Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am andern Morgen stand Friede Schmahl wie gewöhnlich, früh auf. Um sechs war er mit seinen Pferden fertig und heute, am Sonntag, wurde nicht gearbeitet. Er ging ins Haus, trank Kaffee und sprach mit dem Vater, der in Hemdsärmeln, die blaue Drillichhose um die dürren Lenden vom Riemen gehalten, seine Pfeife rauchend am Tisch saß.
»Dä Wind is rum … wi warn wull Rejen kregen!«
Der Alte blickte zum offenen Fenster hinaus, hinauf zu den großen, weißen Wolken, am blauen Firmament, die zwischen den Kronen der Obstbäume im Vorgarten sichtbar wurden.
Da ließ sich die Großmutter vernehmen:
»Dat ward 'n Unwetter hüt … mine Astern hebben ihre Keppe noch gor nich uffmokt … un mi het dröömt …«
Was sie sagen wollte, verlor sich, wie oft, wenn sie redete, in unverständliches Raunen.
»Na, wat hat Ji denn dröömt, Großmudder?«
Die alte Frau, schon nahe an die Achtzig, sah den Enkel aus ihren Augen, die einen Schein, wie trübes, blasses Glas hatten, groß und in ihrer Erinnerung suchend an. Dann schüttelte sie den Kopf und erhob sich von der Fensterbank, wo sie gesessen hatte. Sie stellte Schmalz und Brot in den alten Schrank aus rotgestrichenem Fichtenholz und so, abgewendet von Vater und Sohn wiederholte sie, murmelnd:
»Mine Astern hebben hüt nich de Keppe uffmakt …«
Da ging Friede achselzuckend hinaus, und der Vater folgte ihm.
An der Luke des Heubodens, der über den Ställen lag, lehnte die große Leiter schräg, und an ihr hing, mit dem Kopf in den obersten Sprossen eingebunden, der Hirsch. Jetzt im hellen Morgenschein gewahrte man erst recht die Massigkeit des schwärzlich roten Rumpfes, dessen starke Halsmähne weit dunkler war. Das kolossale Geweih prahlte über beide Holme der Leiter weg, und des Jägers Auge hing mit Entzücken an den klobigen Stangen, die in der Form einer Lyra sich breitend, mit den langen, schöngeschwungenen Enden wohl den halben Rücken des Hirsches deckten.
Der Hirsch war aufgebrochen, bis in den Brustkorb aufgeschärft, über Nacht ausgekühlt und sollte noch heute zur Bahn gefahren werden. Ein Nachbar, der einen Weg dorthin hatte, würde ihn mitnehmen.
Jetzt hoben Vater und Sohn Schritt für Schritt die Leiter mit dem Wild von der Stallmauer fort, bis sie, mit Kraft gehalten, zuletzt platt am Boden lag. Der Sohn holte die Knochensäge und mit Liebe und Vorsicht schnitt er dem Waldrecken, den der Alte passend hielt, die Krone vom Haupt.
»Dree Zentner ward he wull hebben,« meinte der Alte, ihn zum Wagen ziehend, auf den Friede hinaufsprang um den Hirsch so wieder hochzulegen, »dat sünd all' wedder hundertföfftig Mark!«
»Un da redt Ji noch ümmer, ick soll nich jachten, Vadder!«
Der Alte zog an seiner Pfeife, deren verglimmenden Tabak er mit dem Daumen hinabdrückte in den Maserkopf.
»Kannst hernachens den Knullensetter (Kartoffelsetzer) utflicken, Friede!«
»Nä Vadder, ick gah furt.«
»Woll zu dat Wiewestück, die Schulzen Lene, wat?«
Friede antwortete nicht.
Da trat der Alte mit böser Miene vor ihn:
»West do die an Enne frigen?«
Der Sohn hielt den Blick aus, sein Auge drohte, wie das des Vaters:
»Un wenn ick dat dhei? Hebbt Ji mi wat to befählen? … Ick heirate, wen ick will! Dat markt Jug, Vadder!«
»Uff min Hoff kümmt sei nich, dat Dreckminsch!«
»So, is dat Eurer Hoff? … hebbt Ji den Hof mit upp de Welt bröcht? … Wie ick weet, hat dä Grotvadder den schon jehebbet … un der hat 'n Eich ieberjäben … Un, wenn ick ook zuns man ümmer stille bei bin un segge dat nich, wahr is doch, daß Ji nu all ook af künnt un in Uttrach gohn! … Ick bün all dörtig Johr olt, da wars nu doch wull balle Tid, dat ick mien Fäut unner 'n eejenen Tisch setten dhei!«
Der Alte lachte höhnisch:
»Ick gah lieberst hüt, wie morjen! Aberst nich, dat son Bankert in't Haus kümmt! Dat wull ick nich! Dor stimm' ick nich mit in! Wenn do dat dheist, denn vakööp ick 'n Hoff!«
»Wat, Ji vakööpt den Hof? Min Hof wullt Ji verkööpen?! … Vadder!!«
Aus Friede Schmahls Angesicht brüllte und bleekte das Tier: Er hob in seinem rasenden Zorn seine beiden Fäuste, daß der Alte zurückwich … Aber plötzlich ließ der Junge die Arme sinken und dem Vater nah und noch nähertretend, sodaß sein Gesicht fast an die ergrimmten Züge des Alten rührte, zischte er ihm ein Wort zu …
Da bog der Alte, wie von unsichtbarem Schlage getroffen, den Kopf nach hinten. Und wandte sich und ging ins Haus, ohne noch einmal nach dem Sohne umzuschauen.
Der blieb, in die Luft starrend, noch Minuten stehn. Dann ging er zum Hirsch, strich über das Geweih und schritt tiefaufseufzend davon. Durch die Fichten. Und hielt sich nach links zur Straße hin.
Die Luft war schwül und ruhig, von Zeit zu Zeit verschwand das Gestirn. Vom Dorf her kam der erste Klang der Sonntagsglocken. Und wie der Schall sich hob und in vollem Rhythmus hallte, da fielen die Kirchen rings umher ein, und ein Klingen und Singen war unter den im Blauen treibenden Wolken, als fragten und jubelten die Seelen derer, die nicht mehr waren, zu denen herunter, die noch auf Erden gingen.
Hinter dem großen Luch bog Friede Schmahl ab in die Fichten. Er ging schnell und lief fast, so eilig hatte er's, zu ihr zu kommen, die er doppelt liebte seit gestern … Würde er denn noch hier stehn, wenn sie nicht gewesen wäre? … Dann könnte der Vater wahrhaftig den Hof verkaufen oder ihn dem Saufaus geben, dem Albert, daß der ihn vertat und verliederte!
Die Lene wohnte nicht weit. Gleich hinter dem hohen Kiefernort, der das hier gegen das Rotwild abgegatterte Luch begrenzte, hatte der Waldarbeiter Schulz sein Häuschen … Doch waren weder Vater noch Tochter daheim. Nur der kleine gelbe Spitzhund riß bellend an der Kette.
»Sie sind in der Kirche,« dachte Friede Schmahl. Und da kam ihm zum erstenmal seit langer, langer Zeit der Gedanke: er sollte auch mal wieder ins Gotteshaus gehn … Aber er schüttelte, wie wenn ihn jemand wirklich darum angesprochen hätte, energisch den Kopf … Nein, er wollte nicht! Und freundlicher setzte sein trotziges Herz hinzu: »Die Lene kann für mich beten, wenn sie will.«
Er ging zurück und lauschte andächtig dem Gesange der Finken, die hier überall in den Bäumen waren. Und sah sich – er wußte nicht, warum – als Kind hier herumstreifen, auch damals schon meist allein und einschichtig … Damals schlugen die Finken auch so schön … Und wenn die andern sie fingen mit ihren Leimruten oder die Nester ausnahmen, konnte er rein rasend werden … Er wußte wohl, daß es hieß, daß er Tiere quäle. Aber das war eine niederträchtige Lüge! Nur wenn ihn einer, wie damals der alte Findler, zur Wut reizte – der Alte hatte ihn an die Ohren geschlagen, weil ihm der Friede eine kecke Antwort gab – dann wußte er nicht, was er dem andern antun sollte! Nachher hatten ihm die Ochsen ja auch leid getan, wie sie mit ihren vom brennenden Schwamm versengten Nüstern gegen Leiterbaum und Wagen rannten: aber was konnt' er noch tun? Der Alte hatte ihn, wie er's merkte, sowieso beinahe totgeschlagen … Und der Vater obendrein auch noch! … Ach, wenn er da gekonnt hätte! … Aber später dem Fiedler seine Scheune, die hatte er nicht angezündet! … Da war – er wußt es besser, denn er hatt' es mitangesehn – einer bei der Martha Findler Nachts unterm Fenster gewesen. Dann ließ sich das Mädel heraus, und sie schlichen beide in die Scheune … Eine Stunde später war alles das helle Feuer! … Das wußte Friede Schmahl. Er war der einzige, der's außer den Verliebten wußte. Aber er sagte nichts, wiewohl die Bauern heimlich auf ihn, als auf den Brandstifter zeigten. Ihm waren sie alle egal, er mochte keinen und, weil er ihnen so über die Maßen fern und fremd war in seinem Herzen, konnten sie seinetwegen reden, was sie wollten … Im Rücken, heißt das! … Ihm was ins Gesicht sagen, dazu waren sie zu feige.
Der still Wandernde lachte vor sich hin: nun hatte er doch eine, an die dachte er … immerzu … Aber er hatte schon mal eine gehabt … ja, die … die hatte er auch geküßt und war mit ihr gegangen, an die drei Jahre … die … die hatte ihn auch lieb gehabt …
Er stöhnte laut auf und strich mit der Hand über die starken Augenbrauen, als wollte er die bösen Bilder fortwischen, die auf einmal ringsum den Fichtenort verdunkelten. Dann reckte er die starken Arme mit geballten Fäusten zu beiden Seiten nach unten und schritt baß vorwärts. In seinem dunklen Angesicht war der unbeugsame Entschluß, die Schatten zu besiegen und das Glück, das ihm winkte, mit allen Kräften festzuhalten.