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Die Tage gingen, und des Jahres Schönheit nahm kein Ende. Es war, als sei mit dem Herbst ein neuer Frühling hergezogen, so mild und balsamisch wehten die Lüfte. Die Staare flogen schon in Schwärmen, wenn sie des Abends hinüber nach dem Seeufer strichen, um ins grüne Schilf, das mit grauen Büscheln wehte, zu tausenden, schwirrend und schwatzend einzufallen. Dann, wenn der Sonne brennender Ball drüben ins glühende Wasser sank und überirdisch herrliche Farben den sanften Himmel malten, dann gingen Friede Schmahl und Schulzen Lene umschlungen hinaus.
Sie stand mit ihm an den Weidenbüschen, wo er auf die Enten wartete, die pfeilschnell, mit klingenden Fittichen heranstrichen. Und Lenes blaue Augen blitzten, wenn er sie im Kreisen mit hallendem Schuß in die Flut warf. Sie schlich auch hinter ihm, wenn er auf den Rehbock pirschte und störte ihn weniger, wie ein treuer Hund, wenn sie ihm auf den Anstand folgte.
Da saß sie oft, vom Gezweige verdeckt, ohne Laut und Bewegung an seiner Seite; nur dann und wann suchte ihre kleine Hand behutsam die seine und sagte ihm, daß sie noch da wäre und immerfort an ihn denke. Dann sah er sie an und die harten, dunklen Augen des Jägers wurden weich und willig. Ja, ihr süßes Gesicht, ihre verlangenden Blicke hatten so große Gewalt über ihn, daß er zu Zeiten des sehnlich erwarteten Wildes vergaß, daß er sie in seine Arme riß und ihrer beider Leidenschaft alles besiegte.
In solchem seligen Augenblick war's, wo die Eva in ihr wissen wollte. Sie hatte ihn heiß umschlungen, und zwischen zwei langen Küssen fragte sie ihn:
»Do hest et doch dahn, nich wahr, Friede?«
Erst begriff er sie gar nicht:
»Wat denn?«
»Na, du weeßt doch … bei Pauline!«
Da veränderte sich sein Auge, die Glut verglomm, wie schwarzer Stein ward sein Blick, und der Mund, noch eben zu Küssen und heißem Worte offen, schloß sich wie Eisen … Dann lachte er, lachte leise und kichernd, sagte keinen Laut dabei und sah erschrecklich aus.
Sie fing sich zu fürchten an und flüsterte:
»Gib mi'n Kuß!«
Er küßte sie, aber seine Lippen waren kühl und bewegungslos.
Und wiewohl der sonnige Abend warm war und lieblich, kams dem Mädchen auf einmal an, wie ein eisiges Wehen …
Nach Tagen gingen sie an der Sandgrube vorbei. Ihr war's, als sähe er absichtlich nach der andern Seite.
Da reizte sie es wieder. Sie blieb stehn, tat, als dächte sie nach, und folgte ihm, der vorangegangen war, schnell.
»Is et denn würklich ehre Hoornadel west, Friede?«
Er sah sie an, blaß, die Backenknochen hart über den eingefallenen Wangen, mit verkniffenem Mund:
»Jo!«
»Na, denn möt sei doch ook her all läjen hebben?«
Sie sprach leise, und ihre blanken Blicke tasteten an seinem Antlitz, wie an einer verschlossenen Tür.
Da war er plötzlich wieder ganz blaß und schrecklich anzuschaun. Seine Lippen zuckten, daß man die Zähne sah, die Augen flackerten und Worte kamen wie Keuchen aus seinem Munde:
»West do mi ook uff't Jericht trecken, Mäken?«
Um ihre Gelenke lagen seine Hände wie Zangen. Er schüttelte sie, selbst vom Sturm seiner Wut, wie ein Stamm im Brausen, gerüttelt.
Unter seinen Worten, die wild, zusammenhangslos und furchtbar drohend auf sie niederprasselten, begann sie zu weinen.
Da gab er nach. Seine eine Hand ließ los, er murrte noch, aber sie merkte, daß ihr Weh ihn besiegte.
»Friede!« Sie schluchzte. »Friede! … Ick hew dat doch matt so hürt! … Ick hew di doch bich ärgern wulln …«
Sie freigebend, drehte er sich zur Seite. Und wie wenn er so sein Gesicht mit großer Kraft gemodelt hätte, wandte er sich ihr wieder zu, ruhig, ernst und mit stillgefaßten Mienen:
»Denk doch mol, Lene! … wi gohn tosamm durch de Heede … un nu seggst do to mi: Friede, ick kehr wedder üm, un geihst af … Un ick segge: Atjeh! un lat di loopen … un du kümmst nie nich mehr to Huus – kann ick da wat vör? … Sall ick dat denn west sin? … Wenn du dat glöbst, denn kannste doch nich mit mi alleene gohn! … Dann möt du doch Bange hebben vör mi! … Na, un hest du denn Bange?«
Seine Stimme war so fromm, so liebeszart geworden, in seinem dunklen Blick glühte das Sehnen wieder auf und sein Mund, den der schwarze Bart nicht verdeckte, verlangte nach Küssen.
Sie umschlang ihn, noch weinend und drängte sich an ihn, wollte jedes Glied seines Körpers umfangen, als sage sie ihm so allein, wie sie ohne Furcht und Zittern mit ihm in die finsterste Öde gehen würde.
Aber des Nachts, wenn er auf Hirsche ansaß, nahm er sie nicht mit. Soviel sie ihn auch bat. Da blieb er fest:
»Do möt slapen, Lene! … Annern Dag kannste nich ut de Ogen kieken, so ab biste!«
»Aberst du slöppst doch ook nich, Friede!« Sie bat ihn von neuem. Umsonst.
Und wie gerne hätte er sie nachts mitgenommen! Die Stunden schleichen so träge, wenn das Auge im ungewissen Mondlicht nur Schatten und Schemen sieht und der von des Tages Last schwere Körper wieder und wieder sich emporreißen muß, um nicht in Schlaf zu fallen … Was ihm verbot, ihr »ja« zu sagen, wenn sie mit ihm wollte, das wußte er nicht … Ganz weit, wo sein Blick nur flüchtig hinreichte, erhob sich etwas Schwarzes, Düsteres: etwas, vor dem er Furcht hatte, daß es sich auf ihn stürzen und ihn überwältigen könne … Dann verschwammen plötzlich zwei Gestalten: Pauline, die Lenes Gesicht hatte und Lene, die weit größer und mit schwerem Leibe einherschritt …
Aber solche Gedanken zogen in dieser sonnigen Zeit selten über Friede Schmahls Seele … Denn außer der Jagd, der er mit Leib und Seele anhing, nahm die Arbeit alle seine Kräfte in Anspruch.
Der letzte Hafer war herein, das zweite Gras geschnitten, nun kamen die Kartoffeln und Rüben dran und versprachen eine reiche Ernte. Dazwischen riß der blitzende Pflug, den seine Fäuste spielend führten, schon den Stoppelboden auf; und im Hause selbst, dem er mehr als einen Monat fern gewesen war, gab's allerlei zu tun. Aber seine dreißig Jahre wurden mit allem so leicht fertig, daß er selbst nach durchwachten Nächten keine Müdigkeit spürte.
Der alte Schmahl hatte immer auszusetzen. Dem könnt' es keiner recht machen. Nun gefiel ihm wieder die Lene nicht, und wenn sie morgens auf den Hof kam und Milch holte, dann schimpfte er laut, daß sie's wohl hören mußte.
Aber die lachte. Und wenn sie den Friede sah, flog sie zu ihm hin und wollte nicht fort, bis er auf ein Weilchen mit ihr ging, hinten um die Scheune herum, in den Tannenort, wo sie den ersten Tag ihre Liebe hingetragen hatten.
Und kam der Sohn zurück, und der Alte wollte weiter zetern, dann ließ der Junge auf einmal die Arbeit liegen, trat vor Martin Schmahl hin und sagte:
»Hollt dat Mul, Vadder! Ji hebbet mi gor nix to seggen! … Ick bün doch wull all majarenn?! … Un wenn Ji nich wullt, denn goh ick meine Weje! … Denn kennt Ji mit den Suffkopp, mit den Albert, wieterwirtschaften!«
Dann brummte der Alte wütend, schmiß Axt oder Grabscheit in eine Ecke, daß es krachte und bot dem Sohn eine Viertelstunde drauf eine Prise. Der verzog den Mund wie zum Lachen, schüttelte den Kopf und steckte seine kurze Pfeife an, ob's der Alte gleich auch beim Arbeiten nicht gerne sah.
Am wenigsten gefiel Martin Schmahl seines Sohnes Jagdpassion. Er hielt fest an der alten Weisheit: »Dem Bauern, der jagt, vergeht das Korn!« … Aber wenn Feierabend war, nahm Friede doch seinen Drilling vom Gewehrrechen und ging hinten herum, durch die Tannen – da wartete die Lene! – in die Heide.
Das waren glückselige Stunden. Lene schwatzte und küßte. Und ging gehorsam zurück, wenn Friede Schmahl an die Stelle gekommen war, wo er ansitzen wollte.
Das Revier war, die ganze Gemarkung des Dorfes umgreifend, an viertausend Morgen groß. Viel Bruchland und dahinter ein breiter Waldgürtel, in dem weite Lücher lagen, die die Bauern wegen ihres fetten Moorbodens wohl ausnutzten und bebauten.
Und hinter der Bauernheide reckten sich meilenweit die staatlichen Forsten. Da stand Hochwild die Menge, das, wenn die Dämmerung sank, in die Bauernfelder trat, sich zu äsen.
Der junge Bauer hatte manch gutes Geweih und Gehörn in der Stube hängen. Wenn er im Kartoffelschlag oder in der Haferbreite einen starken Hirsch fährtete, dann gab es keine Nacht und keinen Schlaf mehr für ihn, dann saß er abends, wenn die Sonne sank, und morgens, ehe sie aufging und die Felder, die Wipfel in Glanz und Glühen tauchte.
Und er hatte wieder einen auf dem Rohre! Der obendrein früh zu Felde zog, vielleicht noch bei Tageslicht zu schießen war.
Da saß Friede Schmahl schon um sieben Uhr in seiner Erdhütte, die er sich an einem Kartoffelschlage gegraben hatte, der »frühe Rosen« trug: danach zieht das Rotwild Meilen.
Die »Rosen« hatten wenig gelbes Kraut mehr. Weiterhin die »Magnum bonum« blühten noch und standen, aus der Tiefe der Erdhütte gesehen, wie ein kleiner Wald, über dem im goldenen Abendlicht Falter flogen.
Ein Bussard zog hoch im Blauen mit »Hiäh! Hiäh!« seine Kreise. Vom Bruch her drang hierherauf ins hohe Land das Brüllen einer Kuh, und von viel weiter her kam Glockenläuten.
Friede Schmahl starrte und träumte.
Da schrie mißtönig, kächzend ein Häher.
Friede blickte vorsichtig erst nach rechts, dann nach links. An der Hinterseite schloß der Erdwall die gedeckte Bude. Er saß so tief, daß nur sein Hals und Kopf über der Erde blieb … sollte das Wild schon heranziehen?
Er lauschte, denn er sah nichts, und hörte voll Mißmut menschliche Laute.
Das mußte jenseits der Grenze sein, die nicht fünf Meter hinter seinem Ansitzloch hinlief … Ah! jetzt verstand er auch Stimmen, die sein feines Ohr gleich unterschied: die eine war dem Domnus seine und die andere? – ja – das war Gendarm Ebel … na, wenn die hier rumstromerten, dann würde wohl so leicht kein Hirsch austreten!
Der junge Bauer hatte sein Gewehr vorsichtig in die Ecke der Bude gestellt und sich selbst mit lautloser Bewegung so gedreht, daß, sobald die beiden Männer hinter dem Randgebüsch hervortraten, das die Grenze nächst dem breiten Graben schützte, er sie sehen mußte.
Ja, da kamen sie an, der Herr Königliche Förster Domnus, dem sein großer, brauner Jagdhund wie ein Schatten folgte, und der lange Gendarm! … Friede Schmahl spukte heimlich aus: er hatte nicht viel Freunde, aber die da waren ihm die Verhaßtesten von allen, die er kannte!
Und nun setzte sich der Kerl, der Förster, auch da noch auf den Grenzhügel, und sein Hund legte sich neben ihn. Der Gendarm zündete sich eine Zigarre an. Sie sprachen. Friede Schmahl verstand jedes Wort. Zuerst vom Holz und den hohen Preisen, dann vom Wild. Da sagte Domnus:
»Na, seit sie nu den Lumpenkerl, den Schmahl, wieder rausgelassen haben, seitdem is hier der Deibel los! … Sagen Sie mal, Ebel, wie ist das bloß möglich? Der Kerl hat das Mädchen doch auf dem Gewissen! So sicher, wie er mir meine besten Hirsche dodschießt, so hat er das arme Mädel auch über den Haufen geschossen! … Sind denn die Herren auf'm Gericht ganz und gar nich klug? … So'n Verbrecher! So'n gefährliches Individuum, den lassen sie laufen?! … 'S wird nich lange dauern, dann erschießt er wieder einen!«
Friede Schmahl sah aus, wie an dem Abend, wo die Lene ihn an der Sandgrube nach Pauline Merks Hornhaarnadel gefragt hatte. Seine Augen, glühend wie bei einem Raubtier, gingen von dem Manne im grünen Habit, der auf dem bemoosten Grenzhügel saß, zu der Waffe hin, die in dem engen Loch dicht neben seinen Knien stand … Der Grüne dort drüben ahnte gewiß nicht, wie seines Feindes Hand im Mordgelüst nach dem Gewehr zuckte.
Nun redete Ebel und bewies, daß das Gericht bei so wenig schlüssigem Beweismittel gar nicht anders gekonnt habe und den Schmahl einfach hätte freigeben müssen! Aber dann setzte der Gendarm hinzu:
»Geschenkt ist es ihm darum noch nich! … Erst vorgestern hat mich Herr Staatsanwalt Herder zu sich ins Zimmer rufen lassen, wie ich auf dem Gericht war … ich hatte doch den Termin, wegen Faber … Sie wissen doch, der Fahnenflüchtige! …«
»Ja, ja,« nickte Domnus, »was wollte der Staatsanwalt denn von Ihnen?«
»Er hat mich gebeten, ich soll nich nachlassen, mit dem … mit dem Schmahl … und ich würde eine Belohnung kriegen, dafor wollte er sorgen, der Herr Staatsanwalt … das is aber gar nicht nötig … ich bin schon hinterher, hinter ihm, wie der Deubel hinter der armen Seele! … Und Sie wer'n mal sehn, Domnus, ich krieg'n eines Tages doch noch!«
»Na, das gebe Gott! Daß so'n Ungeheuer weg kommt! Und meine Hirsche, die werden's Ihnen auch danken! … Vielleicht kann ich Ihnen sogar helfen! Jedenfalls bin ich immer da, wenn Sie mich brauchen!«
Der Förster war aufgestanden. Die Männer gingen weiter, die Grenze hinauf. Und verschwanden zwischen den hochstämmigen Kiefern, die das letzte Licht der scheidenden Sonne mit ihren bestrahlten Wipfeln tranken.
Keiner von den beiden hatte eine Ahnung, daß die Mündung eines Büchslaufes, so lange sie noch zu sehen waren, abwechselnd bald auf den einen, bald auf den andern zielte.