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Eine einzige Person schlief nicht, vielleicht die einzige in der Vehfreude: das war Änneli im Nägeliboden. Dem armen Mädchen war die Behandlung, welche es ertragen mußte, tief ins Herz gegangen. Schwester und Schwager hatten den Spektakel vom Dürluft herab wohl gehört, ihm jedoch keine große Bedeutung beigelegt. Sepp hatte gesagt, als Bethi ihm erzählt hatte, was dem Buben begegnet und wie er sich betragen: »Macht der es noch einmal, so strecke ich ihm die Haare, daß er weiß, wie lang sie sind; daneben ist sich der Leute wenig zu achten, es weiß jedermann, wer sie sind und was die Frau kann, wenn sie abkommt.«
So sprach Sepp, und im Allgemeinen hätte er recht gehabt, aber in diesem besondern Falle war es anders. So eine Hexengeschichte ist ein Herrenfressen für so eine Dorfschaft wie die Vehfreude, welches man nicht von der Hand weist, und dieser Fall war gar zu glaubwürdig und zu schön. Änneli hatte diese Erfahrung gemacht, aber es daheim nicht gesagt. Es besaß eine von den Naturen, welche das wunderbare Gefühl im Herzen haben, welches weiß, was Andern wohl oder weh tut, daher alles zu meiden weiß in Wort und Werk, womit es Andere verletzen könnte. Änneli verehrte seine Schwester mehr als eine Mutter. Es war das jüngste Kind seiner Eltern; als diese starben und nichts hinterließen, wurde es verdingt, kam aber zu bösen, harten Leuten, wo es sein weniges Brot unter Tränen und Schlägen aß. Es hätte nichts brauchen sollen, den Lohn hätten sie ohne Abzug haben mögen. Die Härte tat ihm unaussprechlich weh, es betete oft, der liebe Gott möchte ihm doch einmal ein freundliches Wort geben lassen, an dem wollte es dann wohlleben lange, lange. Da erschien eines Tages ein schönes, junges Weib und sagte, es wolle das Mädchen mit sich nehmen. Es war Bethi, die Schwester, aber Änneli erschien sie wie ein Engel vom Himmel, als das lebendige, freundliche Wort, welches Gott ihm in sein Elend gesendet. Und als der Engel es aus der Verbannung, aus der Wüste führte, war es dem armen Änneli wirklich, als komme es in ein Paradies und besser könne man es im Himmel nicht haben. Es mußte streng arbeiten, Essen und Kleider waren nicht köstlich, aber man hatte ihns lieb, gab ihm freundliche Worte; es sah, man war mit ihm zufrieden, es konnte es ihnen treffen, sie gönnten ihm mehr, als es brauchte, sein kleines Herz konnte wirklich sein großes Glück kaum fassen. Nur dann hatte es böse Stunden, wenn es glaubte, seiner Schwester etwas nicht recht gemacht zu haben, oder wenn trübe Wolken auf Bethis Stirn lagen. Das gute Mädchen wußte nicht, wie viel Kummer so ein junges Weib ausstehen muß, wenn sie so fast nur dr Gottswillen auf einem Hofe ist und jeder Wind sie davonwehen kann. Da meinte es, es sei an den Wolken schuld und Bethi böse über ihns; dann ward sein Herz voll Tränen und Elend, daß es hätte sterben mögen. Kurz Änneli hatte von den Herzen eins, die selten sind, aber wunderlieblich, die schnell verwelken in rauhen Winden, aber wunderherrlich blühen in der Liebe Licht und Wärme. Solche Herzen macht weder die Schneiderin noch die Gouvernante, weder Papa noch Mama, die gibt Gott allein, und wem er will.
Änneli ward zur Milchträgerin erwählt, weil man es um diese Tageszeit am besten entbehren konnte, und es tat es gern, weil es sah, daß es seinen Leuten ein großer Gefallen war. Sepp hatte natürlich so wenig Leute als möglich. Wo viel Schulden sind, sucht man Dienstenlöhne zu ersparen, wie man kann und mag, um das Geld an Zinse zu wenden. Ihre Kinder waren noch nicht groß genug dazu, Knecht und Magd sonst notwendig, Änneli, die eigentliche Kindermagd, entbehrlich, da die ältern Kinder doch schon so groß waren, daß sie die kleinern so bösdings eine Zeitlang überwachen konnten.
Man kann sich nun denken, wie es Änneli war, als es am Morgen des ersten Tages mit Beschimpfungen zuhanden seiner Schwester überflutet wurde, eine Hexe sein mußte, von allen es hören mußte, ohne daß jemand ihns in Schutz nahm, niemand Mitleid mit ihm hatte. »Plär nur, hast recht, ich plärete auch, wenn ich eine Hexe zur Schwester hätte und vielleicht selbst eine wäre«, sagte man ihm, als es bitterlich weinte, wahrscheinlich um ihns zu trösten.
Das alles wollte das arme Kind der Schwester nicht sagen, um sie nicht zu betrüben. Es glaubte, es müßte sie fast töten, wenn sie höre, was das ganze Dorf sage. Es durfte aber auch das Milchtragen nicht verweigern, es hätte den Grund angeben müssen, und wer sollte sie dann tragen? Darum weinte das arme Kind und schlief nicht. Am Morgen mußte es, wenn es bald sechse war, wieder dran, Spießruten zu laufen hin und her, vom Nägeliboden in die Käserei und wieder zurück, und am Abend wieder und am nächsten Morgen wieder. Das war ein hartes Leiden, und noch dazu still, schweigend es zu tragen!
Am folgenden Morgen ging es allerdings wieder in ähnlicher Weise. Die wilde Jugend kennt nicht Tugend, und was die Alten sungen, das zwitschern die Jungen. Wer nicht dabei war, macht sich eigentlich keinen Begriff, was so eine unbeaufsichtigte Jugend für Mäuler hat und noch dazu, wenn sie sich berechtigt glaubt. In der Hütte selbst mußte man schweigen, desto lauter ging es auf dem Hin- und Herweg. Der wüste Dürluftbub begnügte sich nicht mit bloßen Worten, sondern trieb auch sein Lieblingswerk, warf mit Steinen nach Änneli, und ein wildes Gelächter ertönte, wenn einer traf oder gar laut prätschte an der Bränte.
Vom Felde her, wohin er Jauche gebracht, kam des Ammanns Sohn mit der Bütte gefahren. Es war ein großer, derber Bengel, so recht des Ammanns Sohn, der in des Vaters Fußstapfen einherwandelte und alle Eigenschaften hatte, wenn der Vater Platz machte, ein ebenso guter Dorfmagnat oder -monarch zu werden, als der Vater es gewesen war. Er machte, was ihm ankam, fragte nicht, ging es wohl oder übel, war eigentlich sparsam, aber wenn es darauf ankam, zu zeigen, daß er des Ammanns Sohn sei, so verklopfte er Geld, so viel man wollte. Er liebte die Prügeleien, hatte dabei förmliche Vasallen, welche mit zuschlagen mußten, sie mochten wollen oder nicht, und wenn sie sagten, dies oder jenes könne Geld kosten, so erwiderte er, wo er sei, da sei immer jemand, der zahle. Und obschon des Ammanns leibhaftiger Sohn, hatte er doch die größte Freude daran, Gebote und Gesetze nicht bloß zu übertreten, sondern auch zu verhöhnen, so recht zu zeigen: so einer wie er schere sich um nichts, und was für Andere verboten sei, das sei ihm erlaubt. Er war ein Vorrechtler von der allerlautersten Sorte. Der Ammann ward manchmal böse, wenn wieder ein neues Stücklein ausbrach und er mit seinen ergraueten Silberstücken an die Sonne mußte, um seines Söhnchens Streiche gutzumachen. Aber die Frau Ammännin nahm sich immer seiner an; er hatte seines Vaters Zorn nicht zu fürchten, er war, genau genommen, die souveränste Person in der Vehfreude, denn er regierte seine Mutter, diese den Vater und dieser das ganze Dorf. Aber Felix war denn doch kein böser Bursche, wie Meisterlös gerne werden, er hatte ein gutes Herz, wie man zu sagen pflegt. Er war bei seinem Vater der Fürsprecher armer Leute. Wenn sie ihn baten, ihnen Holz zu fahren oder zu ackern, so machte er es möglich, tat es gern selbst, nahm kein Trinkgeld wie mancher reiche Bauernsohn und je mehr, je lieber, und wenn sie ein Abendbrot oder ein zImis (Imbiß) aufstellten, fraß und soff er nicht auf den Geiz hin noch einmal mehr als sonst, das alles tat er nicht. Er war daher wirklich auch vielen Leuten lieb. Wohl wild sei er, daneben aber ein Guter, hieß es. Wenn der mal an die Regierung komme, gehe es vielen Leuten wohl, der meine nicht, er müsse vorabfressen und erst das, was er nicht mehr möge, könnten die Andern nehmen. Kenntnisse, Bildungstrieb usw. hatte Felix durchaus nicht. Der Schulmeister sagte immer, dem komme es wohl, daß er des Ammanns Sohn sei, denn wäre er es nicht, es wäre keinem Menschen eingefallen, ihm das Schreiben und Rechnen zu zeigen.
Dieser also war es, der mit Rossen vom Felde kam und dem Spektakel von weitem mit Lachen entgegenfuhr. Er hatte von der Hexengeschichte gehört, sie hatte ihn belustigt. Ob er daran glaube oder nicht, das wußte er selbst nicht; er hatte noch nicht darüber nachgedacht, sie hatte ihn nicht persönlich berührt. Übrigens lag ein großer Haufen Aberglauben in ihm aufgeschichtet, er wußte selbst nicht wie groß; je nachdem dieses oder jenes Stück berührt wurde, ward es lebendig, trat ihm ins Bewußtsein, er urteilte und handelte darnach. Als er dem Mädchen näher kam, sah er, daß es weinte, sah, wie ein Stein über die Bräute weg ihns an den Kopf traf. Da ward das gute Herz in ihm wach, er rief den Buben zu: »Jetzt ists gut, und daß mir Keiner mehr werfe!« Die Buben hatten aber bereits wieder Steine in Händen und waren es ihr Lebtag nie gewohnt, aufs erste Wort zu gehorchen, warfen wieder, und einer von ihnen traf eins der Rosse. Dieses ward wild, das andere sympathisierte, und Felix mußte sie aus allen Kräften halten, während er fluchte in einer Zeile, man wußte nicht, galt es den Buben oder den Rossen. Laut hinter ihm her scholl der Jubel der Buben über den Zorn des wütenden Felix, der von seinen Rossen fortgerissen wurde und die Jungen nicht peitschen konnte, wie guten Willen dazu er auch zeigte. Solche Buben denken an keine Folgen, sie haben Freude am augenblicklichen Kitzel. Was aus einem Bubenstück entstehen kann und wen sie damit beleidigen, daran denken sie gar nicht, wenn sie nur ihr Mütchen kühlen und lachen können. Hintendrein heulen sie dann wohl, aber nicht wegen dem Verstand, sondern wegen der Rute.
Ammanns Felix war nicht derjenige, welcher sich ungestraft auslachen ließ; zudem war der Spaß gefährlich und hätte mit seinen wilden Rossen ihm leicht den Hals kosten können, aber an so was denken eben Buben nicht. Änneli hatte Angst um den Felix, der den Buben abgewehrt. Er war der erste vernünftige Mensch, welcher sich seiner angenommen, und dankbar, wie es war, freute ihn das mehr, als das angetane Leid ihns geschmerzt hatte. Wenn es dem doch einmal etwas zu Gefallen tun könnte, dachte es. Aber was sollte so ein armes Mädchen Ammanns Felix tun! Pantoffeln brodieren oder einen Tabaksbeutel häkeln war noch nicht Mode in der Vehfreude.
Das Lämplein der Dankbarkeit brannte in Ännelis Herzen. Und wo so ein Lichtlein angegangen ist, meint man, dem, dem es brennt, sollte man es auch zeigen können alsbald, und kann es so oft nicht; es ist auch besser so. Gar oft würde der, dem es brennt, es wieder ausblasen, würde vielleicht die Zigarre daran anzünden wollen, würde seine Eitelkeit daran wärmen, sein bestes Tun mit Sünden beflecken. Wenn ein Großer gestorben ist in erhelltem Zimmer, schmückt man ihn, setzt ihn aus in weitem Saale, helle Kerzen brennen ringsum, und zum Tage wird die Nacht. Ach, wie schön muß es sein, wenn aus dunkelm Leibe der Herr eine gute Seele löset und sie trägt in seinen weiten, hellen Himmelssaal und rings um sie die hellen Lichtlein der Dankbarkeit stellet, welche für sie gebrannt in den Herzen ihrer Nächsten, in den Herzen aller, die sie kannten, Lichtlein, die sie nicht gesehen, von deren Sein sie nichts wußte. Wenn sie hell und freudig brennen ringsum und mit leisem Hauche dann der Herr den Schläfer wecket, und dieser sieht sich im himmlischen Saale und ringsum die freundlichen Lichtlein brennen, die ihn verklären mit himmlischem Glanze – ach, was muß das für ein seliges Erwachen sein, welche Wonne, wenn so herrlich offenbar wird, was Gott mit gütiger, weiser Hand verhüllt hatte! Manchmal geht es so, manchmal ganz anders und allemal, wie Gott es will.