Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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8.

S. Woolf wurde zwei Minuten vor sechs Uhr von den Rädern der Subway zermalmt und eine halbe Stunde später war ganz New York schon erfüllt von erregtem Geschrei.

»Extra! Extra! Here you are! Hýa! Hýa! All about suicide of Banker Woolf! All about Woolf!«

Die Zeitungsverkäufer rasten wie wilde Pferde dahin, und die Straßen, die Woolf heute durchwandert hatte, hallten wider von seinem Namen.

»Woolf! Woolf! Woolf!«

»Woolf in drei Teile geschnitten!«

»Der Tunnel verschlingt Woolf!«

»Woolf! Woolf! Woolf!« Jedermann hatte hundertmal seinen 60 PS-Wagen den Broadway entlangrollen sehen, mit dem silbernen Drachen, der wie ein Ozeandampfer brummte. Jedermann kannte seinen zottigen Büffelschädel. S. Woolf war ein Teil von New York und nun war er tot! S. Woolf, der das größte Vermögen verwaltete, das je ein Mensch unter sich hatte! Die dem Syndikat günstig gesinnten Blätter schrieben: »Unglücksfall oder Selbstmord?« Die feindlichen: »Erst Rasmussen! – Jetzt Woolf!!«

»Woolf, Woolf, Woolf!« Die Zeitungsboys bellten den 313 Namen hinaus und stießen Rauchwolken in die neblige Straße. Es hörte sich an wie das heisere Heulen von Wölfen, die ihre Beute zerfleischen.

Allan erfuhr Woolfs schrecklichen Tod fünf Minuten nach dem Vorfall. Ein Detektiv sprach ihn durchs Telephon.

Verstört, unfähig zu arbeiten ging er in seinem Arbeitsraum hin und her. Die Straßen waren angefüllt mit Nebel und nur die Wolkenkratzer ragten über das Nebelmeer hinaus, von der sinkenden Sonne düster beleuchtet. New York tobte und heulte in der Tiefe: der Skandal war im Gang! Erst nach geraumer Zeit war es ihm möglich, mit dem Chef des Pressebüros und dem interimistischen Leiter des finanziellen Ressorts beraten zu können. Die ganze Nacht hindurch verfolgte ihn der letzte Eindruck Woolfs, wie er leichenfarben, nach Atem ringend, im Sessel lag . . .

»Es ist der Tunnel!« sagte Allan zu sich. Er fühlte sich von Drohung und Unglück umringt und fröstelte. Er sah eine hoffnungslose Zeit kommen. »Nun wird es Jahre dauern –!« dachte er und wanderte schlaflos auf und ab.

Der Tod Woolfs hielt Tausende in dieser Nacht wach. Als Rasmussen sich erschoß, war man nervös geworden, Woolfs Tod aber erschreckte die ganze Welt. Das Syndikat wankte! Alle großen Banken der Welt waren mit Milliarden am Tunnel beteiligt, die Industrie mit Milliarden, das Volk, bis herab zu den Zeitungsverkäufern, mit Milliarden. Die Erregung fieberte von San Franzisko bis Petersburg, von Sidney bis Kapstadt. Die Presse aller Kontinente schürte die Besorgnis. Die Papiere des Syndikats fielen nicht, sie stürzten! Woolfs Tod war der Beginn des »großen Erdbebens«.

Die einberufene Versammlung der Großaktionäre des Syndikats dauerte zwölf Stunden und glich einer erbitterten, höllischen Schlacht, in der sich früher besonnene Menschen 314 zerfleischten. Das Syndikat hatte am 2. Januar Hunderte von Millionen Zinsen und Teilzahlungen zu entrichten, Riesensummen, für die keine genügende Deckung vorhanden war.

Die Versammlung veröffentlichte ein Communiqué, worin sie erklärte, daß die finanzielle Situation momentan wenig günstig sei, die Hoffnung einer Sanierung aber nicht von der Hand gewiesen werden könne. Dieses Communiqué enthielt in notdürftig verschleierter Form die ganze fatale Wahrheit.

Am nächsten Tage konnte man Zehn-Dollar-Shares für einen Dollar kaufen. Ein Heer von Privatpersonen, vor Jahren von der allgemeinen Spekulationswut fortgerissen, war ruiniert. Über ein Dutzend Opfer forderte dieser erste Tag. Die Banken wurden gestürmt. Nicht nur jene, deren hohe Beteiligung am Syndikat bekannt war, auch viele, die gar nichts damit zu tun hatten, wurden vom Morgen bis zum Abend belagert und die Kunden hoben ihre Einlagen ab. Eine ganze Reihe von Instituten sah sich gezwungen, die Schalter zu schließen, da die Barmittel erschöpft waren. Die Krise von 1907 war ein Scherz gegen diese. Einige kleine Bankhäuser krachten schon beim ersten Ansturm zusammen. Aber selbst die Großbanken erzitterten von unten bis oben in der Brandung, die gegen sie anlief. Vergebens versuchten sie die Öffentlichkeit durch Bekanntmachungen zu beruhigen. New York City-Bank, Morgan Co., Lloyd, American zahlten im Laufe von drei Tagen Summen von schwindelnder Höhe aus. Die Telegraphisten sanken um vor Erschöpfung. Die Bankpaläste waren die ganze Nacht taghell erleuchtet, Direktoren, Kassierer, Sekretäre kamen tagelang nicht aus den Kleidern. Das Geld wurde immer teurer. Hatte die Panik von 1907 den Zinsfuß für tägliches Geld auf 80 bis 130 Prozent getrieben, 315 so kostete es heute 100 bis 180 Prozent! Es war zuweilen überhaupt unmöglich, tausend Dollar zu leihen. »New York City« wurde von Gould gehalten, Lloyds Bank verteidigte sich selbst bis aufs Messer, American erhielt Unterstützungen von der Bank of London. Abgesehen von dieser Bank war kein Cent von europäischen Banken zu erhalten: diese Banken setzten sich selbst in fieberhafter Hast in Verteidigungszustand. An den Börsen von New York, Paris, London, Berlin, Wien trat eine beispiellose Deroute ein. Ein Heer von Firmen stellte die Zahlungen ein. Kein Tag verging ohne Bankerotte, kein Tag ohne Opfer. Woolfs Todesart wurde epidemisch, täglich warfen sich Ruinierte vor die Räder der Subway. Der Finanzkörper von fünf Erdteilen hatte eine klaffende Wunde erhalten und drohte sich zu verbluten. Handel, Verkehr, Industrie, die große Maschine der modernen Welt, die mit Milliarden geheizt wird und Milliarden ausspeit, schwang nur noch langsam und mühselig, so daß es den Anschein hatte, als werde sie plötzlich, jede Stunde, ganz stehen bleiben.

Die Tunnel-Terrain-Gesellschaft, die sich mit dem Kauf und Verkauf von Baugeländen der Tunnelstationen befaßte, krachte über Nacht zusammen und erschlug Ungezählte.

Die Zeitungen waren in diesen Tagen Schlachtberichte.

»Der Tunnel verschlingt mehr und mehr!«

»Mr. Harry Stillwell, Bankier, Chikago, erschießt sich. – Broker Williamson, 26. Straße, ruiniert, vergiftet sich und seine Familie. – Fabrikant Klepstedt, Hoboken, wirft sich unter die Subway.« – Die Nachricht, daß sich der alte Jakob Wolfsohn in Szentes erhängte, verhallte vollkommen unbeachtet.

Es war die Panik! Sie sprang über nach Frankreich, England, Deutschland, Österreich und Rußland. Deutschland wurde zuerst von ihr ergriffen und war innerhalb einer Woche, wie die Vereinigten Staaten, in Unruhe, Angst und Schrecken getaucht. 316

Die Industrie, die sich kaum von den Folgen der Oktoberkatastrophe erholt hatte, geriet auf Grund. Ihre Papiere, vom Tunnel zu unerhörter Blüte getrieben – Eisen, Stahl, Zement, Kupfer, Kabel, Maschinen, Kohle – wurden von den stürzenden Tunnelaktien mit in die Tiefe gerissen. Die Kohlenkönige und Hüttenbarone hatten am Tunnel enorme Vermögen verdient, nun aber wollten sie keinen roten Heller riskieren. Sie setzten die Löhne herab, führten Feierschichten ein und warfen Tausende von Arbeitern auf die Straße. Die Beschäftigten erklärten sich mit den Kameraden solidarisch. Sie traten in Ausstand, gesonnen, diesmal bis zum letzten Atemzug zu kämpfen und sich nicht wieder durch Versprechungen verlocken zu lassen, die diese Meineidigen brachen, sobald die Sonne wieder schien. Waren die Zeiten gut, so waren sie gut genug, die Millionen vermehren zu helfen, waren die Zeiten schlecht, so warf man sie hinaus. Sollten die Zechen ersaufen und die Hochöfen verschlacken!

Der Streik begann wie jeder andere. Er entflammte in den Becken von Lille, Clermond-Ferrand und St. Etienne, wälzte sich hinüber ins Mosel-, Saar- und Ruhrgebiet und nach Schlesien. Die englischen Bergarbeiter und Hüttenleute von Yorkshire, Northumberland, Durham und Südwales erklärten den Sympathiestreik. Kanada und die Staaten schlossen sich an. Der gespenstische Funke sprang über die Alpen nach Italien und über die Pyrenäen nach Spanien. Tausende der blutroten und leichengelben Fabriken aller Länder standen still. Ganze Städte waren tot. Die Hochöfen wurden gelöscht, die Grubenpferde aus den Schächten gebracht. Die Dampfer lagen in ganzen Flotten, Schlot an Schlot, in den Friedhöfen der Häfen. Jeder Tag kostete Unsummen. Aber da die Panik auch den übrigen Industrien das Geld entzog, so schwoll das Millionenheer der Arbeitslosen von Tag zu Tag mehr an. Die 317 Lage wurde kritisch. Eisenbahnen, elektrische Kraftzentralen, Gasanstalten waren ohne Kohle. In Amerika und Europa lief nicht ein Zehntel der Züge mehr und der atlantische Dampferverkehr war fast gänzlich unterbunden.

Es kam zu Ausschreitungen. In Westfalen prasselten die Maschinengewehre und in London lieferten die Dockarbeiter der Polizei eine blutige Schlacht. Das war am 8. Dezember. Die Straßen bei den West India Docks waren an diesem Abend mit Toten, Arbeitern sowie Polizisten bedeckt. Am 10. Dezember erklärte die englische Arbeiter-Union den Generalstreik. Die französische, deutsche, russische und italienische folgten und zuletzt schloß sich die amerikanische Union an.

Das war der moderne Krieg. Nicht kleine Vorpostengefechte, es war die Schlacht in vollem Umfang! In geschlossenen Fronten standen sich Arbeiter und Kapital gegenüber.

Schon nach wenigen Tagen zeigten sich die Schrecken dieses Kampfes. Die statistischen Ziffern der Verbrechen, der Kinder- und Säuglingssterblichkeit stiegen ins Grauenhafte. Die Nahrung für Millionen von Menschen verfaulte und verdarb in Eisenbahnwaggons und Schiffsbäuchen. Die Regierungen nahmen das Militär zu Hilfe. Aber die Truppen, aus Proletariern zusammengesetzt, leisteten passiven Widerstand, sie arbeiteten und kamen nicht von der Stelle, und das war nicht die Zeit zu strengen Repressalien. Gegen Weihnachten waren die großen Städte, Chicago, New York, London, Paris, Berlin, Hamburg, Wien, Petersburg, vollkommen ohne Licht und in Gefahr, ausgehungert zu werden. Die Menschen froren in den Wohnungen und was schwach und elend war ging zugrunde. Täglich gab es Feuersbrünste, Plünderungen, Sabotage, Diebstähle. Das Gespenst der Revolution drohte . . . 318

Die internationale Arbeiterliga aber gab keinen Fuß breit nach und forderte Gesetze, die den Arbeiter vor der Willkür des Kapitals schützten.

Inmitten dieser Unruhen und Schrecken stand das Tunnelsyndikat immer noch aufrecht. Es war ein Wrack, durchlöchert, krachend in allen Fugen, aber es stand!

Das war Lloyds Werk. Lloyd hatte eine Versammlung der Großgläubiger einberufen und war persönlich erschienen, um zu sprechen, was er seit zwanzig Jahren wegen seines Leidens nicht mehr getan hatte. Das Syndikat durfte nicht fallen! Die Zeiten waren verzweifelt und der Fall des Syndikats würde namenloses Unheil in die Welt bringen. Der Tunnel sei zu retten, wenn man weise vorgehe! Würde man jetzt einen taktischen Fehler machen, so sei sein Schicksal entschieden, ein für allemal, und die Entwicklung der Industrie würde um zwanzig Jahre zurückgeworfen werden. Der Generalstreik könne keine drei Wochen mehr dauern, da die Arbeiterheere am Hungertod seien, das Geld käme zurück, die Krise würde im Frühjahr ein Ende haben. Es müßten Opfer gebracht werden. Die Großgläubiger müßten stunden, Geld vorschießen. Die Aktionäre und Shareinhaber aber müßten am 2. Januar ihre Zinsen bei Heller und Pfennig ausgezahlt erhalten, wollte man nicht eine zweite Panik heraufbeschwören.

Lloyd selbst brachte als erster große Opfer. So gelang es ihm, das Syndikat zu halten.

Diese Beratung war geheim. Die Zeitungen verkündeten am anderen Tag, daß die Sanierung des Syndikats in die Wege geleitet sei und die Gesellschaft am 2. Januar wie immer ihren Verpflichtungen gegen Aktionäre und Shareinhaber nachkommen würde.

Der berühmte 2. Januar kam heran. 319

 


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