Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8.

Zehn Minuten nach dieser Sitzung spielte der Telegraph nach New Jersey, Frankreich, Spanien, den Bermudas und Azoren. Eine Stunde später hatten Allans Agenten für fünfundzwanzig Millionen Dollar Ländereien aufgekauft.

Diese Ländereien befanden sich in der für den Tunnelbau denkbar günstigsten Lage; Allan hatte sie schon vor Jahren ausgewählt. Sie bestanden aus dem schlechtesten und billigsten Boden: Dünen, Heiden, Moräste, kahle Inseln, 68 Riffe, Sandbänke. Der Preis von fünfundzwanzig Millionen Dollar war ein Spottgeld, wenn man bedenkt, daß die Ländereien zusammen das Gebiet eines Herzogtums umfaßten. Einbegriffen war ein ausgedehnter, tiefer Komplex in Hoboken, der mit einer Front von zweihundert Metern an den Hudson stieß. Die aufgekauften Gebiete lagen alle entfernt von größeren Städten, denn Allan brauchte diese Städte nicht. Seine Heiden und Dünen waren berufen, in Zukunft selbst Städte zu tragen, die die Umgebung verschlangen.

Während die Welt noch schlief, flogen Allans Telegramme durch die Kabel und durch die Luft und überrumpelten sämtliche Börsen der Welt. Und am Morgen erbebte New York, Chikago, Amerika, Europa, die ganze Welt, bei dem Wort: »Atlantic-Tunnel-Syndikat«.

Die Zeitungspaläste waren die ganze Nacht tageshell erleuchtet. Die Rotationspressen der Druckereien arbeiteten mit ihrer größten Geschwindigkeit. Herald, Sun, World, Journal, Telegraph, all die in New York erscheinenden englischen, deutschen, französischen, italienischen, spanischen, yiddischen, russischen Zeitungen hatten erhöhte Auflagen gedruckt, und Millionen von Zeitungsblättern gingen mit dem erwachenden Tag über New York nieder. In den sausenden Aufzügen, auf den rollenden Trottoiren und kletternden Treppen der Hochbahnstationen, auf den Perrons der Subway, wo sich der allmorgendliche Kampf um einen Platz in den vollgestopften Waggons abspielte, auf den Hunderten von Ferrybooten und in den Tausenden von elektrischen Cars – von der Battery angefangen bis hinauf zur zweihundertsten Straße wurden förmliche Schlachten um die nassen Zeitungen geschlagen. In allen Straßen stiegen Fontänen von Extrablättern über Menschenknäuel und ausgestreckte Hände empor. 69

Die Nachricht war sensationell, unerhört, kaum faßbar, kühn!

Mac Allan! – Wer war er, was hatte er getan, woher kam er? Wer war der Bursche, der über Nacht vor die Front der unbekannten Millionen trat?

Einerlei, wer er war! Er hatte es fertiggebracht, das Tag um Tag gleichmäßig dahinsausende New York aus den Geleisen zu werfen.

Die Augen saugten sich fest an den Ansichten prominenter Persönlichkeiten, die ihre Meinung über den Tunnel im Telegrammstil veröffentlichten:

C. H. Lloyd: »Europa wird ein Vorort Amerikas werden.«

Der Tabakmann H. F. Herbst: »Du kannst einen Waggon Waren von New Orleans nach St. Petersburg schicken, ohne umladen zu müssen.«

Der Multimillionär H. J. Bell: »Ich werde meine Tochter, die in Paris verheiratet ist, anstatt dreimal im Jahr, zwölfmal sehen können.«

Verkehrsminister de la Forest: »Der Tunnel bedeutet für jeden Geschäftsmann ein geschenktes Lebensjahr an ersparter Zeit.«

Man verlangte ausführliche Nachrichten und man hatte ein Recht, sie zu verlangen. Vor den Zeitungspalästen stauten sich die Menschen, so daß die Führer der elektrischen Wagen mit den Stiefeln auf den Glockenknopf hämmern mußten, um ihre Trains durchschieben zu können. Stundenlang waren die Augen des kompakten Menschenblocks auf die Projektionsfläche im zweiten Stock des »Heraldbuildings« gerichtet, obgleich seit Stunden die gleichen Bilder erschienen: Mac Allan, Hobby, die Gesellschaft auf dem Dachgarten.

»Sieben Milliarden sind vertreten!!« »Mac Allan 70 verkündet sein Projekt.« (Kinematographisch). »Mrs. Brown zeichnet 10 Millionen.« (Kinematographisch). »C. H. Smith wird aus dem Lift gezerrt.«

»Wir sind die einzigen, die Vanderstyffts Ankunft auf dem Roofgarden bis zur unmittelbaren Landung zeigen können. Unser Photograph wurde von der Maschine niedergerissen.« (Kinematographisch). New Yorks weiße, mit Fenstern punktierte Wolkenkratzer, aus denen dünner, weißer Dampf steigt. Ein weißer Schmetterling erscheint, ein Vogel, eine Möwe, ein Monoplan! Der Monoplan saust über den Roofgarden hinweg, beschreibt eine Kurve, kommt zurück, senkt sich, ein Riesenflügel schwenkt heran. Schluß. Ein Porträt: Mr. C. G. Spinnaway, unser Photograph, den Vanderstyffts Maschine zu Boden schleuderte und schwer verletzte.

Neueste Aufnahme: Mac Allan verabschiedet sich in Bronx von seiner Frau und seinem Kind, um in die Office zu fahren.

Und wieder beginnt dieselbe Serie von Bildern.

Plötzlich – gegen elf Uhr – stockt die Serie. Etwas Neues?! Alle Gesichter sind nach oben gerichtet.

Ein Porträt: Mr. Hunter, Broker, 37. Straße 212 East, buchte soeben sein Billett für die erste Fahrt New  York–Europa.

Die Menge lacht, schwingt die Hüte, schreit!

Die Telephonämter waren überarbeitet, die Telegraphen und Kabel konnten die Arbeit nicht mehr bewältigen. In all den Tausenden von Bureaus New Yorks riß man den Hörer vom Apparat, um mit Verbündeten die Lage zu besprechen. Ganz Manhattan fieberte! Die Zigarre im Mund, den steifen Hut im Nacken, in Hemdärmeln, schweißtriefend, saß und stand man und schrie und gestikulierte. Bankiers, Broker, Agenten, Clerks. Offerten ausarbeiten! 71 Es galt, seine Stellung einzunehmen, so rasch, so günstig wie möglich! Eine Riesenkampagne stand bevor, eine Völkerschlacht des Kapitals, bei der man niedergeritten wurde, wenn man sich umsah. Wer würde das Riesenunternehmen finanzieren? Wie würde es geschehen? Lloyd? Wer sagt Lloyd? Wittersteiner? Wer wußte etwas? Wer war dieser Teufel Mac Allan, der für fünfundzwanzig Millionen Ländereien über Nacht aufkaufte, deren Bodenwert sich verdreifachen, verfünffachen, – wie sagst du! – verhundertfachen mußte?

Am erregtesten ging es in den vornehmen Geschäftsräumen der großen transatlantischen Schiffahrtskompanien zu. Mac Allan war der Mörder des transatlantischen Passagierverkehrs! Sobald sein Tunnel fertig war – und es war ja recht wohl möglich, daß er eines Tages fertig sein würde! – konnte man die viermalhunderttausend Tonnen, die man schwimmen hatte, einschmelzen lassen. Man konnte in Luxusschiffen Reisende zu Zwischendeckpreisen befördern, man konnte die Kähne in schwimmende Sanatorien für Lungenkranke umbauen oder sie nach Afrika zu den Schwarzen schicken. Innerhalb von zwei Stunden hatte sich ein Anti-Tunnel-Trust zusammentelephoniert und ‑telegraphiert, der eine Interpellation an die verschiedenen Regierungen entwarf.

Von New York aus verbreitete sich die Erregung über Chikago, Buffalo, Pittsburg, St. Louis, San Franzisko, während das Tunnelfieber drüben in Europa London, Paris, Berlin zu ergreifen begann.

New York flimmerte und glitzerte in der Mittagshitze und als sich die Leute wieder auf die Straße wagten, donnerten ihnen von allen Straßenecken riesenhafte Plakate entgegen: »Hunderttausend Arbeiter!«

Endlich erfuhr man nun auch den Sitz des Syndikats: 72 Broadway-Wallstreet. Hier stand ein blendendweißes, halbfertiges Turmgebäude, dessen zweiunddreißig Etagen noch von Handwerkern wimmelten.

Schon eine halbe Stunde, nachdem das Riesenplakat New York überschwemmt hatte, drängten sich auf den mit kalkbespritzten Brettern belegten Granitstufen des Syndikatgebäudes Scharen von Arbeitsuchenden zusammen, und das gesamte Heer der Arbeitslosen, das zu jeder Zeit gegen Fünfzigtausend beträgt, wälzte sich durch hundert Straßen nach Downtown. In den Parterreräumen, wo noch Leitern, Böcke und Farbkübel herumstanden, stießen sie auf Allans Agenten – kalte, erfahrene Burschen mit dem raschen Blick von Sklavenhändlern. Sie sahen durch die Kleider hindurch das Knochengerüst ihres Mannes, seine Muskeln und Sehnen. An der Stellung der Schultern, an der Beuge der Arme erkannten sie seine Kraft. Eine Pose, Schminke und gefärbte Haare, waren vor ihren Augen sinnlos. Was grau war und schwächlich, was die mörderische Arbeit New Yorks schon ausgesogen hatte, das ließen sie liegen. Und ob sie auch Hunderte von Menschen in wenigen Stunden sahen – wehe, wenn einer einen zweiten Versuch machte: ihn traf ein eiskalter Blick, daß ihm das Rückenmark gefror, und der Agent sah ihn hierauf überhaupt nicht mehr.

 


 << zurück weiter >>