Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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4.

Die Subskriptions-Einladung war veröffentlicht, und der Tunnel begann zu schlucken!

Die Aktien lauteten auf tausend Dollar. Die Shares auf hundert, zwanzig und zehn Dollar.

Die kahle Riesenhalle der New York-Stock-Exchange erdröhnte am Tage der Emission von ungeheurem Lärm. Seit vielen Jahren war kein Papier mehr auf den Markt gekommen, dessen Zukunft sich so wenig vorherbestimmen ließ. Sie konnte unerhört glänzend sein, sie konnte keinen Cent Wert haben. Die Spekulation fieberte vor Erregung, verhielt sich aber abwartend, da niemand den Mut aufbrachte voranzugehen. Aber S. Woolf hatte schon Wochen vorher in Schlafwagen zugebracht und die Stellung sondiert, die die schwere Industrie, die das größte Interesse am Tunnel hatte, dem Syndikat gegenüber einnahm. Er ratifizierte keinen Auftrags-Vertrag, bevor er sich nicht überzeugt hatte, daß sein Mann ihm sicher war. So kam es, daß die Agenten 120 der schweren Industrie Punkt zehn Uhr einen Rush starteten. Sie erwarben für rund fünfundsiebzig Millionen Dollar Aktien.

Der Damm war gebrochen . . .

Allan aber war es in erster Linie um das Geld des Volkes zu tun. Nicht eine Rotte von Kapitalisten und Spekulanten sollte den Tunnel bauen, er sollte Eigentum des Volkes, Amerikas, der ganzen Welt werden.

Und das Geld des Volkes ließ nicht auf sich warten.

Die Menschen haben stets die Kühnheit und den Reichtum bewundert. Die Kühnheit ist ein Triumph über den Tod, der Reichtum ein Triumph über den Hunger, und nichts fürchten die Menschen mehr als Tod und Hunger.

Selbst unfruchtbar, stürzten sie sich von jeher auf fremde Ideen, um sich daran zu erwärmen, zu entflammen und über die eigene Dumpfheit und Langeweile wegzutäuschen. Sie waren ein Heer von Zeitungslesern, die dreimal täglich ihre Seele mit den Schicksalen unbekannter Menschen heizten. Sie waren ein Heer von Zuschauern, die sich stündlich an den tausendfältigen Kapriolen und tausendfältigen Todesstürzen ihrer Mitmenschen ergötzten, in dumpfem Grimm über die eigene Ohnmacht und Bettelarmut. Nur wenige Auserwählte konnten sich den Luxus leisten, selbst etwas zu erleben. Den andern fehlte Zeit und Geld und Mut, das Leben ließ ihnen nichts. Sie wurden fortgerissen von dem sausenden Treibriemen, der um den Erdball fegte, und wer das Zittern bekam und den Atem verlor, stürzte ab und zerschmetterte und niemand kümmerte sich um ihn. Niemand hatte Zeit und Geld und Mut, sich um ihn zu kümmern, auch das Mitgefühl war Luxus geworden. Die alten Kulturen waren bankerott und die Masse war kaum der Beachtung wert: etwas Kunst, etwas Religion, Christian Science, Heilsarmee, Theosophie und 121 spiritistischer Schwindel – kaum genug, um den seelischen Bedarf einer Handvoll Menschen zu decken. Ein bißchen billige Zerstreuung, Theater, Kinos, Boxkämpfe und Varietés, wenn der sausende Treibriemen auf ein paar Stunden stillestand – um das Schwindelgefühl zu überwinden. Aber viele hatten alle Hände voll zu tun, ihren Körper zu trainieren, damit sie Kraft genug hatten, die Reise morgen wieder mitmachen zu können. Dieses Training nannten sie Sport.

Das Leben war heiß und schnell, wahnsinnig und mörderisch, leer, sinnlos. Tausende warfen es fort. Eine neue Melodie, wenn wir bitten dürfen, nicht die alten Gassenhauer!

Und Allan gab sie ihnen. Er gab ihnen ein Lied aus Eisen und knisternden elektrischen Funken, und sie verstanden es: es war das Lied ihrer Zeit und sie hörten seinen unerbittlichen Takt in den rauschenden Hochbahnzügen über ihren Köpfen.

Dieser Mann versprach keine Claims im Himmel, er behauptete nicht, daß die menschliche Seele sieben Etagen habe. Dieser Mann trieb keinen Humbug mit endgültig vergangenen und unkontrollierbaren zukünftigen Dingen, dieser Mann war die Gegenwart. Er versprach etwas Handgreifliches, das jeder verstehen konnte: er wollte ein Loch durch die Erde graben, das war alles!

Aber trotz der Einfachheit erkannte jedermann, wie unendlich kühn das Projekt dieses Mannes war. Und: es war umblendet von Millionen!

Zuerst floß das Geld des »kleinen Mannes« nur spärlich, dann aber in Strömen. Durch New York, Chikago, San Franzisko, ganz Amerika schwirrte das Wort »Tunnel-Shares.« Man sprach von den Viktoria-Rand-Mine-Shares, den Continental Radium-Shares, die ihren Mann reich 122 gemacht hatten. Die Tunnel-Shares konnten alles bisher Dagewesene glatt hinter sich lassen. Man konnte –! O, go on, ja, und man brauchte es! Es handelte sich nicht um tausend Dollar mehr oder weniger, es handelte sich darum, sich den Rückzug ins Alter zu decken, bevor einem die Zähne aus dem Kiefer fielen.

Wochenlang wälzte sich ein Strom von Menschen über die Granittreppe des Syndikatgebäudes. Denn obwohl man die Shares an hundert anderen Orten ebensogut kaufen konnte, wollte sie doch jedermann frisch aus der Quelle haben. Es waren Kutscher, Chauffeure, Kellner, Liftboys, Clerks, Ladenmädchen, Handwerker, Diebe, Juden, Christen, Amerikaner, Franzosen, Deutsche, Russen, Polen, Armenier, Türken, alle Nationen und Schattierungen der Haut, die sich vor dem Gebäude des Syndikats zusammenknäulten und erhitzten durch Gespräche über Shares, Minen, Dividende, Gewinn. Ein Geruch von Geld lag in der Luft! War es nicht, als ob solides Geld, solide Dollarnoten aus dem grauen Winterhimmel über Wallstreet herabregneten?

An manchen Tagen war der Andrang so groß, daß die Beamten gar nicht die Zeit hatten, das einkassierte Geld zu ordnen. Es war, bei Gott, wie in den fernen Tagen des Franklin-Syndikats, den Tagen des seligen »520% Miller.« Die Beamten warfen das Geld einfach hinter sich auf den Boden. Sie wateten bis an die Knöchel im Geld, und unaufhörlich waren Diener beschäftigt, das Geld in Waschkörben wegzuschleppen. Diese Flut von Geld, die nicht abnahm, sondern stetig wuchs, zauberte einen Glanz wahnsinniger Gier in die Augen der Köpfe, die sich in die Schalter zwängten. Eine Handvoll – soviel als sie mit einer Hand packen konnten! – und sie, die Nummern, Motoren, Automaten, Maschinen, 123 waren: Menschen. Schwindlig im Hirn wie nach Ausschweifungen gingen sie weg, berauscht von Träumen, Fieber in den Augen; wie Millionäre.

In Chikago, St. Louis, Frisko, in allen großen und kleinen Städten der Staaten spielten sich ähnliche Szenen ab. Es gab keinen Farmer, keinen Cowboy, keinen Miner, der nicht in A. T. S.-Shares spekulierte.

Und der Tunnel schluckte, der Tunnel trank das Geld, wie ein Riesenungeheuer mit vorsintflutlichem Durst. Auf beiden Seiten des Ozeans schluckte er.

 


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