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Als sie am nächsten Morgen Fiorsen betrachtete, der noch in tiefem Schlafe lag, war ihr erster Gedanke: er sieht aus wie immer. Und plötzlich erschien es ihr merkwürdig, daß sie sich nicht ekelte, auch jetzt noch nicht. Die Sache berührte sie zu tief, als daß sie ihr nur Ekel verursacht hätte, und schien ihr auch zu natürlich. Sie nahm diesen neuen Beweis seiner Maßlosigkeit ohne Zorn hin. Überdies kannte sie ja diese Schwäche ihres Mannes – man kann nicht Kognak trinken und es verbergen.
Geräuschlos stahl sie sich aus dem Bett, nahm seine Stiefel und Kleider, die zerknüllt auf einem Sessel lagen, und trug sie ins Ankleidezimmer. Dort hielt sie sie gegen das Licht, bürstete sie, nahm Nadel und Faden und ihr zerrissenes Kleid und huschte wieder ins Bett. Niemand durfte etwas erfahren, nicht einmal er durfte es wissen. Für einen Augenblick hatte sie die andere, so schrecklich wichtige Sache völlig vergessen. Nun dachte sie plötzlich mit einem Gefühl der Übelkeit daran. Solange sie es verbergen konnte, sollte es niemand wissen – er am allerwenigsten.
Der Morgen verging wie gewöhnlich; als sie jedoch mittags ins Musikzimmer kam, war er nicht da. Sie setzte sich eben zum Lunch, als das Mädchen meldete: »Graf Rosek.«
Erstaunt erhob sich Gyp.
»Sagen Sie, Herr Fiorsen sei nicht zu Hause. Aber … fragen Sie, ob er nicht zum Lunch heraufkommen wolle, und holen Sie eine Flasche Rheinwein.«
In den wenigen Minuten, da sie auf ihren Gast wartete, fühlte Gyp die Aufregung, die den Menschen erfaßt, wenn er eine Wiese betritt, wo ein Stier weidet.
Doch selbst strengste Kritiker hätten Rosek nicht Mangel an Takt vorwerfen können. Er habe gehofft, sagte er, Gustav anzutreffen, und es sei sehr freundlich von ihr, ihn zum Lunch aufzufordern.
Er schien sein Korsett und zumindest einige seiner abstoßenden Eigenheiten abgelegt zu haben. Sein Gesicht war leicht gebräunt, als hätte er es Licht und Sonne ausgesetzt. Seine Reden vermieden die gewöhnlichen zynischen Zweideutigkeiten, er bewunderte ihr »reizendes kleines Haus«, wurde sogar warm, als er von Kunst und Musik sprach. Niemals war er Gyp weniger unsympathisch erschienen. Nach dem Essen gingen sie durch den Garten ins Musikzimmer, und er setzte sich ans Klavier. Er hatte den tiefen, zärtlichen Anschlag, der stählernen Fingern eigen ist, wenn Leidenschaft für den Klang sie bewegt. Gyp saß auf dem Diwan, er konnte sie nicht sehen, und sie blickte ihn staunend an. Er spielte Schumanns Kindermusik. Wie konnte ein Mensch dunkle Absichten haben, der so innige Töne hervorzubringen vermochte? Nach einer Weile sagte sie:
»Graf Rosek!«
»Madame?«
»«Wollen Sie mir sagen, weshalb Sie gestern Daphne Wing hergeschickt haben?«
» Ich?«
»Ja.«
Er drehte sich auf dem Klavierstuhl um, sah ihr gerade ins Gesicht.
»Wenn Sie so fragen, muß ich Ihnen sagen, daß Gustav sehr viel mit ihr zusammenkommt.«
Sie hatte genau diese Antwort erwartet.
Er erhob sich und sagte gelassen:
»Ich freue mich, daß Ihnen nichts daran liegt.«
»Weshalb?«
Auch sie hatte sich erhoben. Obwohl er nur um weniges größer war als sie, empfand sie plötzlich, daß er unter der geckenhaften Kleidung wie aus Stahl war, daß in seinem Gesicht eine ungeheure Willenskraft lag. Ihr Herz pochte rascher.
Er trat auf sie zu.
»Ich bin froh, wenn Sie einsehen, daß die Sache mit Gustav vorbei ist – zu Ende.« Er stockte, merkte, daß er einen falschen Weg eingeschlagen, wußte nicht genau, wo er sich verrechnet habe. Gyp hatte nur gelächelt. Das Blut schoß ihm in die Wangen. »Er ist ein rasch ausgebrannter Vulkan. Ich kenne ihn. Es ist besser, wenn auch Sie ihn kennen.«
»Warum?«
Er erwiderte zwischen den Zähnen: »Damit Sie nicht Ihre Zeit vergeuden; die Liebe harrt Ihrer.« Gyp lächelte.
»Haben Sie ihn gestern aus Liebe zu mir betrunken gemacht?«
»Gyp!« Gyp wandte sich um, doch er stand zwischen ihr und der Tür. »Sie haben ihn nie geliebt; das ist meine Entschuldigung. Sie haben ihm bereits zu viel gegeben – mehr als er wert ist … Ah! Gott! Wie Sie mich quälen! Ich bin wie verhext!«
Er war ganz bleich geworden, seine Augen glühten. Sie fürchtete sich und hielt ihm eben deshalb stand. Sollte sie zur anderen Tür stürzen? Sie fühlte, daß er durch die Intensität seines Blickes ihre Feste zu stürmen versuche – durch eine Art Hypnose, wissend, daß er sie erschreckt habe.
Ob er sich nun wirklich bewegte oder nicht, er schien immer näher zu kommen. Ein entsetzliches Gefühl bemächtigte sich ihrer, als ob er schon die Arme um sie schlänge.
Mit aller Kraft riß sie ihren Blick von dem seinen los und bemerkte plötzlich sein gelocktes Haar. Gewiß war es gebrannt! Fast unhörbar flüsterten ihre Lippen: »Une technique merveilleuse!« Seine Augen wurden unsicher, er öffnete den Mund. Gyp durchschritt das Zimmer, legte die Hand auf die Glocke. Ihre Angst war verschwunden. Wortlos drehte er sich um und trat in den Garten hinaus. Sie sah, wie er über den Rasenplatz ging. Sie hatte ihn mit dem einzigen besiegt, das selbst wilde Leidenschaft nicht erträgt – mit Lächerlichkeit. War es denn möglich, daß sie wirklich Angst gefühlt hatte, in diesem Zweikampf fast unterlegen, schier von diesem Manne beherrscht worden war – in ihrem eigenen Hause, mit den Dienstboten in nächster Nähe?
Der Tag brütete in erster Sommerhitze über dem Garten. Es war Mitte Juni eines schönen Jahres, die Luft einschläfernd, voll Gesumme und Duft.
Gyp saß im Schatten, während die Hündchen sich überkugelten, miteinander spielten. Sie durchforschte ihre kleine Welt nach Trost und einem Gefühl der Sicherheit; es schien ihr, als sei sie von einem heißen, dichten Nebel umgeben, in dem erschreckende Gestalten lauerten, die sie nur durch ihren Stolz fernhielt, und den Willen, nicht hinauszuschreien, daß sie sich fürchte.
Als Fiorsen am Morgen das Haus verließ, ging er so lange zu Fuß, bis er eine freie Autodroschke fand. Sich zurücklehnend, barhäuptig, fuhr er ins ungewisse hinein. Es war dies eine seiner Gewohnheiten, wenn er sich unbehaglich fühlte. Die gleichmäßige Bewegung wirkte beruhigend, und er brauchte heute ein Beruhigungsmittel. Es war ihm, wie den meisten achtundzwanzigjährigen Männern, nichts Neues, in seinem Bett zu erwachen, ohne zu wissen, wie er hineingekommen war, doch war es seit seiner Heirat das erstemal gewesen. Wenn er sich noch schlechter an die vergangene Nacht hätte erinnern können, er hätte sich wohler gefühlt. Doch konnte er sich noch entsinnen, daß er im dunklen Salon gestanden, eine geisterhafte Gyp neben sich gesehen hatte. Und nun hatte er Angst, und wenn er Angst hatte, zeigte er sich, gleich den meisten Leuten, von seiner schlechtesten Seite.
Hätte Gyp den anderen Frauen geglichen, die er kennengelernt, dann würde ihn diese nagende Leidenschaft nicht geplagt haben, es wäre die Sache, wie Rosek sagte, jetzt tatsächlich zu Ende. Aber Fiorsen wußte nur zu gut, daß sie nicht zu Ende sei. Er konnte sich betrinken, sich anderen Ausschweifungen hingeben, dennoch war Gyp es, die seine Sinne erfüllte. Ihre Passivität war ihre Stärke, war das Geheimnis ihrer Anziehungskraft. Es lag in ihr etwas von dem geheimnisvollen Wesen der Natur verborgen, die, selbst wenn sie sich dem fiebrigen Begehren des Menschen hingibt, mit stillem Lächeln abseits bleibt – dem unergründlichen Lächeln der Wälder und Felder am Tage und in der Nacht, der unfaßbaren, sanften Gleichgültigkeit der Blumen, Bäume und Ströme, der Felsen und des Vogelsangs, des ewigen Tönens in Sonnenstrahl und Sternenlicht. Ihre dunklen, halblächelnden Augen lockten ihn, erfüllten ihn mit unstillbarem Durst. Fiorsens Charakter war derart, daß er sofort zurückwich, wenn sich ihm eine geistige Schwierigkeit in den Weg stellte, Auswege suchte, den Versuch machte, seinen verwundeten Egoismus durch Ausschweifungen zu heilen –; er war ein verzogenes Kind, verzweifelt, rührend, abstoßend und dennoch liebenswert, wie verzogene Kinder sind. Da er diesen Stern begehrt und auch bekommen hatte, wußte er nun nicht recht, was damit anfangen, und fühlte, daß er ihm ferner und ferner rücke. Sein Mißerfolg, Gyp geistig nahezukommen, trieb ihn zu Torheiten. Nur seine Arbeit übte eine gewisse Kontrolle über ihn aus. Denn er arbeitete tatsächlich äußerst fleißig, wenn auch hierbei etwas mangelte. Er besaß alle Eigenschaften, um etwas zu erreichen, nur das moralische Rückgrat fehlte, und dies allein hinderte ihn an der wahren – und wie er meinte, wohlverdienten Vollkommenheit. Oft kränkte und ärgerte es ihn, zu sehen, daß irgendein anderer Künstler einen höheren Rang einnahm als er selbst.
Während er durch die Straßen fuhr, dachte er: habe ich gestern etwas getan, was sie kränken konnte? Weshalb habe ich heute früh nicht auf sie gewartet, um das Ärgste zu erfahren? Er lächelte säuerlich – das Ärgste zu erfahren, war gar nicht sein Fall. Seine Gedanken, wie immer nach einem Sündenbock suchend, verfielen auf Rosek. Wie die meisten Egoisten, die sich viel um Frauen kümmern, hatte er nur wenig Freunde. Rosek war der treueste. Doch selbst ihm gegenüber empfand Fiorsen gleichzeitig jene Furcht und Verachtung, die ein talentierterer, aber willensschwächerer Mensch dem weniger Talentierten, doch Willensstärkeren gegenüber fühlt. Er behandelte ihn, wie ein launisches Kind seine Kinderfrau, und brauchte ihn als Gönner mit wohlgefüllter Tasche.
Der Teufel hol' Paul, dachte er. Er muß doch wissen, – er weiß doch, daß sich ein Kognak wie Wasser trinkt. Sicherlich hat er gemerkt, daß ich den Verstand zu verlieren anfing! Hatte er irgend etwas vor? Wohin ging ich nachher? Wie kam ich heim? Habe ich Gyp weh getan? Wenn mich die Dienstboten gesehen haben – das wäre für sie schrecklich! Von neuem überkam ihn Angst. Er wußte niemals, was sie dachte und fühlte, kannte sich bei ihr überhaupt nicht aus. Das war ungerecht. Er verbarg nichts vor ihr. War offen wie die Natur, ließ sie alles sehen. Was hatte er gestern getan? Das Stubenmädchen sah ihn heute morgen so seltsam an! Plötzlich sagte er dem Chauffeur: »Bury-Straße, St. James.« Er wollte wenigstens herausfinden, ob Gyp bei ihrem Vater gewesen sei. Er überlegte es sich einige Male, ehe das Auto die kleine Straße erreichte; während er vor der Tür wartete, wurde seine Stirn feucht.
»Ist Frau Fiorsen hier?«
»Nein, Herr.«
»War sie heute morgen nicht hier?«
»Nein, Herr.«
Achselzuckend verscheuchte er den Gedanken, daß er diese Frage eigentlich hätte erklären müssen, stieg von neuem ins Auto und befahl dem Chauffeur, nach der Curzon-Straße zu fahren. Hatte sie auch »diese Tante Rosamunde« nicht aufgesucht, dann war alles in Ordnung – es gab niemanden mehr, zu dem sie hätte gehen können. Sie hatte sie nicht aufgesucht. Mit einem Seufzer der Erleichterung begann er Verlangen nach seinem Frühstück zu verspüren. Er wird zu Rosek fahren, von ihm das Geld für das Auto ausleihen, dort lunchen. Doch fand er auch Rosek nicht daheim. So mußte er nach Hause fahren, um das Auto bezahlen zu können. Der Kutscher sah ihn mißtrauisch an, als käme ihm sein Fahrgast verdächtig vor.
Als Fiorsen durch den Garten schritt, begegnete ihm ein Mann, der einen langen Umschlag in der Hand hielt.
Gyp, die am Schreibtisch saß, schien mit ihrem Scheckbuch beschäftigt, sie wandte sich nicht um.
»Gibt es einen Lunch?« fragte er.
Sie streckte die Hand aus und läutete. Er empfand großes Mitleid mit sich selbst, war ganz bereit gewesen, sie in die Arme zu nehmen, zu sagen: »Verzeih mir, kleine Gyp, es tut mir leid.«
Betty kam.
»Bitte, bring' den Lunch für Herrn Fiorsen.«
Er hörte, wie die dicke Frau sich beim Hinausgehen verächtlich räusperte. Auch sie saß über ihn zu Gericht.
»Hättest du gerne einen Mann, der lieber stürbe, als zu spät zum Essen zu kommen?«
Gyp hielt ihm das Scheckbuch hin. Er las auf dem Kontrollblatt: »Herren Travers & Sanborn, Schneider. Laut Rechnung: 54 Pfund 3 Schilling 7 Pence.«
Fiorsens Gesicht überzog eine eigenartige Blässe, die sich stets zeigte, wenn seine Selbstliebe verwundet wurde. »Hast du sie bezahlt? Du hast kein Recht, meine Rechnungen zu bezahlen.«
»Der Mann erklärte, daß er dich gerichtlich belangen werde, wenn sie nicht sofort bezahlt würde. Ich finde es würdelos, Schulden zu haben. Hast du noch mehr unbezahlte Rechnungen?«
»Das werde ich dir nicht sagen.«
»Ich muß den Haushalt führen, die Löhne auszahlen, und ich will wissen, wie wir stehen. Ich will keine Schulden machen.«
Ihr Gesicht zeigte eine Härte, die er nicht kannte. Er sah, daß sie von der bisherigen Gyp ganz verschieden war – verschieden von jener, mit der er bei vollem Bewußtsein gesprochen hatte. Diese unerwartete Auflehnung berührte ihn seltsam, sie verletzte sein Selbstgefühl, flößte ihm eine Art Angst ein und erregte dennoch seine Sinne.
»Geld! der Teufel hol' das Geld! Küß mich!«
»Es ist kindisch, das Geld zu verfluchen. Ich will mein ganzes Einkommen ausgeben, doch nicht einen Penny mehr, und will auch Väterchen um nichts bitten.«
Er warf sich auf einen Sessel. »Ho! Ho! Diese Tugend!«
»Nein – Stolz.«
Er sagte düster: »Du glaubst nicht an mich, glaubst nicht, daß ich jederzeit so viel verdienen kann, wie ich brauche, mehr, als du hast – jederzeit? Du hast nie an mich geglaubt.«
»Ich glaube nicht, daß du je mehr verdienen wirst als jetzt.«
»So! das glaubst du! Ich brauche dein Geld nicht!« »Sch …«
Er wandte sich um, sah das Stubenmädchen auf der Türschwelle.
»Bitte, Herr, der Chauffeur möchte bezahlt werden, oder brauchen Sie ihn noch? Es macht zwölf Schilling.«
Fiorsen starrte sie einen Augenblick an, er hatte eine Art, die, nach dem Ausspruch des Mädchens, einen ganz dumm machte.
Das Mädchen sah auf Gyp, erwiderte: »Ja, Herr …« und ging.
Fiorsen lachte; dies, sofort auf seine stolze Beteuerung folgend, war zu komisch.
»Das war doch gelungen, Gyp, nicht wahr?«
Doch war der Ernst nicht aus ihrem Gesicht gewichen, und da er wußte, daß sie ebenfalls einen starken Sinn für das Komische habe, verspürte er abermals die seltsame Angst. Etwas war anders geworden, ja, war ganz anders geworden.
»Habe ich dir gestern abend weh getan?«
Sie zuckte die Achseln, trat ans Fenster. Er sah sie düster an, hastete dann an ihr vorbei in den Garten. Und nach wenigen Minuten tönte der Klang einer wütend gespielten Geige über den Rasen.
Gyp lauschte mit einem bitteren Lächeln. Geld, auch das noch! Doch was lag daran? Sie konnte den Folgen ihrer eigenen Handlungen nicht mehr entkommen, würde ihnen niemals entkommen können. Heute abend wird er sie küssen, und sie wird tun, als wäre alles wieder gut. Und so wird es weitergehen, immer so. Nun, es war ihre eigene Schuld. Sie entnahm ihrer Börse zwölf Schilling und legte sie auf den Schreibtisch, um sie dem Mädchen zu geben. Und unvermittelt dachte sie: Vielleicht bekommt er mich satt. Wenn er mich doch satt bekäme! So weit war sie in ihren Gedanken noch nie gegangen.