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Gyp konnte nicht schlafen. Dreimal stand sie auf, schlich zur Tür und blickte auf das schlafende Baby. Die Erlebnisse des Nachmittags hatten ihre Nerven erschüttert. Es war heiß, und der Klang der Geige tönte in ihren Ohren. Die kleine Melodie von Poise hatte ihr verraten, daß es Fiorsen war, und die Tatsache, daß der Vater die Vorhänge zuzog, bestärkte sie in ihrer Gewißheit. Hätte sie ihn gesehen, so würde sie das weit weniger bewegt haben als dieses Echo eines früheren Gefühls. Das Band, das sie gestern für immer zerrissen glaubte, war auf geheimnisvolle Art wieder zusammengeknotet worden. Das Schluchzen der alten Geige war seine Bitte um Verzeihung. Es wäre soviel leichter, ihn zu verlassen, wenn sie ihn wirklich haßte. Es war schwer, mit ihm zu leben, war ebenso schwer, ihn zu hassen. Er war so biegsam, – und nur das Starre kann gehaßt werden. Sie haßte seine Handlungen und ihn, wenn er sie vollbrachte, nachher aber vermochte sie ihn ebensowenig zu hassen wie zu lieben … Entschlossenheit und Verständnis für das Praktische kamen ihr mit dem aufdämmernden Morgen. Waren die Dinge einmal hoffnungslos, so hieß es dies einsehen und das Herz verhärten.
Winton, der ebenfalls eine schlaflose Nacht hinter sich hatte – wie ein Bettler auf der Straße unter seinen Fenstern zu spielen, bedeutete für ihn: die äußerste Grenze überschreiten –, verkündete beim Frühstück, daß er sich mit seinem Anwalt darüber besprechen müsse, was zu tun sei, um Gyp gegen jede Verfolgung zu schützen. Irgend etwas müsse wohl unternommen werden, er verstehe sich nicht auf derlei Dinge. Inzwischen dürften weder Gyp noch das Kind das Haus verlassen. Gyp verbrachte den Morgen mit einem Brief an Monsieur Harmost; sie versuchte ihr Bedauern auszudrücken, verschwieg jedoch, daß sie Fiorsen verlassen habe.
Ihr Vater kam ruhig, doch äußerst erzürnt von Westminster zurück. Der Anwalt hatte ihm mit Mühe begreiflich gemacht, daß das Baby Fiorsen gehöre und man, falls dieser es verlange, auf legalem Wege keinen Widerstand leisten könne. Das riß eine alte Wunde auf, zwang ihn, sich daran zu erinnern, daß auch seine Tochter einst einem anderen – Vater gehört hatte. Er hatte dem Anwalt mitgeteilt, Fiorsen möge zur Hölle gehen, hatte dann eine Urkunde aufsetzen lassen, die Fiorsen die Bezahlung aller seiner Schulden zusicherte, unter der Bedingung, daß er Gyp und das Kind in Ruhe lasse. Nachdem er Gyp dies mitgeteilt hatte, begab er sich in das Kinderzimmer. Bisher war ihm das kleine Geschöpf nur als ein Teil von Gyp interessant gewesen, nun hatte es plötzlich eine eigene Existenz bekommen – dieses winzige dunkeläugige Geschöpf, das ihn so ernsthaft betrachtete und seinen Finger festhielt. Plötzlich lächelte es. Es war kein schönes Lächeln, aber es machte auf Winton einen unauslöschlichen Eindruck.
Winton wollte die Angelegenheit mit der Urkunde geregelt haben, ehe er sich nach Mildenham begab; da er jedoch »den beiden Schurken nicht über den Weg traute«, bestand er darauf, daß das Baby nur in Begleitung zweier Personen das Haus verlasse und daß auch Gyp nicht allein ausgehe. Seine Vorsicht ging so weit, daß er sie am Freitagnachmittag selbst zu Monsieur Harmost brachte und den Wunsch aussprach, einzutreten und dem alten Herrn die Hand zu schütteln. Es war eine seltsame Begegnung. Die beiden hatten einander ebensowenig zu sagen, als wären sie Bewohner verschiedener Planeten gewesen. Nach einer kurzen Verlegenheit zog Winton sich zurück, um auf sie zu warten, und Gyp setzte sich ans Klavier.
Monsieur Harmost sagte ruhig: »Ihr Brief war sehr freundlich, meine kleine Freundin, – auch Ihr Vater ist sehr freundlich. Immerhin hat mir Ihr Mann eigentlich ein Kompliment gemacht.« Sein Lächeln schien die Summe vieler Resignationen. »Sie sind also wieder bei Ihrem Vater! Wann werden Sie Ihrem Schicksal begegnen?«
»Niemals.«
»Ah, – das glauben Sie?! Nein, das ist unmöglich. Nun, wir dürfen die Zeit Ihres Vaters nicht vergeuden. An die Arbeit!«
Während der Heimfahrt bemerkte Winton: »Ein netter alter Kerl.«
In der Bury-Straße fanden sie Gyps aufgeregtes Stubenmädchen vor. Am Morgen das Musikzimmer betretend, hatte sie den Herrn auf dem Sofa sitzend angetroffen. »Er hielt sich den Kopf und stöhnte furchtbar. Er war nicht mehr zu Hause gewesen, seit – seit die gnädige Frau hierher zu Besuch gekommen ist, und ich wußte nicht, was ich anfangen sollte. Ich lief, um die Köchin zu holen, und wir brachten ihn beide zu Bett. Und da ich nicht wußte, wo die gnädige Frau ist, telephonierte ich an Graf Rosek – ich hoffe, ich habe damit nichts Unrechtes getan – und er kam und hat mich hierher geschickt. Der Doktor sagt, das Gehirn sei angegriffen, es gehe um Leben und Tod, und der Herr verlangt immer nach Ihnen. Ich wußte nicht, was ich tun soll.«
Gyp erblaßte bis in die Lippen und sagte: »Warten Sie eine Minute, Ellen.« Sie begab sich ins Speisezimmer, Winton folgte ihr.
»Väterchen, was soll ich tun? Sein Gehirn! Es wäre zu furchtbar, wenn ich daran die Schuld trüge. Ich muß gehen, nachsehen. Wenn es wirklich so wäre, ich ertrüge es nicht. Ich fürchte, ich muß gehen, Väterchen.«
Winton nickte. »Ich komme mit«, meinte er. »Das Mädchen kann im Wagen zurückfahren und sagen, daß wir nachkommen.«
Mit einem Abschiedsblick auf das Baby dachte Gyp verbittert: Das ist mein Schicksal; ich kann ihm nicht entkommen! Während der Fahrt schwiegen sie beharrlich – doch sie hielt Wintons Hand fest umklammert. Während die Köchin Rosek von ihrem Kommen verständigte, blickte Gyp in den Garten hinaus. Nur zwei Tage und sechs Stunden war es her, daß sie dort bei den duftenden Winden gestanden und Rosek ihren Hals geküßt hatte. Sie schob ihre Hand durch Wintons Arm: »Väterchen, du darfst, bitte, wegen des Kusses keine Geschichten machen. Was liegt daran?«
Einen Augenblick später trat Rosek ein. Ehe er ein Wort sprechen konnte, sagte Winton: »Jetzt, da meine Tochter hier ist, werden wir Ihrer gütigen Hilfe nicht mehr bedürfen. Guten Tag!«
Gyp machte eine kleine schüchterne Bewegung nach vorn. Sie bemerkte, wie Wintons Rede, gleich einem Schwert durch Papier, Roseks Panzer durchdrang. Er verbeugte sich mit erzwungenem Lächeln und ging. Winton folgte ihm, als wage er nicht, ihn mit den Hüten im Vorzimmer allein zu lassen. Als sich die Haustür schloß, sagte er zu Gyp: »Ich glaube, der wird dich nicht mehr belästigen.«
Man hatte Fiorsen in ihr Schlafzimmer, das größer und kühler war, gebracht. Nach einer Weile öffnete er die Augen.
»Gyp! Bist du es? Ich sehe so entsetzliche Dinge! Geh nicht wieder fort, Gyp!« Er setzte sich auf, lehnte seine Stirn gegen sie. Und Gyp empfand, wie in jener Nacht, da er betrunken heimgekommen war, daß alle anderen Gefühle von dem Wunsche, ihn zu schützen, verdrängt wurden.
»Es ist schon gut«, flüsterte sie. »Ich bleibe. Verhalte dich ruhig, – dann wirst du bald wieder gesund sein.«
Nach einer Viertelstunde schlief er bereits. Der Ausdruck entsetzlicher Angst, der vor dem Einschlafen sein Gesicht verzerrt hatte, ging ihr sehr zu Herzen. Jede Gehirnkrankheit war etwas Schreckliches. Sie muß bei ihm bleiben, seine Genesung hängt davon ab. Sie saß noch immer reglos neben ihm, als der Arzt erschien und sie herauswinkte. Er machte einen gutmütigen Eindruck; während er mit Gyp sprach, zwinkerte er ihr zu, und Gyp war es, als ob er mit jedem Augenzwinkern einen Schleier von ihrem häuslichen Geheimnis lüftete. Schlaf sei das richtige für Fiorsen! Irgendein Gedanke quäle ihn – ja! Und – ein wenig zu sehr dem Kognak ergeben? Das mußte aufhören, Magen und Nerven seien angegriffen. Er sähe Dinge – abscheuliche Dinge? Ein untrügliches Zeichen. Vielleicht hatte er vor seiner Ehe nicht auf seine Gesundheit geachtet. Wie lange waren sie verheiratet? Seine wohlwollenden Augen betrachteten Gyp von oben bis unten. Anderthalb Jahre! Ja, ja. Er arbeitete zweifellos hart an seiner Musik? Freilich. Musiker neigen stets ein wenig zur Unmäßigkeit – haben einen zu ausgesprochenen Schönheitssinn – brennen die Kerze an beiden Enden an! Sie müsse auf ihn achten. Sie sei fort gewesen – bei ihrem Vater? Ja. Niemand verstehe sich so gut auf die Pflege wie eine Gattin. Was die Behandlung anbelangte: er werde eine Medizin verschreiben, morgens und abends einzunehmen. Keine Reizmittel. Vollkommene Ruhe. Eine kleine Tasse starken Kaffee, falls er sich schwach fühle. Einstweilen solle der Patient zu Bett bleiben. Keine Sorge, keine Aufregung. Er sei noch ein junger Mensch, voller Vitalität. Sie dürfe nicht allzusehr beunruhigt sein. Morgen werde der Arzt feststellen, ob für die Nacht eine Pflegerin nötig sei. Vor allem aber einen Monat lang keine Geige, keinen Alkohol, – strengste Mäßigkeit in allem. Mit einem letzten freundschaftlichen Zwinkern, das Wort »Mäßigkeit« stark betonend, nahm der Arzt eine Füllfeder hervor, schrieb ein Rezept, schüttelte Gyps Hand, lächelte und verabschiedete sich.
Gyp nahm ihren Platz am Bett wieder ein. Welche Ironie! Sie, die nur einen Wunsch kannte: freizukommen, trug die Hauptschuld an seinem Zusammenbruch. Wäre sie nicht, so quälten ihn keine Gedanken, denn dann wäre er nicht verheiratet. Sein Trinken, seine Schulden, ja selbst das Mädchen, – war nicht auch all das ihre Schuld? Und der Versuch, sich und ihn zu befreien, brachte dieses Ergebnis! War in ihr etwas Verhängnisvolles, das die Männer zugrunde richtete, die ihr begegneten? Sie hatte ihren Vater unglücklich gemacht, Monsieur Harmost, Rosek und ihren Mann! Sogar vor ihrer Heirat waren manche, die versucht hatten, ihre Liebe zu gewinnen, unglücklich von ihr gegangen. Sie stand auf, trat vor den Spiegel und betrachtete lange und traurig ihr Gesicht.