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Männer sind geborene Hasardeure, sie können das Schicksal nicht abweisen, wenn es sie mit einem Risiko verlockt.
Summerhay liebte Gyp, war ihrer weder geistig noch körperlich überdrüssig, war sogar überzeugt davon, ihrer niemals überdrüssig zu werden. Dennoch spielte er seit Monaten mit einem Wagnis, das gestern seinen Höhepunkt erreicht hatte. Nun, da er im Zug saß, um zu Gyp zurückzukehren, fühlte er sich beunruhigt. Rückblickend konnte er sich nicht recht klar darüber werden, wann er eigentlich zu schwanken begonnen hatte. Das Mädchen selbst war auch eine Spielerin. Er achtete Diana nicht, wie er Gyp achtete, sie rührte ihn nicht, wie Gyp ihn rührte, war nicht halb so anziehend, und dennoch besaß sie für Augenblicke die Macht, ihm den Kopf zu verdrehen, hatte einen seltsamen, brennenden, oberflächlichen Reiz, die Lockung einer übermächtigen Vitalität. Sie war in das Leben verliebt, erweckte in Summerhay das Gefühl, daß er die Dinge an sich vorübergehen lasse. Und es lag auch in seiner Natur, tief aus dem Leben zu trinken. Ihre entfernte Verwandtschaft brachte eine Vertraulichkeit mit sich, nicht stark genug, um Langeweile zu erzeugen, aber mächtig genug, um die äußeren Hindernisse der Intimität hinwegzuräumen, deren Erstürmung in anderen Fällen bewußte Anstrengung erfordert.
Summerhay hatte nicht die Größe der Gefahr erkannt, – jedenfalls nicht die Krise von gestern abend voraussehen können. Während des Lunches hatte er von ihr ein Telegramm erhalten, in dem sie ihn an ein in Schottland halb im Scherz gemachtes Versprechen erinnerte, daß sie zusammen Tee trinken wollten und er ihr dann seine Zimmer zeigen würde, – an und für sich also eine harmlose, nichtige Sache. Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie so ganz besonders hübsch aussehen werde, als sie in seinem großen Oxfordstuhl zurückgelehnt lag, die Pelzjacke geöffnet, so daß der weiße Hals sichtbar wurde. Nicht damit, daß sie, als er sich niederbeugte, um ihre Tasse zu nehmen, die Arme ausstrecken, seinen Kopf niederziehen, ihre Lippen auf die seinen pressen und sagen würde: »Nun weißt du es!« Es hatte ihn geschwindelt, schwindelte ihn noch, wenn er daran dachte. Eine kleine Sache, und dennoch, das Gift war in sein Blut gedrungen, – er hatte sie angeblickt, ihren Duft eingeatmet, der an einen Fichtenwald erinnerte, während sie ihre Handschuhe nahm, ihre Pelzjacke zuknöpfte, als hätte er und nicht sie den Kuß geraubt. Als sie die Treppe hinabgingen, drückte sie seinen Arm fest gegen sich. Und auf der Temple-Station hatte sie ihm ein halb spöttisches Lächeln zugeworfen, voller Herausforderung, Kameradschaftlichkeit und Verheißung. In seine Zimmer zurückkehrend, fand er den Brief, den Gyp vom roten Haus aus umadressiert hatte. Leise Sorge erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß der Brief durch ihre Hände gegangen war. Er verbrachte einen unruhigen Abend in seinem Klub, spielte und verlor, saß dann noch lange über Akten, arbeitete am nächsten Morgen schwer, und erst jetzt, da er sich Gyp näherte, erkannte er, wie sehr er die ehrliche Einfachheit ihr gegenüber verloren hatte.
Als er erfuhr, daß sie allein ausgeritten war, steigerte sich seine Sorge. Sonst hatte sie immer auf ihn gewartet, um mit ihm zusammen zu reiten. Hatte sie ihn nicht mit diesem Zug erwartet? Er kleidete sich um, begab sich in den Stall. Der alte Pettance saß auf einer Futterkiste, las in einem alten »Ruffs Guide«, der von seinem längst vergangenen Ruhm berichtete, mit Bleistift unterstrichen: »June Stakes: Agility. E. Pettance, dritter.« »Tidport Selling H'Cap: Dorothea, E. Pettance O.« »Salisbury Cup: ferner lief: Plum Pudding, Jockey E. Pettance.« »Guten Tag, Herr, ein windiger Nachmittag. Die gnädige Frau ist bereits vor zwei Stunden ausgeritten. Sie wollte nicht, daß ich sie begleite.«
»Satteln Sie rasch Heißsporn.«
»Sehr wohl, Herr, sehr wohl.«
Vor zwei Stunden! Er ritt auf die Dünen, in die Richtung, aus der sie meist heimkehrten, ritt eine Stunde, nach ihr Ausschau haltend. Erhitzt und beunruhigt kehrte er nach Hause zurück. Auf dem Vorzimmertisch lagen ihre Reitgerte und Handschuhe. Sein Herz wurde wieder hell, er lief die Treppe hinauf. Sie war im Begriff, sich zu frisieren, und wandte rasch den Kopf, als er eintrat. Er eilte auf sie zu und hatte das lächerliche Gefühl, als nähme sie eine abwehrende Haltung ein. Sie wich tatsächlich zurück und sagte: »Nein, – du sollst nicht heucheln. Alles ist besser als heucheln!«
Niemals hatte er sie so gesehen, sie so sprechen hören. Ihr Gesicht war hart, ihre Augen schienen durchbohrend.
»Was ist geschehen, Gyp?«
»Nichts. Nur, – heuchle nicht!« Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu und steckte ihr Haar auf.
Sie sah sehr schön aus, frisch und gerötet von dem Ritt im Winde. Verlangen erfaßte ihn, sie in die Arme zu nehmen. Angstvoll und zornig sagte er: »Du könntest mir wenigstens eine Erklärung geben.«
»Das könntest du, – denn ich tappe im Dunkeln.«
»Ich verstehe absolut nicht, was du meinst.«
»Wirklich nicht?« Es lag etwas Unheilvolles in der Art, wie sie ihn ignorierte, mit raschen Fingern das dunkle, glänzende Haar zusammenflocht, – etwas Jähes, Erschreckendes in dieser Feindseligkeit. Summerhay setzte sich auf das Bett. War es der Brief? Aber er war ja nicht geöffnet worden. »Was in aller Welt ist geschehen, Gyp? Sprich, halte mich nicht so hin.«
Sie wandte sich um und blickte ihn an. »Verstelle dich nicht so und tu nicht, als ob es dir schrecklich wäre, mich nicht küssen zu dürfen! Sei nicht falsch, Bryan! Du weißt selbst, daß seit Monaten alles Heuchelei von dir war.«
Summerhays Stimme wurde hoch. »Ich glaube, du bist verrückt geworden. Ich weiß nicht, was du meinst.«
»O ja, du weißt es. Hast du gestern den Brief bekommen, auf dem ›dringend‹ stand?«
Das also war es. Er wurde hart und erwiderte trotzig: »Ja, von Diana Leyton. Hast du etwas dagegen?«
»Nein. Wie, glaubst du, ist er dir so rasch zugestellt worden?«
Er entgegnete stumpf: »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich durch die Post.«
»Nein; ich habe ihn selbst in deinen Briefkasten geworfen – um halb sechs.«
Summerhays Geist war an ein rasches Auffassen gewöhnt, er begriff sofort die volle Bedeutung ihrer Worte. »Dann hast du uns wohl gesehen?«
»Ja.«
Er erhob sich, machte eine hilflose Gebärde, bat: »Gyp, sei nicht so hart. Ich schwöre dir bei …«
Sie lachte ein wenig, wandte sich abermals ab und beschäftigte sich von neuem mit ihrer Frisur. Summerhay hatte das schreckliche Gefühl, er müsse mit dem Kopf gegen etwas rennen. Er sagte hilflos: »Ich habe sie nur zum Tee geladen. Weshalb auch nicht? Sie ist meine Kusine. Da ist doch weiter nichts dabei. Warum vermutest du von mir das Allerärgste? Sie wollte meine Zimmer sehen. Ich konnte nicht nein sagen.«
»Deine leeren Zimmer? Nicht lügen, Bryan – es ist zu kläglich. Ich ertrage es nicht!«
Bei diesem Peitschenhieb wandte Summerhay den Kopf. »Es macht dir also Freude, das Ärgste zu vermuten?«
Gyp hörte mit dem Frisieren auf.
»Ich habe dir immer gesagt, daß du vollkommen frei bist. Glaubst du denn, ich merkte es nicht schon seit Monaten? Es kommt eben ein Augenblick, da der Stolz sich empört – das ist alles. Bitte, belüge mich nicht!«
»Es ist nicht meine Gewohnheit, zu lügen.« Das furchtbare Gefühl, von einem Netz umschlossen zu sein, das er nicht zerreißen konnte, einem Netz, das er selbst durch diese verfluchte Intimität, die er grundlos vor ihr verheimlichte, geflochten hatte, wurde immer stärker. Wie sollte er sie von der Wahrheit überzeugen, daß er nur sie wirklich liebe?
»Gyp, ich schwöre dir, es ist nichts vorgefallen, nur ein Kuß, und das war nicht meine …«
Sie rief aus: »Geh fort!«
Er legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich liebe nur dich! Ich schwöre es, wirklich! Du mußt mir glauben. Es ist töricht – töricht! Denke an unsere Liebe – denke an alles …« Ihr Gesicht war wie erstarrt, er ließ sie los, murmelte: »Oh, dein Stolz ist furchtbar!«
»Ja, er ist das einzige, was mir bleibt. Du kannst zu ihr gehen, wann du willst.«
»Zu ihr gehen?! … Wenn du es willst, werde ich sie nie mehr sehen.«
»Oh, nicht! Welchen Sinn hat es?«
In diesem Augenblick meinte Summerhay tatsächlich alles, was er sagte. Und er konnte Gyp nicht überzeugen! Wie schrecklich! Wie ungerecht und unvernünftig von ihr! Was hat er getan, daß sie so ungläubig ist – ihn für einen frivolen Schurken hält? Konnte er etwas dafür, daß ihn das Mädchen geküßt hatte? Daß Diana ihn liebte? Konnte er dafür, daß er eine Mannesnatur besaß? Unvernünftig, ungerecht, kleinlich! Er warf ihr einen wütenden Blick zu und verließ das Zimmer.
Er begab sich in sein Arbeitszimmer, ließ sich auf das Sofa fallen und drehte das Gesicht gegen die Wand. Doch verflossen kaum fünf Minuten und sein Zorn wich einer tödlichen Angst. Er verstand plötzlich ihren Charakter, ihren Stolz und Skeptizismus, – und die ganze Tiefe und Vollkommenheit ihrer Liebe. Sie verlangte außer ihm nichts, und er verlangte und nahm noch soviel anderes. Das wurde ihm erst nur unklar bewußt, als ein Teil des Gefühls, daß er keinen Ausweg finden könne, und des gereizten Verlangens, mit dem Kopf gegen alle Hindernisse anzurennen. Wie lange wird dieser Zustand anhalten? Er erhob sich, schritt im Zimmer auf und ab, den Kopf zurückgeworfen; bisweilen schüttelte er ihn, versuchte, das Gefühl der tödlichen Unsicherheit zu vertreiben. Er hatte gesagt, er würde Diana nie wiedersehen, – nach dem Kuß, nach dem letzten langen Blick! Wie könnte er so plötzlich mit ihr brechen? Er schauderte. Wie schrecklich war doch all dies! Es mußte doch einen Ausweg geben – einen Ausweg. Sicherlich gab es einen! Im Walde des Lebens hatte das Fatum haltgemacht, ließ seine verschwommene dunkle Gestalt zwischen den Bäumen drohend erscheinen, zeigte Summerhay seine blasse Wange und die schwarzen Augen, zeigte ihm mit jähem Grauen seine seltsame Wirklichkeit.