Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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4.

Allans erster Besuch galt Hobby.

Hobbys Landhaus lag etwas abseits von Mac City. Es bestand in der Hauptsache aus Loggien, Balkonen und Veranden und stieß an ein Wäldchen junger Eichen.

Niemand öffnete, als Allan klingelte. Die Klingel schien nicht zu funktionieren. Das Haus machte den Eindruck, als sei es schon seit langer Zeit verlassen. Aber alle Fenster standen weit offen. Auch die Gartentüre war verschlossen, so daß Allan sich kurz entschlossen über den Zaun schwang. Er stand kaum im Garten, als ein Schäferhund angestürzt kam und ihn wütend kläffend stellte. Allan sprach auf den Hund ein, und der Hund gab schließlich den Weg frei, wenn er ihn auch nicht aus den Augen ließ. Der Garten war voll welker Eichenblätter und verwahrlost wie das Haus. Hobby schien ausgegangen zu sein.

Um so größer war Allans Freude und Überraschung, als er Hobby plötzlich vor sich sah. Er saß auf den Stufen, die in den Garten führten, das Kinn in die Hand gestützt, in Gedanken versunken. Er schien nicht einmal gehört zu haben, daß der Hund anschlug.

Hobby war elegant wie immer gekleidet, aber die Kleidung wirkte stutzerhaft, denn es war die Kleidung eines jungen Mannes, und der sie trug, war ein Greis. Hobby trug teure Wäsche mit farbigen Streifen, Lackschuhe mit breiten 275 Sohlen und koketten Seidenschleifen, gelbseidene Strümpfe und eine hechtgraue Hose mit Bügelfalten und Hüftenschnitt. Eine Jacke hatte er nicht an, obschon es empfindlich kühl war.

Er saß in der Haltung eines gesunden, intelligenten Menschen und Allans Freude wallte schon auf. Aber als Hobby den Blick zu ihm emporhob und er seine entstellten kranken Augen sah und sein runzeliges fahles Greisengesicht, wußte er, daß es mit Hobbys Gesundheit noch nicht zum besten stand.

»Da bist du ja wieder, Mac,« sagte Hobby, ohne Allan die Hand zu geben und ohne sich zu regen. »Wo warst du?« Und um seine Augen und seinen Mund ordneten sich die Falten zu kleinen Fächern. Er lächelte. Seine Stimme klang immer noch fremd und unrein, wenn auch Allan deutlich Hobbys alte Stimme heraushörte.

»Ich war in Europa, Hobby. Und wie geht's, mein Junge?«

Hobby sah wieder vor sich hin wie vorhin. »Es geht besser, Mac. Auch mein verfluchter Kopf arbeitet schon wieder.«

»Wohnst du denn ganz allein, Hobby?«

»Ja, ich habe die Dienstboten hinausgeworfen. Sie machten zu viel Lärm.«

Nun aber schien Hobby plötzlich zu begreifen, daß Allan da war. Er stand auf und drückte ihm die Hand und sah erfreut aus. »Komm herein, Mac! Ja, so geht es, siehst du!«

»Was sagt der Arzt?«

»Der Arzt ist zufrieden. Geduld, sagt er, Geduld.«

»Weshalb sind alle Fenster offen? Es zieht ja schauderhaft, Hobby.«

»Ich liebe den Luftzug, Mac!« entgegnete Hobby mit einem fremden Lachen. 276

Er flatterte am ganzen Körper und seine weißen Haare flogen, als sie in sein Arbeitszimmer hinaufstiegen.

»Ich arbeite schon wieder, Mac. Du wirst sehen. Es ist etwas ganz Ausgezeichnetes!« Und Hobby blinzelte mit dem rechten Auge, ganz als ob er den alten Hobby nachahme.

Er zeigte Mac einige Blätter, die mit zitternden wirren Strichen bedeckt waren. Die Zeichnungen sollten alle seinen neuen Hund darstellen. Aber sie waren kaum besser als Zeichnungen von Kindern – und ringsum an den Wänden hingen Hobbys großartige Entwürfe von Bahnhöfen, Museen, Warenhäusern, die alle die Hand des Genies zeigten.

Allan machte ihm die Freude, die Skizzen zu loben.

»Ja, sie sind wirklich gut,« sagte Hobby stolz und goß mit bebenden Händen zwei Gläser black and white zusammen. »Es beginnt wieder, Mac. Nur werde ich rasch müde. Bald wirst du Vögel zu sehen bekommen. Vögel! Wenn ich so dasitze, so sehe ich häufig die sonderbarsten Vögel in meinem Kopf – Millionen, und alle bewegen sich. Trink, mein Junge! Trink, trink, trink.«

Hobby ließ sich in einen abgeschabten Ledersessel fallen und gähnte.

»War Maud mit in Europa?« fragte er plötzlich.

Allan schrak zusammen und erbleichte. Ein leichtes Schwindelgefühl überkam ihn.

»Maud?« sagte er halblaut, und der Name klang merkwürdig in seinen Ohren, als sei es ein Unrecht, ihn auszusprechen.

Hobby blinzelte und dachte angestrengt nach. Dann stand er auf und sagte: »Willst du noch Whisky haben?«

Allan schüttelte den Kopf. »Danke, Hobby! Ich trinke nichts am Tage.« Mit trüben Blicken sah er durch die 277 herbstlichen Bäume hindurch hinaus aufs Meer. Ein kleiner schwarzer Dampfer zog langsam südwärts. Er beobachtete ganz mechanisch, daß der Dampfer plötzlich zwischen einer Astgabel stehen blieb und sich nicht mehr rührte.

Hobby setzte sich wieder und eine lange Zeit waren sie ganz still. Der Wind blies durch das Zimmer und schüttelte das Laub von den Bäumen. Über die Dünen und das Meer liefen rasche Wolkenschatten hintereinander und erweckten ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und ewig neuer Qual.

Dann begann Hobby wieder zu sprechen.

»So ist es zuweilen mit meinem Kopf,« sagte er, »siehst du? Ich weiß natürlich alles, was geschehen ist. Aber manchmal verwirren sich meine Gedanken. Maud, die arme Maud! Hast du übrigens gehört, daß Doktor Herz in die Luft geflogen ist? Mit seinem ganzen Laboratorium. Er hat ein großes Loch in die Straße gerissen und dreizehn Menschen mitgenommen.«

Doktor Herz war ein Chemiker, der an Sprengstoffen für den Tunnel arbeitete. Allan hatte die Nachricht schon auf dem Dampfer erhalten.

»Es ist zu schade,« fügte Hobby hinzu, »diese neue Sache, die er da hatte, muß sicher gut gewesen sein.« Und er lächelte grausam. »Zu schade!«

Allan brachte hierauf das Gespräch auf Hobbys Schäferhund und eine Zeitlang folgte Hobby. Dann sprang er wieder ab.

»Was für ein süßes Mädchen Maud doch war!« sagte er unvermittelt. »Ein Kind! Und doch tat sie immer, als sei sie klüger als alle Menschen. Sie war in den letzten Jahren nicht sehr zufrieden mit dir.«

Allan streichelte, in Gedanken versunken, Hobbys Hund.

»Ich weiß es, Hobby,« sagte er.

»Ja, sie klagte zuweilen, daß du sie so allein hier sitzen 278 ließest. Nun, ich sagte ihr: sieh, Maud, es geht nicht anders. Einmal haben wir uns auch geküßt. Ich weiß es wie heute. Zuerst spielten wir Tennis und dann fragte Maud alle möglichen Dinge. Gott, wie deutlich ich ihre Stimme jetzt höre! Sie sagte ›Frank‹ zu mir . . .«

Allan starrte Hobby an. Aber er fragte nichts. Hobby sah in die Ferne und sein Blick war erschreckend glänzend.

Nach einer Weile erhob sich Allan, um zu gehen. Hobby begleitete ihn bis zur Gartentür.

»Nun, Hobby,« sagte Allan, »willst du nicht mit mir kommen?«

»Wohin?«

»In den Tunnel.« Da verfärbte sich Hobby und seine Wangen zitterten.

»Nein – nein . . .« erwiderte er mit einem scheuen, unsicheren Blick. Und Allan, der seine Frage bereute, sah, daß Hobby am ganzen Körper zitterte.

»Adieu, Hobby, morgen komme ich wieder!«

Hobby stand unter der Gartentür, den Kopf leicht geneigt, fahl, mit kranken Augen, und der Wind spielte mit seinen weißen Haaren. Gelbe, dürre Eichenblätter wirbelten um seine Füße. Als der Hund Allan wütend nachbellte, lachte Hobby – ein krankes, kindisches Lachen, das Allan noch am Abend in den Ohren klingen hörte.

Schon in den nächsten Tagen trat Allan wieder mit der Arbeiter-Union in Verbindung. Er hatte das Empfinden, als ob man jetzt zu einer Verständigung geneigter sei. In Wirklichkeit konnte die Union die Sperre über den Tunnel nicht länger aufrecht erhalten. Die »Farmhands« kamen mit dem Eintritt des Winters zu Tausenden vom Westen und suchten Beschäftigung. Die Union hatte im vorigen Winter ungeheure Summen für Arbeitslose ausgeschüttet und dieser Winter würde sie noch teurer zu stehen kommen. 279 Seit die Arbeit im Tunnel still stand, war auch die Beschäftigung in den Bergwerken, Eisenhütten und Maschinenfabriken unerhört zurückgegangen und ein Heer von Menschen war auf die Straße geworfen worden. Die Löhne sanken infolge des großen Angebots von Arbeitskräften, so daß selbst die Beschäftigten nur ein karges Auskommen fanden.

Die Union berief Meetings und Versammlungen ein, und Allan sprach in New York, Cincinnati, Chicago, Pittsburg und Buffalo. Er war zäh und unermüdlich. Seine Stimme rauschte wie ehedem durch den Brustkorb und seine Faust sauste gewaltig durch die Luft, während er sprach. Nun, da sich seine elastische Natur wieder aufgerichtet hatte, schien auch jene alte Macht wieder von ihm auszuströmen wie früher. Die Presse hallte wider von seinem Namen.

Seine Sache stand günstig. Allan hoffte die Arbeit im November, spätestens Dezember wieder aufnehmen zu können.

Da aber zog sich – für Allan ganz unerwartet – ein zweites Ungewitter über dem Syndikat zusammen. Ein Ungewitter, das weitaus verheerendere Folgen haben sollte als die Oktober-Katastrophe.

Durch den finanziellen Riesenbau des Syndikats ging ein böses Knistern . . .

 


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