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XIV. Kapitel

Gyp glaubte niemals recht daran, daß Daphne Wing etwas Vergangenes sei. Ihr skeptischer Instinkt lehrte sie, daß Fiorsen sehr wohl etwas ehrlich meinen konnte und dennoch bei einer nicht ganz zufällig gekommenen Gelegenheit genau das Gegenteil tun würde.

Seit ihrer Rückkehr kam Rosek wieder ins Haus; er hütete sich, seinen einmaligen Fehler nochmals zu begehen, vermochte aber Gyp doch nicht zu täuschen. Obschon seine Selbstbeherrschung ebenso groß war, wie die Fiorsens gering, fühlte sie, daß er nicht jede Hoffnung auf ihre Eroberung aufgegeben habe, und dafür sorgen werde, Daphne Wing und ihren Mann soviel als möglich zusammenzubringen. Doch verbot ihr der Stolz, das Mädchen auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Überdies lohnte es sich nicht, von ihr zu reden. Beide würden lügen: Rosek, weil er den Fehler bei seinem ersten Angriff eingesehen hatte, Fiorsen, weil sein Charakter ihn daran hinderte, ihm unangenehme Wahrheiten auszusprechen.

Da sie sich nun einmal entschlossen hatte, alles zu ertragen, lebte sie ganz dem Augenblick, dachte nie an die Zukunft, dachte überhaupt so wenig als möglich. Sie widmete sich völlig dem Kinde. Wenn sie sein Gesicht beobachtete, seine Wärme in ihren Armen fühlte, gelang es Gyp, sich in den hypnotischen Zustand anderer Mütter zu versetzen. Doch schlief das Kind viel, und auch Betty hatte stets geraume Zeit mit ihm zu schaffen. Diese Stunden fielen Gyp sehr schwer. Las sie, so versank sie sofort in tiefe Gedanken. Das Musikzimmer hatte sie seit ihrer Entdeckung nicht mehr betreten. Auch Tante Rosamundens Versuch, sie in Gesellschaften mitzunehmen, blieb ergebnislos. Obwohl der Vater häufig kam, blieb er doch stets nur kurze Zeit, aus Angst, mit Fiorsen zusammenzutreffen. Die Folge war, daß sie sich mehr und mehr ihrer eigenen Musik wieder zuwandte, und als sie eines Morgens zufällig einige Noten aus ihrer Mädchenzeit fand, faßte sie einen Entschluß. Am Nachmittag schritt sie in den Februarfrost hinaus.

Monsieur Eduard Harmost bewohnte das unterste Stockwerk eines Hauses der Marleybone-Straße. Er empfing seine Schüler in einem geräumigen Hinterzimmer, das auf einen verrußten kleinen Garten blickte. Er war seiner Abstammung nach ein Wallone und von großer Vitalität, alterte daher schwer und hatte ein weiches Herz für Frauen, eine Leidenschaft für alles Neue, selbst für neue Musik.

Als Gyp in das wohlbekannte Zimmer geführt wurde, saß er da, die gelben Finger in dem harten grauen Haar vergraben. Er starrte Gyp an.

»Aha«, sagte er, »meine kleine Freundin ist zurückgekommen!« Dann trat er zum Kaminsims, nahm von dort einen Strauß Parmaveilchen, die ihm eine Schülerin gebracht hatte, und hielt ihn ihr unter die Nase. »Da, nehmen Sie ihn, nehmen Sie ihn. Wieviel haben Sie vergessen? Kommen Sie!« Er packte sie am Arm, zwang sie fast ans Klavier. »Ziehen Sie Ihren Pelz aus. Setzen Sie sich.«

Während Gyp den Mantel auszog, heftete er seine hervorstehenden braunen Augen unter den viereckigen Lidern und zackigen Brauen auf sie. Gyp trug, was Fiorsen ihre »Kolibri-Bluse« nannte, – dunkelblau mit pfauenblau und altrosa vermischt, und sah sehr warm und weich aus. Monsieur Harmosts Blick schien sie einzusaugen, mit der wehmütigen Sehnsucht alter Männer, die die Schönheit lieben und wissen, daß ihre Zeit, diese Schönheit zu sehen, nur mehr kurz bemessen ist.

»Spielen Sie den Karneval«, sagte er. »Dann werden wir gleich sehen.«

Gyp spielte. Er nickte, schlug mit den Fingern gegen die Zähne, ließ das Weiß seiner Augen sehen – das bedeutete: »Das muß ganz anders werden!« Und einmal grunzte er. Als sie zu Ende gespielt hatte, setzte er sich neben sie, nahm ihre Hand und sagte, die Finger betrachtend: »Ja, ja! Sie haben sich verdorben durch das Spiel mit dem Geiger. Trop sympathique! Das Rückgrat fehlt, – das Rückgrat – das müssen wir verbessern. Vier Stunden täglich für sechs Wochen – und wir werden alles wieder in Ordnung haben.«

»Ich habe ein Baby, Monsieur Harmost.«

»Wie?! … Das ist ja eine Tragödie!« Gyp schüttelte den Kopf.

»Sie haben es lieb? Ein Baby? Schreit es nicht?«

»Sehr wenig.«

»Mon Dieu! Nun, Sie sind noch immer schön, das ist schon etwas. Was könnten Sie mit dem Baby anfangen? Könnten Sie es nicht für einige Zeit loswerden? Hier ist ein Talent in Gefahr! Ein Geiger und ein Baby! C'est beaucoup! C'est trop!«

Gyp lächelte. Und Monsieur Harmost, dessen rauhes Äußeres viel Zartgefühl verbarg, streichelte ihre Hand.

»Sie sind erwachsen geworden, meine kleine Freundin«, sagte er ernst. »Das schadet nichts; es ist nichts verlorengegangen. Aber ein Baby?! … Nun, Mut! Wir werden trotzdem noch etwas leisten!«

Gyp wandte den Kopf ab, um das Beben ihrer Lippen zu verbergen. Der Geruch des Tabaks, der sich in alle Gegenstände eingesogen hatte, der Geruch alter Bücher und Noten, ein unbestimmter Geruch, ähnlich Monsieur Harmosts Gesichtsfarbe, die alten braunen Vorhänge, der verrußte kleine Garten mit seinen Katzenpfaden und dem einzigen, verkümmerten Baum, das Starren von Monsieur Harmosts rollenden Augen, – all dies rief ihr die glückliche Zeit zurück, da sie hergekommen war, Woche für Woche, voller Fröhlichkeit und Wichtigkeit, geplaudert, seine brüske Bewunderung und die Musik genossen hatte, mit dem schillernden Freudengefühl, daß sie ihn glücklich mache, selbst glücklich sei und eines Tages sehr schön spielen werde.

Monsieur Harmosts Stimme summte weiter, weich und brummig: »Nun, nun! … Das einzig Unheilbare ist das Alter. Es war recht von Ihnen, zu mir zu kommen, mein Kind. Wenn nicht alles so ist, wie es sein sollte, werden Sie es bald vergessen. In der Musik können wir allem entfliehen. Schließlich, meine kleine Freundin, kann uns niemand unsere Träume rauben – nicht einmal eine Frau, nicht einmal ein Gatte ist dessen fähig. Es liegen noch schöne Zeiten vor uns.«

Eine Art Glanz strahlt von jenen aus, die der Kunst ergeben dienen. Als Gyp an diesem Nachmittag Monsieur Harmost verließ, war sie von seiner Musikleidenschaft angesteckt. Poetische Gerechtigkeit war am Werk, um, nach homöopathischem Rezept, ihr Leben mit einer Dosis eben dessen zu heilen, womit sie es vergiftet hatte. Alle ihre freien Stunden widmete Gyp von nun an der Musik. Zweimal wöchentlich ging sie zu Monsieur Harmost, obgleich beängstigt durch diese Ausgabe, denn ihre finanziellen Verhältnisse waren recht schwierig geworden. Zu Hause übte sie fleißig, arbeitete an ihren Kompositionen. Während des Frühlings und Sommers komponierte sie einige Lieder und Studien, ließ eine noch größere Anzahl unvollendet. Monsieur Harmost war ihren Versuchen gegenüber nachsichtig, er schien zu wissen, daß allzu schroffe Kritik ihren Impuls töten würde, wie Frost das Leben der Blumen auslöscht. Außerdem besaßen ihre Werke stets etwas Frisches, Originelles. Eines Tages fragte er sie: »Was hält Ihr Mann davon?«

»Ich zeige sie ihm nicht.«

Sie hatte es nie getan, fürchtete seine Rücksichtslosigkeit, wenn ihm etwas auf die Nerven ging. Ein einziger Spotthauch hätte ihr Selbstvertrauen, diese schwächliche Pflanze, zum Dorren gebracht. Seltsamerweise zeigte sie außer ihrem Lehrer nur einem einzigen Menschen ihre Versuche: Rosek. Er hatte sie eines Tages beim Notenschreiben überrascht. Die Wärme, mit der er das kleine »Capriccio« lobte, war echt, und sie fühlte so tiefe Dankbarkeit, daß sie ihm noch andere Dinge vorspielte, auch ein Lied, das er singen sollte. Von diesem Tage an empfand sie ihm gegenüber sogar eine gewisse Freundschaft, ein leises Mitleid, wenn sie ihn beobachtete, wie er, blaß, sorgfältig gekleidet, sphinxhaft im Salon oder im Garten saß, seinem Begehren nicht näherzukommen vermochte. Er hatte sie nicht mehr umworben, doch wußte sie, daß er beim geringsten Schwächezeichen von ihr wieder damit anfangen würde. Sein Gesicht und seine unerschütterliche Geduld erschienen ihr rührend. Sie konnte diesen Menschen, der sie offenbar so ehrlich bewunderte, nicht wirklich hassen. Sie beriet sich mit ihm über Fiorsens Schulden, die viele hundert Pfund betrugen, abgesehen von dem, was er Rosek selbst schuldete. Wie machte er nur soviel Schulden? Was wurde aus dem Geld, das er verdiente? Diesen Sommer waren seine Einnahmen beträchtlich gewesen. Gab er das Geld für das Mädchen oder andere Frauen aus?

Da sie Fiorsen genau beobachtete, nahm sie eine Veränderung bei ihm wahr. Es war, als hätte sich etwas in ihm gelöst, gäbe nach – wie wenn bei einer Uhr die Feder bricht und man den Schlüssel um und um drehen kann, ohne Ende. Dennoch arbeitete er fleißiger als je. Sie konnte durch den Garten hören, wie er einen Satz wieder und wieder spielte, als könne er sich selbst mit der Wiedergabe nicht zufriedenstellen. Doch schien ihr, als hätte sein Spiel Feuer und Schwung verloren, als wäre es lau und resigniert geworden. Aus seinem Spiel glaubte sie die selbstquälerische Frage herauszuhören: »Wozu?« Auch sein Gesicht veränderte sich. Sie wußte – wußte mit Gewißheit, daß er heimlich trank. War sie der Grund oder das Mädchen? Oder war es nur das Erbteil schwer trinkender Ahnen?

Gyp blickte diesen Dingen niemals ins Gesicht. Das hätte nutzlose Streitigkeiten verursacht, die nutzlose Erklärung, daß sie ihn nicht lieben könne und von seiner Seite sinnlose Beteuerungen wegen des Mädchens, sinnloses Ableugnen aller Art. Hoffnungslos!

Er zeigte sich äußerst reizbar, schien ihr vor allem die Musikstunden übelzunehmen, erwähnte sie mit höhnischer Ungeduld. Sie fühlte, daß er sie als Dilettantin verachte. Auch erzürnte ihn, daß ihr das Baby viel Zeit fortnahm. Sein eigenes Benehmen gegen das kleine Geschöpf war für ihn charakteristisch. Er pflegte ins Kinderzimmer zu kommen, das Kind – zu Bettys großem Schrecken – in die Arme zu nehmen, zehn Minuten lang auf reizende Art mit ihm zu spielen; dann legte er es unvermittelt rasch wieder in seine Wiege, starrte es düster an oder lachte und ging fort. Bisweilen kam er auch, wenn Gyp sich dort befand, und zerrte sie, nachdem er sie eine Weile schweigend beobachtet hatte, fast mit Gewalt fort.

Gyp, die unter dem schuldbewußten Gefühl litt, für ihn keinerlei Liebe zu empfinden, und stets mehr erkannte, daß sie ihn, statt ihn zu retten, immer tiefer hinabstieß – ironische Nemesis für ihre einstige Überhebung – gab seinen Launen täglich mehr nach. Doch riß diese Nachgiebigkeit, die sie von ihm immer mehr entfernte, auf unerträgliche Weise an ihren Nerven. Sie hatte einen jener Charaktere, die passiv dulden, bis in ihnen jählings etwas zu brechen scheint – dann nachher aber ist alles zu Ende.

Die Frühlings- und Sommermonate waren wie eine lange Dürre, während der sich in der Ferne die Wolken ansammeln, näher und näher kommen, bis endlich die Sturzflut herabströmt und den Garten überschwemmt.


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