Autorenseite

   weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Teil

 

I. Kapitel

Charles Clare Winton verließ das Standesamt von St. Georg. Er schritt langsam hinter dem Taxameter her, der seine Tochter und den »Geigerkerl«, den sie soeben geheiratet hatte, fortführte. Seine Würde verbot ihm, mit dem einzigen anderen Trauzeugen – der Kinderfrau Betty – zu gehen. Eine dicke, tiefgerührte Frauensperson wäre keine passende Gefährtin für ihn gewesen, dessen schlanke, gerade Gestalt, leichter, biegsamer Gang den einstigen Offizier selbst jetzt nach sechzehn Jahren noch erkennen ließ.

Arme Betty! Er gedachte ihrer mit gereizter Teilnahme – sie hätte wirklich nicht an der Türschwelle in Tränen auszubrechen brauchen. Freilich wird sie sich nun, da Gyp fort ist, recht verloren vorkommen, doch lange nicht so verloren und einsam wie er selbst. Seine in einem hellen Handschuh steckende Hand, seine einzige wirkliche Hand, denn die rechte war am Gelenk amputiert, zwirbelte ungeduldig den kleinen, leicht ergrauten, ein wenig aufstrebenden Schnurrbart, der zum Teil die energischen Lippen verdeckte. An diesem grauen Februartag trug er keinen Überrock, hatte auch, wegen der fast verschämten Stille der Hochzeit, weder schwarzen Rock noch Zylinder angelegt, sondern trug einen blauen Anzug und steifen Filzhut. An diesem dunkeln Tag seines Lebens verließ ihn der Instinkt des Soldaten und Parforcereiters nicht; er verriet keines seiner Gefühle, kniff aber unruhig die graubraunen Augen zusammen, um sie gleich darauf wieder zu öffnen, zornig vor sich hinzublicken und sie von neuem zusammenzukneifen. Bisweilen schienen sie dunkler zu werden, tiefer in die Höhlen einzusinken. Sein Gesicht war schmal, wettergebräunt, mager, mit scharf umrissenem Kinn, kleinen Ohren; das Haar war dunkler als der Schnurrbart und nur an den Seiten ein wenig ergraut – es war das Gesicht eines Tatmenschen, selbstbewußt, sicher. Seine Haltung war die eines Mannes, der stets auf Eleganz und Form gehalten hat, aber wußte, daß es darüber hinaus noch andere Dinge gibt; eines Mannes, der wohl alle Züge eines bestimmten Gesellschaftstypus bewahrt hat, aber trotzdem etwas verrät, das nicht zum Typus gehört.

Den Park durchschreitend, strebte er der Mount-Straße zu. Hier stand noch das Haus, – obwohl sich die Straße sehr verändert hatte, – das Haus, vor dem er im Nebel eines fernen Novembernachmittags friedlos wie ein Geist, verloren wie ein ausgestoßener Hund, ruhelos auf und ab geschritten war. Das war vor dreiundzwanzig Jahren gewesen, damals, als Gyp geboren wurde. An der Tür hatte er dann erfahren – er, der kein Recht hatte, einzutreten, er, der liebte, wie noch nie ein Mann eine Frau geliebt –, daß sie tot – bei der Geburt des Kindes gestorben sei, des Kindes, von dem nur er und sie wußten, daß es ihr Kind sei. Stundenlang durch den Nebel zu irren, zu wissen, daß ihre schwere Stunde gekommen sei, um schließlich das zu erfahren! … Von allen Schicksalen, die einen Menschen treffen können, ist wahrlich das schrecklichste: Zu sehr zu lieben.

Seltsam, daß ihn gerade heute, nach seinem neuen Verlust, der Weg hier vorüberführte. Verfluchtes Pech, daß die Gicht ihn im vorigen September nach Wiesbaden getrieben! Verfluchtes Pech, daß dieser Kerl, dieser Fiorsen, mit seiner verhängnisvollen Geige Gyp je unter die Augen gekommen war!

Seitdem er, vor fünfzehn Jahren, Gyp zu sich genommen, hatte er sich niemals so verlassen, so zu allem unfähig gefühlt. Er wird morgen nach Mildenham zurückkehren, sehen, ob ihm ein paar scharfe Ritte nicht gut tun. Ohne Gyp – ohne Gyp sein zu müssen! Ein Geiger! Ein Mensch, der sein Lebtag auf keinem Pferd gesessen hatte!

Er hieb mit dem Stock etlichemal zornig durch die Luft, als ob er einen Menschen entzweischnitte.

Niemals war ihm sein Klub in der Nähe der Hydepark-Ecke so trostlos erschienen. Aus reiner Gewohnheit begab er sich ins Spielzimmer. Der Nachmittag war so finster, daß bereits das elektrische Licht brannte; das gewohnte Dutzend Kartenspieler saß an den dunklen Tischen, die Lichtstrahlen fielen gedämpft auf die Stuhllehnen, Karten und Gläser, die kleinen vergoldeten Kaffeetassen, auf die polierten Nägel zigarrenhaltender Finger. Ein Bekannter forderte ihn zu einer Partie Pikett auf. Gleichgültig ließ er sich an einem der Tische nieder. Bridge hatte stets seinen verfeinerten Geschmack angewidert – ein verstümmeltes, armseliges Spiel! Poker hatte etwas Marktschreierisches! Pikett, obwohl es altmodisch geworden, blieb für ihn das einzig mögliche Spiel – das einzige, das noch einen gewissen Stil besaß. Er hatte gute Karten, erhob sich mit einem Gewinn von fünf Pfund, die er gerne bezahlt hätte, um der Langenweile des Spieles zu entgehen.

Wo sie wohl jetzt sind? Schon über Newbury hinaus … Gyp sitzt dem Schweden mit den grünen Wildkatzenaugen gegenüber. Er hat etwas so Hinterlistiges, Ausländisches! Ein übler Kerl – wenn er, Winton, sich auf Pferde oder Menschen versteht! Gottlob, daß Gyps Geld, jeder Penny, sichergestellt ist. Ein Gefühl, das an Eifersucht grenzte, packte ihn, wenn er daran dachte, daß die Arme dieses Menschen sich um seine seidenhaarige, dunkeläugige Tochter schlingen würden – um das hübsche, schmiegsame Geschöpf, dessen Gesicht und Gestalt so sehr jener Frau ähnelten, die er so heiß geliebt hatte.

Als er das Spielzimmer verließ, folgten ihm viele Blicke, denn er war ein Mann, der in anderen Männern eine gewisse Bewunderung wachrief – ohne daß sie selbst wußten, weshalb. Viele andere, die als Sportsleute den gleichen Ruf besaßen, erregten nicht so viel Aufmerksamkeit. War es die Eigenart, die von seinem Typus abwich, – das Brandmal der Vergangenheit?

Den Klub verlassend, schritt er langsam durch Piccadilly heimwärts, zu dem Hause in der Bury-Straße, in dem Viertel von St. James, wo er seit seiner Jugend wohnte, einem der wenigen Häuser, die von der allgemeinen Londoner Sucht, abzureißen und neu aufzubauen, wodurch seiner Ansicht nach die ganze Stadt häßlich wurde, verschont geblieben war.

Ein schweigsamer Mann mit den sanften, flinken, dunklen Augen einer Schnepfe, einer langen grünlichen gestrickten Weste, schwarzem Cutaway und engen, von Stegen gehaltenen Hosen, öffnete die Tür.

»Ich gehe heut nicht mehr aus, Markey. Frau Markey soll mir ein Diner bereiten, – irgend etwas.«

Markey drückte durch eine Gebärde aus, daß er verstanden habe. Die braunen Augen unter den zusammengewachsenen, eine lange dunkle Linie bildenden Brauen betrachteten seinen Herrn von oben bis unten. Bereits gestern hatte er zustimmend genickt, da seine Frau sagte, der Herr werde es sich sehr zu Herzen nehmen. Während er sich in die hinteren Räumlichkeiten begab, schüttelte er den Kopf in der Richtung der Straße und machte dann nach aufwärts eine Handbewegung, durch die Frau Markey, eine kluge Frau, verstand, daß sie ausgehen müsse, um einzukaufen, weil der Herr zu Hause speisen wolle. Nachdem sie gegangen war, setzte Markey sich Betty, Gyps alter Kinderfrau, gegenüber. Die beleibte Frau weinte noch immer leise vor sich hin. Dies berührte ihn schmerzlich; am liebsten hätte auch er gleich einem Hunde geheult. Nachdem er eine Weile schweigend das breite, rosige, tränenüberströmte Gesicht betrachtet hatte, schüttelte er mißbilligend den Kopf. Mit einem letzten Aufschluchzen und Erbeben ihres behäbigen Körpers hörte Betty zu weinen auf. Markey mußte man gehorchen! …

Winton begab sich zuerst in das Schlafzimmer seiner Tochter, strich mit der Hand über die Seidendecke des verlassenen Bettes und blickte zerstreut in einen vergessenen Silberspiegel und riß dabei ärgerlich an seinem kleinen Schnurrbart. In seinem Arbeitszimmer setzte er sich, ohne das Licht anzuknipsen, vors Feuer. Hätte ihn jemand gesehen, er würde geglaubt haben, Winton schlafe, doch der behagliche, einschläfernde Einfluß des tiefen Sessels und des traulichen Feuers hatten ihm längst vergangene Tage zurückgezaubert. Welch unglücklicher Zufall hatte ihn gerade heute an ihrem Hause vorübergeführt!

In der Theorie gibt es kaum einen Fall, in dem der Mensch – wenigstens ein Mann – durch eine einzige Liebe den Bankrott der Leidenschaft erlitte. In der Praxis hingegen gibt es derartige Männer – Alles- oder Nichts-Menschen –, stille, selbstbeherrschte Persönlichkeiten, die letzten, die erwarteten, daß ihnen die Natur solch einen Streich spiele, die letzten, die bereit wären, sich selbst aufzugeben, und die nicht einmal wissen, wenn sie ihr Schicksal ereilt hat.

Wer war seiner eigenen und der Ansicht anderer nach weniger geeignet, sich Hals über Kopf zu verlieben, als jener Charles Clare Winton, der vor dreiundzwanzig Jahren den Ballsaal der Belvoir-Parforcegesellschaft betrat? Ein eifriger Soldat, ein Elegant, ein vorzüglicher Parforcereiter, in seinem Regiment fast sprichwörtlich durch seine Gelassenheit und eine gewisse höfliche Nichtachtung der Frauen, die er zu den belanglosen Dingen des Lebens rechnete, – hatte er damals an der Tür gestanden, ohne rechte Lust zum Tanzen, hatte alles mit jenem eigenartigen Blick betrachtet, der nur deshalb nicht arrogant wirkte, weil er so natürlich war. Und siehe, sie schritt vorüber, und seine Welt hatte sich für immer verändert. War es eine Wirkung ihrer strahlenden Augen, die ihn in dem halberstaunten Blick ihr ganzes Wesen erkennen ließ? Oder ihre Art, zu schreiten, die schmiegsame, verführerische Körperhaltung, das wellige Haar, der zarte, blumenhafte Duft? Was war es? …

Sie war die Frau eines Gutsbesitzers aus der Umgebung, der in London ein Haus besaß. Es gab keine Entschuldigung – sie war keine mißhandelte Frau, ihre Ehe eine gewöhnliche, seit drei Jahren währende kinderlose Alltagsehe. Der Mann ein liebenswürdiger, gutmütiger Mensch, fünfzehn Jahre älter als sie, ein wenig kränklich. Es gab keine Entschuldigung! Und dennoch waren Winton und sie einen Monat später Liebende, nicht nur in Gedanken. Das Ganze war so vollkommen gegen den »Anstand«, gegen alle seine Gefühle als Offizier und Gentleman, daß er nicht einmal das Für und Wider in Erwägung zog. Es gab kein Für, das Wider besiegte es auf der ganzen Linie. Trotzdem gehörte er von jenem ersten Abend an ihr, und sie ihm. Jeder von ihnen hatte bloß den einen Gedanken: mit dem anderen zusammen zu sein. Weshalb gingen sie nicht zusammen fort? Keineswegs, weil er sie darum nicht angefleht hätte. Und würde sie Gyps Geburt überlebt haben, so wäre es dazu gekommen. Vorher war der Gedanke, das Leben zweier Menschen zu zerstören, gar zu erschreckend für dieses weichherzige Wesen. Der Tod hatte ihr Ringen beendet, ehe sie einen Entschluß gefaßt hatte. Sie gehörte zu jenen Frauen, bei denen völlige Hingabe mit einer zweifelnden Seele Hand in Hand geht. Es sind meistens die reizendsten ihres Geschlechts; die Fähigkeit des harten, raschen Entschlusses beraubt die Frau des Geheimnisvollen, der zarten Atmosphäre, die aus Wechsel und Zufall gewebt ist. Obgleich sie nur ein Viertel ausländischen Blutes hatte, war sie gar nicht englisch. Winton dagegen war englisch bis ins innerste Mark, englisch in seiner Verehrung der Konvention, in der seltsamen Eigenheit, die wohl einmal in völliger Verzweiflung die äußere Form in Scherben schlägt, sie am liebsten aber gänzlich unversehrt erhält. Niemandem wäre es eingefallen, Winton »exzentrisch« zu nennen – stets war sein Haar peinlich ordentlich gescheitelt, seine Stiefel glänzten; er war hart und zurückhaltend, unterwarf sich jeder Regel der Vornehmheit und befolgte sie aufs strengste. Und dennoch verlor er in dieser einen Leidenschaft allen Sinn für die Welt und ihre Meinung. Wenngleich er in diesem einen Liebesjahr stündlich sein Leben und seine Laufbahn aufs Spiel gesetzt hatte, um auch nur einen Tag ganz mit ihr verbringen zu können, hatte er sie dennoch weder durch ein Wort noch einen Blick kompromittiert. Er hatte diese peinliche Rücksicht auf ihre »Ehre« bis zu einem Punkte getrieben, der ihm bitterer war als der Tod, hatte ihr gestattet, ihrem Kinde den Anschein der Legitimität zu geben. Dieses Bezahlen seiner Schuld war die tapferste Tat seines Lebens; heute noch erbitterte ihn die Erinnerung daran.

In dieses Zimmer war er zurückgekehrt, nachdem er ihren Tod erfahren, in dieses Zimmer, das er ihrem Geschmack gemäß eingerichtet hatte, so daß es jetzt noch mit seinen seidenbezogenen Stühlen, dem graziösen kleinen Schreibtisch, der alten kupfernen Hängelampe und dem weichen Diwan gar nicht recht für einen Junggesellen paßte. Damals hatte auf jenem Tisch ein Brief gelegen, der ihn zu seinem Regiment zurückrief. Hätte er geahnt, was er würde leiden müssen, ehe er dort draußen, wohin sein Regiment kommandiert war, den Versuch machen konnte, sein Leben wegzuwerfen, er hätte sich sicherlich das Leben genommen, hier, in diesem Lehnstuhl vor dem Feuer. Der kleine Krieg brachte ihm nicht das ersehnte Glück – brachte ihm nur Auszeichnung. Als der Krieg beendet war, lebte er weiter, mit ein wenig mehr Runzeln im Gesicht, ein wenig mehr Narben im Herzen, versah seinen Dienst, ging auf die Tiger- und Eberjagd, spielte Polo, ritt eifriger denn je die Parforcejagden mit, versagte der Welt jegliches Gefühl und errang die eigenartige, unruhige Bewunderung, die die Menschen jenen zollen, die Tollkühnheit mit eisiger Kälte vereinen. Da er noch schweigsamer war als die meisten seiner Landsleute, niemals ein Wort über Frauen verlor, wurde er, obgleich er allen Frauen auswich, nicht als Frauenfeind betrachtet. Nachdem er sechs Jahre in Indien und Ägypten gedient hatte, verlor er seine rechte Hand bei einem Angriff auf die Derwische und sah sich gezwungen, mit vierunddreißig Jahren als Major den Dienst zu quittieren. Lange Zeit hatte er den bloßen Gedanken an das Kind gehaßt – sein Kind, bei dessen Geburt die geliebte Frau gestorben war. Dann veränderten seine Gefühle sich; bereits drei Jahre vor seiner Rückkehr nach England sandte er allerlei Kleinigkeiten, die er in den Basars gekauft hatte, als Spielzeug für die Kleine heim. Ungefähr zweimal im Jahr erhielt er einen Brief von dem Manne, der sich für Gyps Vater hielt. Diese Briefe beantwortete er. Der Gutsbesitzer hatte sie liebgehabt, und obschon Winton niemals an die Möglichkeit dachte, daß er anders hätte handeln können, verlor er nie das Gefühl des Unrechts, das er diesem Manne angetan hatte. Er empfand keine Reue, nur das peinliche Gefühl einer unbeglichenen Schuld, gemildert durch das Bewußtsein, daß niemand Verdacht geschöpft hatte, sowie durch die Erinnerung an die furchtbare Qual, die er erduldet hatte, damit dieser Verdacht nicht aufkommen könne.

Als er nach England zurückgekehrt war, besuchte ihn der Gutsbesitzer. Der arme Mann ging infolge eines Nierenleidens rasch seinem Ende entgegen. Winton betrat das Haus in der Mount-Straße wieder, mit einer Erschütterung, die zu meistern mehr Mut erforderte als eine Kavallerieattacke. Doch darf einer, der das Herz am rechten Fleck hat – so pflegte er dies zu bezeichnen –, seinen Nerven kein Beben gestatten, und er ertrug den Anblick der Zimmer, in denen er sie zuletzt gesehen hatte, ertrug das einsame kleine Diner mit ihrem Manne, ohne das geringste Gefühl zu verraten. Die kleine Ghita – Gyp, wie sie sich selbst nannte – sah er nicht, da sie bereits im Bett war. Es währte einen ganzen Monat, bis er den Entschluß faßte, das Haus zu einer Zeit zu betreten, da er, wenn er wollte, das Kind sehen konnte. Er hatte Angst. Welche Gefühle würde der Anblick des kleinen Geschöpfes in ihm wachrufen? Als Betty, die Kinderfrau, Gyp in den Salon brachte, damit sie dem Herrn mit der »ledernen Hand«, der ihr das drollige Spielzeug geschickt, guten Tag sage, blieb sie ruhig vor ihm stehen und starrte ihn gelassen mit großen dunkelbraunen Augen an. Da sie sieben Jahre alt war, reichte das kleine braune Samtkleid nur bis zu den Knien der dünnen, braunbestrumpften Beinchen; sie stellte das eine Bein vor das andere, wie ein kleiner, brauner Vogel. Das Oval des ernsten, staunenden Gesichtes hatte eine warme Milchfarbe, ohne eine Spur von Rot, außer den Lippen, die weder schmal noch voll waren, eine kleine Falte und ein winziges Grübchen aufwiesen. Das braune Haar war frisch gebürstet und mit einem schmalen roten Band aus der Stirn zurückgebunden, die, breit und ein wenig niedrig, den ernsten Ausdruck des Gesichtes verstärkte. Die Augenbrauen waren fein, dunkel, regelmäßig gezogen, die kleine Nase vollkommen gerade, das kleine Kinn hielt gerade die richtige Mitte zwischen Rund und Spitz. Sie stand ganz unbeweglich, starrte, bis Winton ihr zulächelte. Dann wich der Ernst aus ihrem Gesicht, die Lippen öffneten sich, die Augen schienen zu flattern. Und Wintons Herz erbebte – sie war das echte Kind der Frau, die er verloren hatte. Seine Stimme zitterte ein wenig, als er sagte: »Nun, Gyp?«

»Danke für die Spielsachen, ich mag sie gern.«

Er hielt ihr die Hand hin, sie legte die kleine Hand in die seine. Ein Trostgefühl, als ob jemand sein Herz streichle, überkam Winton. Ganz sanft, um das Kind nicht zu erschrecken, hob er die Hand an seine Lippen und küßte sie. Vielleicht war es ein mystisches Wiedererkennen, denn Gyp, so empfindsam wie nur ein Kind sein kann, hatte ein tiefes instinktives Gefühl der Zusammengehörigkeit, – jedenfalls gewann er in diesem Augenblick Gyps Herz, und sie liebte ihn mit jener heftigen Zuneigung, die Kinder oft für die unwahrscheinlichsten Menschen fassen.

Er besuchte sie, wenn er wußte, daß der Gutsbesitzer schlafe, zwischen zwei und fünf. Wenn er mit Gyp zusammengewesen, mit ihr im Park spazierengegangen oder geritten war, oder an Regentagen, Märchen erzählend, in dem einsamen Kinderzimmer gesessen hatte, während die dicke Betty ihn wie hypnotisiert anstierte, einen merkwürdig fragenden Ausdruck auf dem gutmütigen Gesicht – nach solchen Stunden fiel es ihm schwer, in das Arbeitszimmer des Gutsbesitzers zu gehen und ihm rauchend gegenüberzusitzen. Allzusehr erinnerten ihn diese Zusammenkünfte an vergangene Tage, da er sich so verzweifelt hatte zusammennehmen müssen. Der andere empfing ihn freudig, sah nichts, fühlte nichts, war dankbar für die Güte gegen das Kind. Als er im folgenden Frühjahr starb, erfuhr Winton, daß er ihn zu Gyps Vormund und Vermögensverwalter eingesetzt habe. Seit dem Tode seiner Frau waren die Verhältnisse des Gutsbesitzers zerrüttet, das Gut war mit Hypotheken schwer belastet; doch Winton nahm das Amt mit fast wilder Genugtuung an und begann von diesem Augenblick ab zu planen, wie er Gyp ganz für sich haben könnte. Das Haus in der Mount-Straße wurde verkauft, das Gut in Lincolnshire verpachtet, Gyp und Betty wurden in Wintons Jagdhaus in Mildenham untergebracht. In seinem Bestreben, das Kind von den Verwandten des Gutsbesitzers fernzuhalten, scheute er nicht davor zurück, mit allen Kräften seine Unnahbarkeit auszunutzen. Er war zu niemandem unhöflich, aber eiskalt gegen alle. Da sein eigenes Vermögen beträchtlich war, konnte niemand seine Motive anzweifeln. Im Verlauf eines Jahres hatte er das Kind von allen Leuten, die dicke Betty ausgenommen, isoliert. Er brauchte sich keine Gewissensbisse zu machen, denn Gyp vermochte ebensowenig ohne ihn glücklich zu sein wie er ohne sie. Eines Tages beschloß er, die Kleine solle zumindest in Mildenham seinen Namen tragen. Er erteilte Markey den Befehl, daß Gyp fürderhin das kleine Fräulein Winton sein solle. Als er an jenem Tag von der Parforcejagd heimkehrte, erwartete ihn Betty in seinem Studierzimmer. Sie stand in der äußersten Ecke des etwas trübseligen Raumes; ihr rundes, rosiges Gesicht trug Zeichen von Entschlossenheit, die weiße Schürze war arg zerknüllt. Die blauen Augen blickten in einer Art Verzweiflung zu Winton empor.

»Es handelt sich um das, was mir Markey gesagt hat. Mein früherer Herr wäre damit nicht zufrieden gewesen, Herr.«

Im Innersten getroffen, sagte Winton eisig;

»Wirklich?! … Sie werden aber trotzdem die Güte haben, meinem Wunsch nachzukommen.«

Das Gesicht der dicken Frau färbte sich dunkelrot.

»Ja, Herr, doch, was ich gesehen habe, habe ich gesehen! Ich habe nie etwas gesagt, aber ich habe doch Augen im Kopfe. Wenn Fräulein Gyp jetzt Ihren Namen annimmt, Herr, werden die bösen Zungen sich regen, und meine liebe, tote Herrin …«

Der Ausdruck seines Gesichtes ließ sie verstummen.

»Sie werden die Güte haben, Ihre Gedanken für sich zu behalten. Sollte eines Ihrer Worte, eine Ihrer Handlungen auch nur im geringsten zu einem Gerede Anlaß geben – so sind Sie entlassen und werden Gyp nie wiedersehen. Inzwischen werden Sie tun, was ich verlange. Gyp ist meine Adoptivtochter.«

Sie hatte ihn stets ein wenig gefürchtet, niemals aber diesen Ausdruck in seinen Augen gesehen, diesen Ton in seiner Stimme gehört. Sie senkte das Vollmondgesicht und ging, mit zerknüllter Schürze und mit Tränen in den Augen. Und Winton, der am Fenster stand und in der anbrechenden Dunkelheit die vom Südwestwind gepeitschten Blätter beobachtete, trank den bitteren Kelch seines Sieges bis zur Neige. Er hatte niemals ein Recht auf die tote, ewig geliebte Mutter seines Kindes besessen, das Kind aber mußte ihm gehören. Mochten die losen Zungen schwätzen! … Es war die Niederlage aller früheren Vorsicht, der Triumph des natürlichen Instinktes. Seine Augen starrten, schmal werdend, in die Nacht hinaus.


   weiter >>