Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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6.

Maud hielt Wort, aber es wurde ihr nicht leicht.

Sie beklagte sich nicht mehr, wenn Mac am Sonntag ausblieb oder so viele Arbeit mitbrachte, daß er ihr kaum eine Minute widmen konnte. Mac hatte eine 134 übermenschliche Arbeit übernommen, das wußte sie, eine Arbeit, die andere vollkommen verzehrt haben würde, und es war ihre Sache, ihm dazu nicht noch eine weitere Bürde aufzuladen. Im Gegenteil, sie mußte versuchen, ihm die wenigen Feierstunden so schön wie möglich zu gestalten.

So war sie heiter und guter Dinge, so oft er zu ihr kam, und verriet mit keinem Wort, daß sie sich all die Tage lang unsinnig nach ihm verzehrt hatte. Und merkwürdig – er, Mac, fragte nicht danach, es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß sie leiden könnte.

Der Sommer kam, der Herbst, Bronx Park bekam gelbe Blätter und aus den Wipfeln vor dem Haus fiel das Laub in Bündeln herab, ohne daß ein Windstoß es berührte.

Mac fragte sie, ob sie nicht etwa nach Tunnel-City übersiedeln wolle? Sie verbarg ihr Erstaunen. Ja, er habe wöchentlich ein paarmal dort zu tun und beabsichtige für die Sonntagvormittage eine Art Audienzstunde einzurichten, in der jedermann, Ingenieur wie Arbeiter, ihm seine Wünsche und Beschwerden vortragen könne.

»Wenn du es wünschst, Mac?«

»Ich denke wohl, es wäre das beste, Maud. An und für sich will ich ja meine Bureaus nach Tunnel-City verlegen, sobald es angeht. Freilich fürchte ich, daß es etwas einsam für dich sein wird –?«

»Es wird nicht schlimmer sein als in Bronx, Mac,« antwortete Maud lächelnd.

Die Übersiedlung sollte im Frühjahr stattfinden. Aber während Maud die Vorbereitungen traf, hielt sie oft inne und dachte: ›Mein Gott, was soll ich in dieser Zementwüste anfangen?‹

Sie mußte etwas beginnen, etwas, das sie beschäftigte und die törichten Gedanken und Träumereien vertrieb.

Schließlich hatte sie eine wundervolle Idee und sie machte 135 sich voller Eifer an ihre Verwirklichung. Diese Idee belebte sie, und ihre Laune war so heiter und ihr Lächeln so geheimnisvoll, daß es sogar Mac auffiel.

Maud ergötzte sich eine Weile an Macs Neugierde, dann aber konnte sie ihr Geheimnis nicht mehr länger bei sich behalten. Ja, die Sache sei die: sie müsse etwas zu tun haben, eine solide Beschäftigung, eine richtige Arbeit. Keine bloße Spielerei. Nun sei sie auf den Gedanken gekommen, im Hospital von Tunnel-City zu arbeiten. »Untersteh' dich nicht zu lächeln, Mac!« Ja. Es sei ihr ernst damit. Sie habe übrigens schon den Kursus begonnen. In der Kinderklinik von Dr. Wassermann.

Mac wurde nachdenklich.

»Hast du wirklich schon angefangen damit, Maud?« fragte er, immer noch ungläubig.

»Ja, Mac, vor vier Wochen. Wenn ich nun im Frühjahr nach Tunnel-City komme, so habe ich eine Beschäftigung. Anders geht es nicht mehr.«

Nun aber war Mac ganz Verblüffung, Nachdenklichkeit und Ernst. Er blinzelte vor Überraschung und fand nicht sogleich die Sprache wieder. Maud amüsierte sich ganz großartig! Dann nickte er ein paarmal mit dem Kopf. »Vielleicht ist es ganz gut, wenn du etwas arbeitest, Maud!« sagte er breit und nachdenklich. »Ob es aber gerade das Hospital sein muß –?« Plötzlich aber lachte er belustigt auf. Er sah seine kleine Maud im Kostüm einer Krankenpflegerin vor sich. »Verlangst du eine hohe Gage?« Maud aber ärgerte sich ein wenig über sein harmloses Lachen.

Er nahm ihren Plan für eine Laune, eine Spielerei. Er zweifelte an ihrer Ausdauer. Er begriff gar nicht, daß es für sie eine Notwendigkeit geworden war, zu arbeiten. Es kränkte sie, daß er sich so geringe Mühe gab, sie zu verstehen. 136

›Früher kränkte mich so etwas ganz und gar nicht,‹ dachte sie am folgenden Tag. ›Demnach muß ich anders geworden sein.‹ Und Maud, die sich Tag und Nacht quälte, aus dem einfachen Grunde, weil sie die Gewißheit ihres Glückes verloren hatte, fing an zu verstehen, daß eine Frau mehr wünscht als Liebe und Anbetung.

Am Abend war sie allein, es regnete herrlich und frisch draußen und sie machte Eintragungen in ihr Journal.

Sie notierte einige Aussprüche der kleinen Edith, die deutlich die naive Grausamkeit und den kindlichen Egoismus ihres vergötterten Töchterchens verrieten. Eigenschaften, die allen Kindern eigen sind, was Maud nicht vergaß hinzuzufügen. Dann spann sie ihre Gedanken weiter aus: »Es scheint mir,« schrieb sie, »daß nur Mütter und Gattinnen wahrhaft selbstlos sein können. Kindern und Männern ist diese Eigenschaft nicht gegeben. Die Männer haben vor den Kindern nur das eine voraus: sie sind selbstlos und aufopferungsvoll in kleinen, äußerlichen, ich möchte sagen, unwesentlichen Dingen. Ihre tiefsten und wesentlichen Regungen und Wünsche werden sie aber nie zugunsten einer geliebten Person aufgeben. Mac ist ein Mann und ein Egoist wie alle Männer, ich kann ihm diesen Vorwurf nicht ersparen, obgleich ich ihn von ganzem Herzen liebe.«

Sie überzeugte sich, daß Edith schlief, nahm einen Schal und trat auf die Veranda. Hier setzte sie sich in einen Korbsessel und lauschte dem Rauschen des Regens. Im Südwesten stand eine düstere Feuersbrunst: New York.

Als sie in ihr Schlafzimmer gehen wollte, fiel ihr Blick auf das aufgeschlagene Buch am Schreibtisch. Sie las ihr Aperçu, und während sie vorhin im Grunde ihres Herzens sogar ein wenig stolz gewesen war auf all ihre Weisheit, schüttelte sie jetzt den Kopf und schrieb darunter: »Eine Stunde später, nachdem ich dem Rauschen des Regens 137 gelauscht habe. Mache ich Mac nicht ungerechte Vorwürfe? Bin nicht ich es, die egoistisch ist? Verlangt Mac etwas von mir? Oder verlange nicht ich von Mac, daß er Opfer bringt? Ich glaube, daß alles, was ich vorher geschrieben habe, kompletter Nonsens ist. Heute kann ich das Rechte nicht mehr finden. Schön rauscht der Regen. Er gibt Frieden und Schlaf. – Maud, Macs kleiner Narr.« 138

 


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