Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Um Mittag wußte es das ganze Dorf: Merks Pauline war gestern Abend von ihrer Mutter Haus weggegangen und bis heute nicht bei ihrer Dienststelle eingetroffen.
Unter den Kastanien, die schon ihre grünen Kapseln aufmachten und die polierten, braunen Früchte auf die Dorfstraße warfen, standen die Frauen und Mägde, die den Ihren das Mittagessen aufs Feld hinaustragen wollten oder schon zurückkamen und sprachen von der Pauline. Aber sie sprachen scheu und leise und sahen sich heimlich um bei ihren Worten, ob der nicht etwa in der Nähe wäre, dem sie das Böse zutrauten, dessen Feindschaft keiner auf dem Nacken haben wollte.
»Dat hebb ick jo all immer seggt!« Der alte Findler, ein Greis von achtzig Jahren, nickte bedeutsam mit seinem schneeweißen Kopf, »von kleen uff hebben dä nischt jedocht, die beeden Jungse! … Dä een, den kenn tehn Pierd nich utt'n Krug ruttrecken und dä anner, wat der Friede is, na der! … der hat schon, als hei noch so janz quorre wor, dor hät dä schon de Hiehner dodsmeten un het de Koie krumm un lahm schloahn …! Ick weet noch, wie hei mol mine Offen – ick hadde dortaumol son poor groten, rotbunten, dä Schlachter aus Hembittel hätt sei mi denn afköfft un hett veerhundert Dhaler dofor jejähn, dat wör dunn 'n schön Stück Jeld! – jo, un die hät mi der Strunk doch balle umbröcht! Weet Ji, wie hei dat maken deit? – Hei hett die Ossen een Stick Fürschwamm in 'ne Nüstern rinstoppt! Nu wören sei reene dull! Un attackieren ümmer upp'n Hof upp un dal, bis dä een tofällig an 'n Emmer Water rankümm, dor hett hei drus supen und da wär dat Für all' ut! … Un man sall nich seggen, wie schlau sonne Beester sün! Wie das min anner Osse to seihn kreegt, rennt er fors ook hen nah dat Water un steckt sin Nüschel ook rin! … Aberst nachher, dor hebbe ick dat rutkregen! Dor war sonne quorre Deern bi uns upp'n Hof, die het tokiekt bi den Spaß und di seggt mi dat nachher! … Na, dor hett et wat sett! … Dat künnt Ji mi gern glöwen! … Un dat hett mi dä Friede sein Lewedach nich vageten! … Ji weet ja ook, Kinners –«
Der alte Mann dämpfte seine Stimme und sah sich vorsichtig noch einmal nach allen Seiten um:
»– wie vor fif Johren un's Scheune afbrennt is! … Is ja nie nich rutkamen, wer dat west is! … Aberst ick weet, wat ick weet! … Um negen Uhr hatt dä Friede noch hinger mine Scheune jestanden! Wat het hei dor to säuken? … Hei wohnt doch in't Bruch un nich in't Dörp! … Wenn dann de Wind nach't Dörp rinstunn un nich in de Heede, denn wörn wi alle Bettellüd hüte … Un ick weet, wer dä Brandstifter west is und wer'n Brandstifter is, dä is ook 'n Mörder!«
Die Frauen nickten. Sie blickten, während sie zuhorchten, nach dem Hause des Schulzen hinüber, hinter dessen offenen Fenstern – man konnte ja von der Straße bequem mit der Hand hineinlangen – die Stoffgardinen zugezogen waren.
Drin beim Gemeindevorsteher war die Mutter der Vermißten, mit ihrem Sohn.
Die alte Frau saß gebrochen in dem Korblehnstuhl vor dem mit Akten bedeckten Tisch und schluchzte. Neben ihr saß der Schuhmacher und hinter beiden stand der Besitzer Hasse, der, sowie er von seinem Jungen gehört hatte, was geschehen, in's Dorf gekommen war.
Der Gemeindevorsteher Ahlers, ein großer, schwerer Mann schrieb mit seiner bedächtigen Schrift einen kurzen Bericht, den der Gemeindediener gleich zum Gendarmen des Bezirks tragen sollte.
»Also, um achte is sie noch bei Euch jewesen, Merk'n?«
»Jo, jo!« jammerte die kleine, von ihrem großen Schmerz ganz zerrissene Fra«, »sä wär dor … un denn is sei wechgohn … ach, uns' arme Pauline … uns' arme Paulin! …«
»Nu laßt doch man, Mutter! …« Dem Schuster standen selbst die Augen voll Tränen, »es wird ja noch so schlimm nich sein! … sie kann ja doch noch wiederkommen!«
»Nä, nä, die kommt nie nich wedder! … dä hett ehr wat andohn, dä schlechte Minsche! … Ick hebbt ehr jo ümmer seggt, sei sall von am afloten … aberst hürt sei denn? … uns' arme Paulin'! … ach, min armet Kind! … Nei, dat öwerleb ick nich! Wenn sei nich wedderkümmt, denn möt ick all' ook starwen!«
Des Schulzen Frau, eine schwarze, hagere mit vorgetriebenem Bauch, trat rasch ins Zimmer:
»Der Wachmeester kämmt, Mann … er is schon da!«
»Denn braucht er nich erst jeholt zu werden, wenn er schon da ist,« meinte der wegen seiner Gemütsruhe bekannte Dorfoberste. Dabei zog er die Gardine ein bißchen vom Fenster fort und sah, wie draußen eben der Gendarm, ein Riese, von seinem Gaul sich herunterschwang. Er band das Pferd an die nächste Kastanie und beauftragte zwei Jungen, dem Tier die Bremsen, die dem Vieh im Hochsommer so gefährlich werden, abzuwehren. Dann kam er, sich den Schweiß von der Stirn wischend, den blitzenden Helm in der Linken, durch die kleine Tür im Holzzaun um das Gebäude herum und von hinten ins Haus hinein.
Er hätte oben in der »alten Schänke« schon von der Sache gehört und wäre gleich hergeritten … Was denn nun wäre? Das Mädel is weg, die Pauline Merk? … Er sah auf die alte Frau, die ihr Schluchzen vor der Obrigkeit vergeblich zu verbergen strebte … Ach ja, nun erkenne er sie erst, die alte Frau Merk! Bei ihrem sel'gen Mann hätt' er sich manches Paar Stiefel machen lassen! Der konnte arbeiten! Ja, ja, solche Schuster, die gäb' es heute gar nicht mehr!
Die alte Frau ward ruhiger. Die Erinnerung an ihren Seligen wirkte auch in diesem großen Leid um die Tochter noch. Aber dann kam die Schmerzensangst um so wilder, verzweifelter zurück. Sie schrie laut auf:
»Uns' arme Pauline! … Min Kind! … Wo is sei? … ick will min Kind wedder hebben!«
Der Sohn umfaßte sie und drückte ihren greisen Kopf an seine Schulter:
»Nu laßt doch man, Mutter! … laßt doch man! …«
Mehr brachte er auch nicht heraus.
Der Besitzer Hasse, ein Bruchbauer, dem – ein Zeichen seiner Wohlhabenheit – die dicke goldene Schartenkette mit großem Siegelring über dem Bauch baumelte, der meinte, auch etwas von dem Seinen zugeben zu müssen:
»Sull sä am Enn in eene vun dä Torfkauten rinfollen sin? … Aberst dor is doch der Weg, den het sei all so oft loopen! … Oder dat sei wat bedrapen hett un sei licht nu all wo un künn nich wieter …«
Der Gendarm winkte ihm, er solle die Mutter nicht noch mehr aufregen. Doch der Moorbauer nahm das für eine Ermunterung. Er hob den Zeigefinger der rechten Hand, an dem ebenfalls ein massiver Ring glänzte, und zwinkerte listig mit den kleinen, im Fett der Wangen versteckten Augen:
»Et givt ook Irrwische! … Jawoll! … Wer dat nich kennt, bi uns in't Bruch, der löppt jrade druff to! Un plumps is hei drin! Un wär dor irst mol drin licht – –«
Der Gendarm unterbrach ihn:
»Nu lassen Sie man, Herr Hasse! … Wir wissen das ja alles auch! … Un Sie, lieber Merk, nehmen Sie Ihre Mutter und gehn man nach Hause mit ihr … Ich glaube, Ihre Tochter kommt wieder, Frau Merk! Sie wissen doch, so'n Gendarm is 'n Pfiffikus! … Der find't alles! … der hört's Gras wachsen und die Flöhe niesen!«
»Ach, Herr Wachtmeister, sein Sie doch man so gaud!« In ihrer Todesangst um die verschwundene Tochter versuchte die Frau hochdeutsch zu sprechen, und die gefalteten Hände zu dem Riesen erhebend, der mit dem Kopf fast die geweißte Decke der Bauernstube erreichte, flehte sie ihn an: »Ick gebe Ihn', wat ick hebbe! Bloß bring' Sä mi meine Dochter wedder! … Min Kind! … Unse arme Paulin'!«
»Mir brauchen Sie nichts geben,« der Riese lächelte, und dies Lächeln sah gut und kindlich aus auf dem martialischen Gesicht mit dem mächtigen, dunkelblonden Schnauzbart, »ich tu' schon so meine Pflicht! Aber da is noch einer!« Er deutete mit dem Finger nach oben, »der muß doch bei allen Sachen das Beste tun! Den bitten Sie man! … Ja, und nun, Herr Gemeindevorsteher …«
Er winkte mit den Augen dem Schulzen zu, der solle sorgen, daß die Frau ginge. Ahlers gab den Wink weiter an den Schuhmacher. Der verstand auch:
»Nu kommt man, Mutter! … Die Kuh hat noch kein Futter … Ihr müßt ooch melken …!«
Das begriff die alte Fra«: Das Vieh will seine Ordnung, auch wenn dem, der's besorgt, das Herz in Angst und Not will brechen.