Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Dreiviertelmond stand am Himmel, und der Abendstern leuchtete schon in der stillen Bläue. Die Nacht kam gar nicht. Ein feiner Hauch fiel auf Kartoffelkraut und weit im Felde stehende Heumieten.
Nun strich die Nachtschwalbe vorbei und blieb gerade vor Friede Schmahls Ansitz surrend und brummend in der bläulichen Luft stehn, ehe sie Käfer und Nachtschmetterlinge haschend weiterflog … Dann glitt lautlosen Fluges die Eule her. Sie blockte dicht vor dem Jäger auf einem verdorrten Tannenstämmchen und sah mit ihren runden, feuerhellen Augen neugierig in das Düster der Erdbude.
Friede Schmahl hob sachte das Gewehr und probierte, ob er noch über Korn und Kimme abkäme? Es ging prächtig! Die Mondscheibe leuchtete nur stärker, je mehr das Trüblicht des entschwindenden Taggestirns der wundersamen Nacht wich.
Der Bauer dachte an sein Mädchen. Und das Blut stieg ihm bis ins Angesicht: sein Herz pochte, daß er meinte, das Wild könnt' es beim Heranziehen vernehmen. Er sah die Lene mit ihrem geliebten Gesicht so vor sich, daß er sie meinte umfassen und an sein Herz ziehen zu können! Ja, er war so voll von dieser neuen Leidenschaft und so ganz erfüllt von der Wonne des Begehrens nach ihr, die er liebte, daß nichts anderes mehr in seinem Herzen Raum hatte; kein Schatten die Glut stiller Seele und ihre Helligkeit verdunkeln konnte.
Die und keine andere wollte er haben und behalten! … Der Alte mochte reden und schimpfen, wie er wollte – er heiratete die Lene!
Ein Lachen ging über sein hartes Gesicht. Er sah sie schon im Hause an seiner Seite und hörte ihre Stimme, die ihm wie der schmeichelnde Wind des Sommerabends däuchte … Wenn er bei ihr war, bei der Lene, dann plagte ihn nichts, dann war das nicht da, was manchmal, in ihrer Abwesenheit, in seinem Rücken wie aus dem Nichts heranschlich und ihn erschreckte … Es war, als nehme die Lene seine große Hand in die ihre und führte ihn fort, weit weg, dahin, wo es kein Erinnern mehr gab, an alles, was man vergessen wollte.
So glitt allgemach Friede Schmahls Sinnen in ein leichtes, glückliches Träumen hinüber … Schlief er? Oder war er nur, befreit von Leib und Erdenschwere, ganz entrückt in die selige Mondnacht?
Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren.
Es war nur ein Laut, ein Ton, als wäre ein Zweig an einem andern vorbeigebogen worden … Aber des Jägers geübtes Ohr erkannte sogleich das Anstreichen des Geweihes, das hörbar wird, wenn der Hirsch durch dichtes Holz und Gebüsch heranzieht.
Lange blieb es still.
Friede Schmahl verhielt den Atem … So sicher, als sähe er ihn schon, stand der Waldkönig jetzt in den Randkusseln der Forst, jenseits des Grenzgrabens, hob den Windfang in die blaue Nacht und sicherte lange, lange, ehe er zu Felde hielt.
Der Wind kam von der Seite, wo der Hirsch stehen mußte, vor dem Kartoffelacker … Wenn jetzt nur nicht ein Lüftchen krüselte, sich am Holz stieß und so den zehnmal Vorsichtigen warnte!
Nur noch Auge und Ohr, die Nerven gespannt wie stählerne Saiten, und die Waffe in den Händen, die kein Zittern kannten, saß der junge Bauer.
Da raschelte Fallaub, ein elastischer Sprung – der Hirsch hatte den Graben überfallen.
Tiefe Schatten legte der Wald über das mondhelle Feld, da drin verhielt sich der Hirsch noch immer. Friede Schmahl, der Rumpf, Haupt und Geweih schon erkennen konnte, wartete geduldig, bis der Hirsch, dessen Zupfen an Gras und Kraut er wohl hörte, seine Scheu überwand und weiter ins Feld trat.
Als er mit leisem Rascheln in das grüne Kraut der Kartoffeln zog, hob der Jäger mit aller Behutsamkeit die Waffe …
Und nun wandte sich der Edle, stand, das stolze Haupt mit der im Mondlicht schimmernden Krone hocherhoben, minutenlang und lauschte.
An Friede Schmahl regte sich keine Fiber … Die Büchse, die vorn auf dem Querholz der Hütte lag, schon an der Schulter, beobachtete er funkelnden Blicks das Wild, das allmählich ganz vertraut, die schlanken Läufe hob und nähertrat, den verführerischen »Rosen« zuliebe … Die Entfernung verringerte sich, der Hirsch war kaum noch fünfzig Schritt von der Hütte, da suchte Friede Schmahls Auge über dem Visier das Silberkorn der Büchse – –
Hatte seine Wange am Holz des Kolbens geschürft oder eine Falte seiner Joppe geknistert? – Der Hirsch warf auf und schwang sich, eine losgeschnellte Feder, in meterweitem Sprung!
Friede erstarrte fast, nur seine rasenden Augen verfolgten das Wild, das dann wieder stand und, als habe es seinen Irrtum eingesehen, sich ganz beruhigte … Jetzt begann es mit den Schalen der Vorderläufe die Kartoffeln herauszuschlagen, man hörte das Gnatzen der Erdfrucht zwischen seinen Kiefern.
Da fand die Büchse ihr Ziel! Breit und massig stand der Hirsch, tiefschwarz im lichten Mondschein … Am Vorderlauf empor, ein bißchen nach rechts, wo das Blatt sich abteilt, da saugte sich das Korn fest!
Ein Knall, der die Heide entlang rollte, ein Donnerhall! … Der Hirsch richtete sich, die Vorderläufe einkrampfend, steil in die Höhe und schnellte aufwärts, als wollte er über die Wipfel der hundertjährigen Kiefern! … Ein paar rasende Fluchten, dann brach er dumpfpolternd zusammen.
Der Jäger rührte sich nicht. Er hielt noch immer die Waffe schußfertig im Arm: Rotwild wird selbst bei schweren Schüssen oft noch einmal hoch … und die Heide war nah!
Aber der Hirsch regte sich nicht. Da kroch Friede Schmahl, dem nun die Pulse zum Zerspringen klopften, aus seiner Hütte und ging, nein, er lief, immer das Gewehr in der Rechten, auf seinen Hirsch zu! … Das erste war der Griff nach dem Geweih! … Dann warf er die Waffe auf die Schulter und hob mit beiden Händen das geweihte Haupt ins Mondlicht … Ein Strom jauchzender Freude, ein fast sinnloser Triumph schwellte sein Herz! … Er kniete nieder, legte den Drilling, der ihn hinderte, ins Kraut und betastete die dunklen Stangen, die fast zu gewaltig für das zierliche Haupt sich wie starrendes Astwerk reckten! … Nein, so einen hatte er noch nicht! Ein Sechzehnender! … Und das Geweih geperlt bis in die weißen, spitzen Enden!
Ach, wenn er den der Lene doch gleich zeigen könnte! Wenn sie jetzt hier wäre! … Daß sie sich mitfreuen könnte! Warum nahm er sie bloß nicht mit?! Nun mußte er warten bis morgen früh, bis sie Milch holen kam.
Im Mondenschimmer stand er noch eine ganze Weile und konnte sich nicht trennen von seiner Beute. Dann zog er sein Waidmesser, das in eingenähter Lederscheide unter der Beinkleidtasche steckte und brach den Hirsch auf. Das ging ihm so flink von der Hand, das matte Licht drunten am Erdboden hinderte ihn keineswegs, er hatte es oft genug in der Finsternis fertig gebracht.
Der Heimweg war weit. Eine Stunde und mehr hatte er bis ins Bruch und hielt sich nicht auf. Denn der Hirsch mußte, daß nicht Füchse oder gar Sauen ihn anschnitten, noch in der Nacht geholt werden. Auch wars dem Jäger nicht ganz geheuer wegen der kapitalen Trophäe. So was Seltenes hängt sich manch einer gern an die Wand, oder nimmt Geld dafür von einem Sammler. Mit einem geringen Hirsch wars Friede Schmahl einmal so gegangen. Den schoß er in der Nähe des Richtwegs, und richtig war da ein Liebhaber vorbeigekommen, hatte flugs den Kopf mit dem Geweih dem Achter abgeschlagen und war seelenvergnügt davongegangen. Der Jäger mußte sich mit einem derben Fluch hinter dem Schnapphahn drein und mit dem Wildpret begnügen.
Als Friede Schmahl die Waldchaussee erreichte, die hinunterführte ins Bruch, hörte er Räderrollen hinter sich … Na, da konnte er wohl ein Stück Wegs mitfahren! … Er blieb stehn.
Der Schlächter von Saida wars.
»Halloh, Perbandt!«
Sie waren zusammen zur Schule gegangen, der Fleischer und Schmahl.
»Nimm mi 'n Enn' mit, Mensch!«
Einen Augenblick schien es, wie wenn der Meister anhalten wollte, dann fuhr er weiter. Den Kopf zur Seite wendend, rief er:
»Ick möt tofoahrn! … Hew' keen Tid!« Schnalzte mit der Zunge und gab dem ausgreifenden Gaul noch eins mit der Peitsche über den Rücken.
Dem Zurückbleibenden war's, als habe die Peitschenschnur ihn mitten ins Gesicht getroffen und einen brennenden Striemen in seinem Fleisch hinterlassen … Weshalb wollte ihn der nicht mitnehmen? … Glaubte er vielleicht? –
Friede Schmahl rannte plötzlich, als wollte er den Schlächter, der im Mondschein noch eben zu sehen war, einholen! Aber daran dachte er nicht. Nur ein furchtbarer Zorn, eine Scham ohne gleichen und ein Schmerz, der seine Seele zerfraß, trieb ihn vorwärts …
Also so dachten die von ihm? Hatten Angst um ihr Geld, wenn er ihnen nachts allein begegnete? … Ah, die Schmach! Diese Schande! … Er hatte gewiß in manchem nicht gut getan! Hatte viele gekränkt durch seine abweisende, bissige Art … und … und … Aber nein, das nicht! Fortgenommen hatte er keinem was! Nicht mal als Junge, wo sie doch alle über die Zäune klettern und Obst mausen oder den Hühnern heimlich nachschleichen und die Eier aussaufen … Nein, nicht einmal das! Er war zu stolz dazu! … Hatte auch viel zu wenig Freude an den Dingen, die er ja von seinem Eigenen nach Belieben haben konnte! … Ja, selbst das Wild, dem ewig ferne Sehnsucht galt, die Hirsche und Rehe, selbst die brachten ihn nicht dazu, ins »Feindliche« hinüberzugehen und da ein Stück wegzuknallen! Oft und oft hätte er von seinem Revier über den Grenzgraben eins schießen können, das drüben nichtsahnend äste – er tats nicht … Weshalb? – Auch darauf hätte sein schweigsam dunkler Sinn die Antwort nicht gewußt. Er tat es eben nicht und war heimlich sehr stolz auf seine Festigkeit. Manchmal malte er, der so viel in stiller Heide allein war, sich ein Phantasiebild: er pürschte drüben im Königlichen auf einen Mordshirsch, war ihm auch schon ganz nahe und backte eben an – da schrie einer: »Halt! Gewehr weg!« – Der Förster! – Und er selbst, wie der Teufel, hinter einen dicken Kiefernstamm! – Er sah den Domnus ganz deutlich mit seinem langen, braunen Bart. – Es knallte! – Ein Mensch stürzte hin, ins Moos, zwischen Farnkraut und Wachholder! – Und einer rannte, wie ein Hase, waldein. – – War's das, was Friede Schmahl abhielt, seine Hand nach fremdem Wilde auszustrecken?
Schweißperlen auf der Stirn, bog er vor'm Dorf in die Felder ab. Nun ging er langsamer. Eine grenzenlose Müdigkeit und das Wehgefühl, das in ihm wühlte, ließ ihn zuletzt stehen bleiben und sich auf den Grasrain des Weges setzen.
Da saß er lange. Seine Augen brannten, als wenn er geweint hätte. Aber der Trost und die Linderung der Träne waren diesem harten Herzen versagt. Nur immer weiter, bis an die Grenze des Möglichen rückte sein Inneres von den Menschen ab. Ihm war, als ginge er einen Weg der kein Ende nahm und immer finsterer wurde, und da kam es plötzlich über ihn, daß er fortwollte, ganz fort, von allem, was hier war … Er griff nach dem Gewehr, öffnete das Schloß und sah, daß der Kugellauf geladen war … Dann setzte er den Lauf an die Stelle, wo das Herz schlug, und fühlte nach, ob es ihm gelänge, den Finger so an den Abzug zu bringen …
»Friede! …«
War's Einbildung? … Wollte eine Stimme, die ihn zittern machte, ob er sie auch nur mit seinem Herzen hörte, ihn zurückhalten? …
Es scholl wieder, noch lauter, angstvoller:
»Friede! … Friede!!«
Er blickte auf: den Weg entlang kam's! Nun hörte er den Schall der flüchtigen Schritte auf dem grasigen Pfad …
»Lene! … hier! … Hier bin ich!«
Er sprang vom Boden.
Sie flog zu ihm her.
Und fielen sich um den Hals und küßten sich endlos.
»Ick hew dröömt, Friede, dat het jeknallt, nu ick renne hin un du lichst dor un bist öwer un öwer vull Blut! … Un da bin ick rut ut' Bette … ick weet gor nich, wie ick in min Kleed kamen bün! … Un denn los … her to di … ick künn jo nix för, dat ick di so lieb hebbe!«
Da rannen dem Schwarzkopf, der sich kaum aus seinen Knabenjahren erinnern konnte, einmal nasse Augen gehabt zu haben, die Tränen über die Wange.
Und gingen nach Hause, die beiden, so fest aneinandergepreßt, als wär' es nur ein Leib, der auf mondbeschienenem Pfade schweigsam selig wandelte.