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VIII.

Staatsanwalt Herder hatte nicht die Art mancher seiner Kollegen, die ihre Tüchtigkeit mit der Menge der erhobenen Anklagen zu erweisen glauben. Für ihn war jede Anklage eine Gewissenssache, die nicht nur die genaueste Prüfung der kriminalistischen Sachlage, sondern vor allem eine tiefinnere Inaugenscheinnahme aller Seelengründe verlangte. Deshalb stand er dann, wenn er einen Menschen schuldig glaubte, auch wie ein Fels zu seinem Worte. Der Satz: »Lieber sollen zehn Schuldige frei ausgehen, ehe denn ein Unschuldiger leidet!« blieb ihm unbegreiflich. Daß Unschuld sühnen sollte, was sie nicht verbrochen, schien ihm Nonsens. Mit letzter Treue ging er allem nach, was den Verdächtigen entlasten konnte. Doch wenn die Wage das Böse nach unten sinken ließ, dann durfte es kein Zögern, kein Mitleid mehr geben! Dann verrammelte seine Logik dem Ausweichenden jeden Paß! Und seiner Anklage wuchsen tausend Krallen! … Es durfte nicht sein, daß der Rechtsbrecher frei ausging! Um seinetwillen und viel mehr noch um der Gesamtheit willen, die aus der straflos gebliebenen Niedertracht tausendfältigen Anreiz zu neuer Freveltat schöpfen mußte!

So erregte ihn der Fall des Friede Schmahl mächtig.

Denn hier trat eine Aufgabe vor ihn, nach deren Lösung das verletzte Recht lauter denn jemals schrie! Hier stand die Moral einer ganzen Gegend auf dem Spiele.

Ein Mord, noch so gemein, aus den erbärmlichsten Triebfedern der Habsucht und Gier hervorgegangen, grauenvoll, blutig und befleckt mit aller Rohheit, deren die menschliche Bestie fähig ist – er konnte nicht so einen unberechenbaren Schaden stiften an der Gesundheit der Volksseele, wie diese Untat des Bauernsohnes, der, um einer lästigen Heirat zu entgehen, kaltblütig die opferte, mit der ihn körperliche Gemeinschaft – denn von einem seelischen Band konnte da wohl nicht die Rede sein! – seit Jahren verknüpfte.

Wenn das möglich ist und keine Sühne findet, daß man seiner Liebsten einfach den Hals abschneidet, sobald man ihrer überdrüssig ist, dann wird das Dogma vom Walten der göttlichen Gerechtigkeit zum Ammenmärchen! Zu viele möchten den Folgen ihrer Lust entgehen! Zu sehr bindet bei dem, den die Erziehung und Menschenlehre vernachlässigte, Habsucht und Begierde jedes Ethos … Mochte man über die abschreckende Wirkung der Strafe wie immer denken, der gewaltige Anreiz zur Nachahmung, der in dem ungesühnten und nicht aufgeklärten Verbrechen liegt, blieb unbestreitbar.

Dies war die tägliche Unterhaltung zwischen Staatsanwalt Herder und dem Untersuchungsrichter Dr. Häberlein, seitdem Friede Schmahl im Gerichtsgefängnis saß.

Auch heute ging der Staatsanwalt, die überschlanke Gestalt leicht nach vorn gebeugt, nach seiner Gewohnheit mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Zimmer des Untersuchungsrichters auf und ab:

»Das Schlimmste an der Sache ist, lieber Kollege, ich kann die Anklage nicht erheben! Das Beweismaterial reicht nicht aus! Die Geschworenen, obenein bei uns durchweg Landwirte, sprechen den Menschen glatt frei!«

»Na, hören Sie, lieber Staatsanwalt …«

»Ja, ja, ich weiß, was Sie sagen wollen: ich mache unsern Bauern und Grundbesitzern da einen schweren Vorwurf! Aber das ist nicht meine Absicht! Keineswegs! Ich behaupte ja nicht, daß diese Volksrichter den Mann entschuldigen, etwa weil er von ihrem Stamme ist … nein, nein! … Auch nicht etwa, daß sie eine laxe Auffassung von der Schwere der Tat haben … das nicht! … Nur, sie werden Schmahl nicht verurteilen, wenn sie nicht die ganze ungebrochene Überzeugung von seiner Schuld haben! Wenn es sich da um einen Brandstifter handelte … ja, das wär' was anderes! Oder einen Knecht, der ein Sittlichkeitsverbrechen verübt hätte … Diesem Menschen, diesem zweifellosen Mörder gegenüber herrscht trotz alledem ein gewisser Korpsgeist! Es sind eben seinesgleichen, die ihn richten sollen! Daß er eigentlich ein Doppelmörder ist, der mit dem atmenden das noch ungeborene Leben vernichtet hat, das ändert daran gar nichts!

Und das Tollste, das Allertollste, lieber Kollege, ist, daß ich auch von mir selber aus die Anklage nicht erheben kann! Nein, ich kann es tatsächlich nicht, wenn Sie auch noch so sehr den Kopf schütteln! Was haben wir denn da? – Friede Schmahl ist angeblich mit dem Mädchen von dessen Bruder am Abend gesehen worden. – Kann der Bruder das beschwören? – Nein, er kann es nicht! – Schmahl bestreitet, daß er mit ihr an dem Abend zusammengewesen ist und – seltsame Tatsache! – niemand ist da, der das Gegenteil wirklich bekunden kann! … Ich, genau so gut, wie Sie, lieber Doktor, habs herausgefühlt, daß hier der wunde Punkt seiner Verteidigung ist. Man merkt ganz deutlich seine Angst, daß doch noch jemand auftreten könnte, der sein Zusammensein mit der Merk beobachtet hat. Aber der Kerl hat ein Schweineglück: es meldet sich niemand, trotz der hohen Belohnung!

Ferner: ist sein Alibi nicht einfach glänzend? – Bis halb sieben Uhr hat er im Krug gesessen, nachdem er um sechs vom Hofe fortgegangen ist, dann geht er auf den Anstand. Auf Hirsche. Da kann er die ganze Nacht sitzen! Als Jäger kann ich ihm darauf nicht die geringste Vorhaltung machen. Tatsächlich ist er um eineinhalb nach Hause gekommen. Sein nächster Nachbar, der Bauer Herbst, dessen Kuh kalben sollte, und der deswegen die Nacht über aufblieb, hat ihn um halb zwei Uhr im Mondschein mit der Flinte heimgehen sehen … Natürlich ist solch Alibi im Grunde gar keins! Aber es ist nicht anzufechten! … Oder meinen Sie doch?«

Dr. Häberlein schüttelte seinen blonden Kopf: »Das nicht, aber die Hornnadel?«

»Ja, die Hornhaarnadel oder der Haarpfeil, wenn Sie wollen! … Ja, die haben wir! Die hat der prächtige Kerl, der Polizeihund, tatsächlich gefunden! … Auch daß sie der Pauline Merk gehört hat, ist einwandfrei nachgewiesen. Wir haben sogar den Händler gefunden, der sie für fünfundsiebzig Pfennig verkauft hat … ja, das haben wir alles! Der Schmahl, dieser gerissene Kerl, hat es ruhig zugegeben! Er hat sie bei ihr gesehen, sagt er, ob sie die Nadel zuletzt noch gehabt hat, das weiß er nicht genau.«

Der Untersuchungsrichter lächelte:

»Bei der Gelegenheit habe ich ihn bei einem Haar gefaßt. Ich sage: »Ob die Merk die Nadel an dem letzten Abend im Haar getragen hat, das wissen Sie wohl nicht?« – »Nein,« sagt er. Aber besinnt sich im selben Moment, kneift, wie's seine Gewohnheit ist, ein bißchen das linke Auge zu, wie wenn er auf mich zielen wollte, und spricht dann ganz langsam weiter: »Das heißt, das war ja 'n Sonntag, da hat sie immer solchen Kamm mit Steine drin getragen.«

Der Staatsanwalt nickte eifrig:

»Ja, er ist nicht zu fassen! Und da reden wir immer vom ergrauten Verbrecher! Der Schmahl schlägt jeden Zuchthäusler in der Art, wie er ein Verhör pariert! So was ist mir einfach noch nicht vorgekommen … Aber wir waren bei der Hornnadel. Und bei der sind wir stehen geblieben, weiter kommen wir nicht! Daß das Mädchen entweder in der Nähe der Sandgrube getötet ist oder nachher dahingeschleppt wurde, daran ist gar nicht zu zweifeln. Dafür scheint mir der Beweis, das Indizium, auch schlüssig. Aber ob Friede Schmahl sie ermordet, ob er sie in die Sandkute geschleppt hat, das wissen wir nicht. Und das müßte ich wissen, dafür müßte ich wenigstens Anhaltspunkte haben, um mit gutem Gewissen die Anklage zu erheben!«

Dr. Häberlein fuhr sich mit der weißen Hand durch sein gewelltes Haar:

»Vor allen Dingen erhebt sich da auch die große Frage: wenn Friede Schmahl wirklich die Merk in der Sandkute verbuddelt hat – wer hat sie hernach wieder ausgegraben und weiter transportiert?«

»Der Vater Schmahl!«

Der Staatsanwalt hatte es ohne Besinnen erwidert.

»Vielleicht. Es ist sogar anzunehmen, nach der Art, wie der Alte sich bei dem Renkontre seines Sohnes mit dem Gendarmen Ebel verhalten hat … Andererseits sollen sich Vater und Sohn häufig bis aufs Blut gestritten haben.«

»Das will gar nichts sagen!« fiel Herder dem Untersuchungsrichter rasch ins Wort:

»Und wenn sie sich halb totschlagen, nach außen hin stehen diese Bauern zusammen, wie eine Mauer! … Der Vater und kein anderer hat das Mädchen geholt und wo anders wieder verscharrt!«

»Woher konnte er aber wissen, daß sie in der Sandkute lag? Daß ihm der Sohn an dem Morgen nach der Tat, wo er doch gleich danach verhaftet worden ist, daß er da gleich zu dem Alten hingegangen ist und gesagt hat: »Du, Vater, ich habe die Merk erschossen!« nein, das glaube ich nicht. Das erscheint mir unpsychologisch … Es wäre ja möglich, sie hätten die Tat vorher verabredet. Besonders weil der alte Schmahl solche Wut auf das arme Mädel hatte, die ihm – das hat er immer wiederholt und gibt es auch jetzt ohne weiteres zu – nie und nimmer hätte als Schwiegertochter auf den Hof kommen dürfen!«

»Nein,« bestätigte Herder, »das glaub' ich auch nicht! … Wären die beiden im Komplott gewesen, dann hätte sich die Szene zwischen Schmahl und dem Gendarm ganz anders abgespielt. Der Alte und der Junge hätten, schlau und vorbedacht, wie sie beide in hohem Maße sind, sich dann auf die völlig Harmlosen ausgespielt. Der Junge wäre nicht wütend geworden, der Alte hätte es auch nicht gelitten oder womöglich gar unterstützt … Die rasende Wut des Friede ist das erste, jache Aufflammen einer großen Herzensangst gewesen! Wie sehr böse Hunde auch am ehesten beißen, wenn sie Angst vor etwas empfinden. Wäre alles zwischen den beiden abgekartet gewesen, so hätte sich diese erste Angst längst in Rede und Gegenrede beruhigt gehabt … Beide hätten alles abgesprochen miteinander und hätten sich, so wie sie sich kennen, fest aufeinander verlassen … Friede Schmahl sagt ja selbst: er bedauert nichts mehr, wie sein sinnloses Wüten – er sagt: ›min' Dollkopp‹ – gegen den Gendarm. Das, meint er, sei allein der Grund, weswegen wir ihn noch hierbehielten. Na, das ist natürlich ein Irrtum, aber immerhin: in dem, wie überhaupt in allem, was der Mensch vorbringt, liegt eine ganz verdammte Logik … So, wenn er ausführt, er hätte mit seinem mütterlichen Erbe die Pauline Merk jederzeit entschädigen und sie dann laufen lassen können! Nicht der geringste Grund hätte vorgelegen, daß er ihr ans Leben gehen sollte – –«

Dr. Häberlein fackelte mit der erhobenen flachen Hand:

»Wenn man nicht etwa den Geiz des Bauern und die, wie wir festgestellt haben, recht beträchtliche Zähigkeit der Ermordeten dahin ansehen will!«

Der Staatsanwalt nickte:

»Und noch etwas: Vater und Großvater des Schmahl sind Gewohnheitstrinker gewesen. Der Bruder Albert ist in folgerichtiger Deszendenz ein unverbesserlicher Säufer, Arbeitsscheuer und Randalist … Unser Mann hat aber das böseste Erbteil angetreten: bei ihm sitzt der Rausch im Blute! Er leidet, das hat sein ganz hemmungsloses Auftreten bei dem Zusammenstoß mit Ebel bewiesen, an endogenen Rauschzuständen. Er sieht rot und ist der geborene Mörder!«

»Um Gotteswillen, meine liebe Staatsgewalt!« Dr. Häberlein hob in komischem Entsetzen beide Arme zum Himmel, »Sie sind ja der reinste Lombroso! … Geborener Mörder! Delinquente nato! Da können wir ja man beide einpacken! Wie wollen wir denn solche armen, erblich belasteten, gehirnkranken Menschen noch bestrafen? … Na, hören Sie mal!«

Herder war ganz still. Sein unerbittlicher Verstand, der sich mit einem umfassenden Wissen multiplizierte, vor dem er selbst in stillen Stunden die größte Furcht hatte, der hatte ihn wieder einmal aus dem Gewirr der Tatsachen in das Gefilde der reinen, längst geklärten Spekulation geführt.

Er brach kurz ab:

»Aus alledem geht hervor, lieber Kollege, daß ich die Anklage nicht erheben kann; wir sind verpflichtet, den Menschen laufen zu lassen.«

Dr. Häberlein spielte mit seinem Bleistift:

»Das seh' ich nicht recht ein … das heißt, das mit der Anklage, ja, da bin ich Ihrer Ansicht … aber laufen lassen? … so ohne alle Formalien? … nee, wissen Sie, lieber Staatsanwalt, das werd' ich vorläufig noch nicht tun! … Da ist ja auch noch die Sache mit Ebel, die morgen zur Verhandlung kommt."

»Dafür wird ihm das Gericht kaum viel tun! Er sagt ganz folgerichtig: er hätte keine Ahnung gehabt, was der Gendarm von ihm wollte und sei wütend geworden, weil Ebel seinen Pferden in die Zügel fiel …«

Dr. Häberlein nickte:

»Schön! Ein paar Wochen wird er doch abkriegen …«.

»… Die wir ihm gerechtigkeitshalber anrechnen müssen auf die unschuldig erlittene Untersuchungshaft!«

»Na hören Sie mal, liebster Herder!«

»Ja, das werde ich beantragen! … Denn entweder der Mann ist ein Mörder, dann muß ihm der Prozeß gemacht werden. Ober wir finden, wie's im Evangelium heißt, keine Schuld an ihm, dann können wir ihn die kleine Strafe, die er vielleicht wegen der Sache mit Ebel verdient hat, nicht doppelt absitzen lassen!«

Dr. Häberlein sah seinen Kollegen eine Welle still an.

»Sie werden nie Karriere machen, Herder.«

Der zuckte lächelnd die Achseln und ging.


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