütskranken Mannes, der das Leben ringsum nicht mehr bemerkt und in seine eigenen Grübeleien versunken ist. Wochenlang sprach er kein Wort.

Eines Abends ging Allan im Quartier latin durch eine krumme, geschäftige Straße und plötzlich blieb er stehen. Jemand hatte seinen Namen gerufen. Aber ringsum hasteten fremde gleichgültige Menschen. Da sah er plötzlich seinen Namen, seinen früheren Namen, in riesigen Lettern dicht vor den Augen.

Es war ein grellfarbiges Plakat der Edison-Bio: »Mac Allan, constructeur du ›Tunnel‹ et Mr. Hobby, ingenieur en chef conversant avec les collaborateurs à Max City.«

»Les tunnels-trains allant et venant du travail.«

Allan sprach nicht Französisch, aber er verstand den Sinn der Affiche. Von einer merkwürdigen Neugierde getrieben, trat er zögernd in den dunklen Saal. Er kam gerade mitten in ein Rührstück hinein, das ihn langweilte. Allein in diesem Stück trat ein kleines Mädchen auf, das ihn entfernt an Edith erinnerte und dieses Kind vermochte ihn eine halbe Stunde in dem überfüllten Raume festzuhalten. La petite Yvonne hatte die gleiche Art, wichtigtuerisch und mit dem Ernst erwachsener Leute zu plaudern . . . 272

Plötzlich hörte er den Conférencier seinen Namen nennen und in diesem Augenblicke stand auch schon »seine Stadt« vor ihm. Flimmernd in Staub und Rauch und Sonne. Eine Gruppe von Ingenieuren stand vor der Station, lauter bekannte Gesichter. Sie wandten sich alle wie auf ein Signal um, um ein Automobil zu erwarten, das langsam heranrollte. In dem Automobil saß er selbst und neben ihm Hobby. Hobby richtete sich auf und schrie den Ingenieuren etwas zu, worauf alle lachten. Allan wurde von einem dumpfen Schmerz erfaßt, als er Hobby sah: frisch, übermütig – und jetzt hatte ihn der Tunnel vernichtet wie viele andere. Das Automobil rollte langsam weiter und plötzlich sah er sich aufstehen und zurücklehnen über den Wagen. Ein Ingenieur griff an den Hut, zum Zeichen, daß er verstanden habe.

Der Conférencier: »Der geniale Konstrukteur gibt seinen Mitarbeitern Befehle!«

Der Mann aber, der an den Hut griff, sah unvermutet forschend ins Publikum, gerade auf ihn, Allan, als habe er ihn entdeckt. Da erkannte er ihn: es war Bärmann, den sie am 10. Oktober erschossen hatten.

Plötzlich sah er die Tunnelzüge laufen: sie flogen die schiefe Ebene hinab, sie jagten herauf, einer hinter dem anderen und eine Wolke von Staub fegte über sie hin.

Allans Herz pochte. Er saß gebannt, unruhig, mit heißem Gesicht, und sein Atem kam so gepreßt aus der Brust, daß man neben ihm lachte.

Die Züge aber flogen . . . Allan stand auf. Er ging augenblicklich. Er nahm ein Auto und fuhr ins Hotel. Hier erkundigte er sich bei dem Manager nach dem nächsten auslaufenden Amerika-Schnelldampfer. Der Manager, der Allan stets mit der zartesten Rücksicht behandelte, wie einen Schwerkranken, nannte ihm den Cunardliner, der am 273 nächsten Vormittag von Liverpool in See ging. Der Abendschnellzug sei aber schon abgegangen.

»Bestellen Sie augenblicklich einen Extrazug!« sagte Allan.

Der Manager sah Mr. C. Connor an, überrascht von Allans Stimme und Ton. Was hatte diesen Menschen seit heute mittag so verändert? Ein ganz neuer Mensch schien vor ihm zu stehen.

»Gerne,« erwiderte er. »Allerdings muß ich Mr. Connor um bestimmte Garantien bitten . . .«

Allan trat an den Lift. »Wozu? Sagen Sie, Mac Allan aus New York bestellt den Zug!«

Da erkannte ihn der Manager und trat verblüfft zurück und verbarg sein Erstaunen in einer Verbeugung.

Allan war wie umgewandelt. Er sauste dahin in einem vorwärtsstürmenden Zug, der alle Stationen in einem Tempo passierte, daß die Luft klirrte, und die Schnelligkeit der Bewegung allein brachte ihn wieder auf sich selbst zurück. Er schlief vorzüglich in dieser Nacht. Zum erstenmal seit langer Zeit. Nur einmal wachte er auf. Als der Zug durch den Kanaltunnel donnerte. ›Sie haben die Stollen viel zu klein gebaut,‹ dachte er und schlief weiter. Am Morgen fühlte er sich frisch und gesund, voller Entschlossenheit. Er sprach vom Zug aus telephonisch mit dem Kapitän des Dampfers und der Direktion der Gesellschaft. Um zehn Uhr erreichte er den Cunardliner, der, fiebernd vor Ungeduld, pfeifende Wolken von Wasserdampf durch die Kamine ausstoßend, auf ihn wartete. Er stand erst mit einem Fuß auf dem Schiff, als die Schrauben schon das Wasser zu flüssigem Marmor peitschten.

Nach einer halben Stunde wußte das ganze Schiff, daß der verspätete Passagier kein anderer als Mac Allan war.

Auf hoher See begann Allan fieberhaft zu depeschieren. 274 Über Biskaya, Azora, Bermuda, New York und Mac City ging ein Regen von Depeschen nieder. Durch die finsteren Stollen unterm Meer zuckte ein belebender Strom: Allan hatte das Steuer wieder in die Hand genommen.

 


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