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Trotz dem Siege, den Winton in Gyps Herzen über alle menschlichen Rivalen errungen hatte, blieb einer, dessen ganze Macht er vielleicht erst heute richtig einschätzte, da sie ihn verlassen hatte, und er vor dem Kamin über ihr Fortgehen und die Vergangenheit grübelte.
Es war begreiflich, daß ein Mann von seinem entschlossenen Typus, dessen Leben zwischen Waffen und Pferden verflossen war, schwer verstehen konnte, was einem kleinen Mädchen die Musik bedeute. Er wußte, daß Kinder Tonleitern lernen mußten, »In einer Hütte nah' am Wald« und andere Melodien. Da er der Musik stets aus dem Wege gegangen war, hatte er keine Ahnung, mit welchem Heißhunger Gyp alles und noch mehr verschlang, was ihr die Erzieherin zu bieten vermochte. Er war auch dem Entzücken gegenüber blind geblieben, mit dem Gyp jeder Musik gelauscht – den Liedern, die durch das weihnachtliche Dunkel klangen, gewissen Chorälen, besonders dem »Nunc Dimittis« in der Dorfkirche, dem Jagdhorn, fern in den regenfeuchten, zitternden Feldern, ja selbst Markeys Pfeifen, das volltönend und seltsam melodisch war.
Ihre Liebe zu Hunden und Pferden vermochte er zu teilen, vermochte sogar Interesse für die Hummeln aufzubringen, die sie in der hohlen Hand fing und an die kleinen, zarten Ohren hielt, um dem Summen zu lauschen, er begriff ihre Raubzüge in den Blumenbeeten des altmodischen Gartens, der im Frühling voll Flieder und Goldregen stand, im Sommer von Nelken, Rosen und Kornblumen überflutet war, im Herbst reichlich Dahlien und Sonnenblumen brachte. Ein wenig klein und vernachlässigt war dieser Garten, zusammengepreßt, beengt von den angrenzenden, weit wichtigeren Fohlenkoppeln.
Er ging auf ihre Versuche ein, seine Aufmerksamkeit auf das Singen der Vögel zu lenken, doch war es ihm nun einmal nicht gegeben, zu erfassen, wie sehr sie Musik liebte, sich nach ihr sehnte. Sie war ein fast nebelhaftes, kleines Geschöpf, dessen Stimmungen ewig wechselten, – war nicht unähnlich ihrer braunen Wachtelhündin, bald heiter wie ein Schmetterling, dann wieder düster wie die Nacht. Die geringste Härte nahm sie sich furchtbar zu Herzen, sie war ein merkwürdiges Gemisch von Stolz und Selbstverachtung. Diese Eigenschaften waren so seltsam in ihr verquickt, daß man niemals wußte, aus welcher ihre Stimmungen entsprangen. Äußerst empfindsam, litt sie unter mancherlei Einbildungen. Ganz belanglose Dinge, die andere gedankenlos taten, erschienen ihr ein unumstößlicher Beweis dafür, daß niemand sie liebe, obgleich sie selbst bereit war, fast alle Menschen zu lieben. Dann kam ihr der Gedanke: »Wenn mich die Menschen nicht lieben wollen, mir liegt nichts daran! Ich verlange von niemandem etwas.« Jählings verflog auch diese Stimmung, gleich einer Wolke, sie liebte alle, war heiter, bis ihr abermals etwas Neues, das gar nicht gegen sie gerichtet war, furchtbar weh tat. In Wirklichkeit wurde sie vom ganzen Haus geliebt und bewundert. Doch war sie einer jener zarten, leicht verletzten Menschen, die mit einer Haut zu wenig geboren werden, und die – besonders in der Kindheit – sehr leiden unter einer Welt, die eine Haut zu viel besitzt.
Zu Wintons großer Freude kannte sie beim Reiten keine Furcht. Sie hatte die beste Erzieherin, die er ihr verschaffen konnte, die Tochter eines verarmten Admirals; später kam noch ein Musiklehrer hinzu, der zweimal die Woche von London herreiste – ein sarkastischer Mann, der sie im geheimen noch mehr bewunderte als sie ihn. Unähnlich den meisten Mädchen, mußte sie keine Zeit ungraziöser Entwicklung durchmachen, sondern wuchs auf wie eine Blume, gleichmäßig und stetig. Winton beobachtete sie oft wie berauscht; die Haltung des Kopfes, das seltsame »Aufflattern« der vollkommen geschnittenen braunen Augen, die Form der Glieder erinnerten ihn schmerzlich an die geliebte Frau. Doch bestand, trotz der Ähnlichkeit mit der Mutter, dennoch ein Unterschied im Äußeren und im Charakter. Gyp hatte gewissermaßen mehr »Rasse«, einen feiner modellierten Körper, eine zarter gebildete Seele, ein wenig mehr geistiges Gleichgewicht, ein wenig mehr Anmut; ihre Stimmungen hatten mehr Abwechslung, ihr Geist war klarer, ihrer Lieblichkeit etwas Skeptizismus beigemischt, dessen ihre Mutter ermangelt hatte.
Trotz ihrem zarten Bau war sie widerstandsfähig; sie konnte den ganzen Tag reiten, kam dann so todmüde heim, daß sie, aus Angst vor der Treppe, auf das Tigerfell vor dem Kamin niedersank. Das Leben in Mildenham war recht einsam, Winton hatte nur einige Jagdkameraden, aber deren Zahl war gering, da seine geistige Eleganz den Durchschnittslandedelmann nicht ertragen konnte und seine frostige Höflichkeit die Frauen abschreckte.
Außerdem regten sich, wie Betty vorhergesagt, die bösen Zungen, die Klatschmäuler der Provinz, die nach allem gieren, was in die Eintönigkeit ihres langweiligen Lebens und ihrer stumpfen Gehirne ein wenig Würze bringen kann. Wenn auch nichts von dem Getratsch an Wintons Ohren drang, so kamen doch darum keine Frauen zu Besuch nach Mildenham. Bis auf einige zufällige Bekanntschaften, bei Begräbnissen, Jagden oder den örtlichen Rennen, wuchs Gyp auf, ohne jemand ihres eigenen Geschlechts näher zu kennen. Dieser Mangel entwickelte ihre Zurückhaltung, ließ sie in den Geschlechtsdingen unwissend bleiben, erzeugte bei ihr eine leise, unbewußte Verachtung für die Männer – für diese Wesen, die ihr um eines Lächelns willen stets zu Diensten standen, sich von einem Stirnrunzeln einschüchtern ließen – und erweckte außerdem in ihr eine heimliche Sehnsucht nach ihren Geschlechtsgenossinnen. Alle Frauen und Mädchen, die mit ihr zusammenkamen, fühlten sich von ihr angezogen, und dies verlieh der kurzen, vergänglichen Freundschaft einen neuen, etwas quälenden Reiz.
Gyps geistige und moralische Entwicklung war kein Gegenstand, dem Winton viel Aufmerksamkeit zu schenken vermochte, gehörte zu jenen Dingen, von denen man nicht spricht. Die äußere Form, wie zum Beispiel der Kirchgang, mußte gewahrt werden, Manieren sollte sie soviel wie möglich durch sein Beispiel erlernen, für das übrige hatte die Natur zu sorgen. Diese Ansicht enthielt viel wahre Weisheit. Gyp las rasch und gierig, vergaß jedoch das Gelesene bald; trotzdem sie in kurzer Zeit alle Bücher aus Wintons spärlicher Bibliothek verschlungen hatte, Byron, Whyte-Melville und Humboldts »Kosmos« mit inbegriffen, hinterließen sie doch keine Spuren in ihrem Geist. Die Versuche der kleinen Erzieherin, ihr religiöses Gefühl zu wecken, hatten keinen Erfolg, und das Interesse des Vikars wurde von Gyps instinktivem Skeptizismus auf die gleiche Stufe gestellt wie jenes, das ihr andere männliche Wesen entgegenbrachten. Sie fühlte, daß es ihm Vergnügen mache, sie »meine Liebe« zu nennen und ihr auf die Schulter zu klopfen, und fand, dies Vergnügen sei genügender Lohn für seine Bemühungen.
In dem kleinen, alten, dunklen Landhaus versteckt, wo nur die Stallungen modernen Bedürfnissen entsprachen – drei Stunden von London und dreißig Meilen von der großen Welt entfernt, war ihre Erziehung natürlich altmodisch. Zweimal im Jahr brachte Winton sie in die Stadt, wo sie bei seiner unverheirateten Schwester Rosamunde in der Curzon-Straße wohnte. Diese Wochen förderten Gyps natürliche Vorliebe für hübsche Kleider, kamen ihrer Zunge zugute und nährten ihre Leidenschaft für Musik und Theater. Doch fehlten ihr vollkommen die beiden Hauptinteressen des modernen Mädchens: Debatten und Sport. Auch fielen die Jahre von ihrem fünfzehnten bis zu ihrem neunzehnten Geburtstag vor die gesellschaftliche Auferstehung von 1906, also in eine Zeit, da die Welt so langsam vorwärtskroch wie eine Winterfliege auf der Fensterscheibe. Winton war ein Tory, Tante Rosamund war ein Tory; ihre ganze Umgebung bestand aus Torys.
Die einzige geistige Entwicklung, die Gyp in ihren Mädchenjahren durchmachte, entsprang der leidenschaftlichen Zuneigung zu ihrem Vater. Der Sinn für äußere Form, der ihnen beiden in hohem Maße eigen war, verhinderte jedes Zurschautragen der Gefühle; dennoch gab es für sie nichts Köstlicheres, als mit ihm zusammen zu sein, etwas für ihn zu tun, ihn zu bewundern, als Vollkommenheit zu empfinden und, da sie ja doch nicht die gleichen Kleider zu tragen und in derselben kurzen, bestimmten, ruhigen Art zu sprechen vermochte, wenigstens die Kleider und Stimmen anderer Männer unliebsam zu finden. Hatte sie von ihm das feine Formgefühl, so hatte sie nicht minder die Eigenschaft geerbt, ihre Zuneigung auf einen einzigen Menschen zu konzentrieren. Da nur seine Gesellschaft sie wahrhaft zu beglücken vermochte, so überflutete stetig ein Liebesstrom ihr Herz. Die grenzenlose Liebe zu jemand war ihr so nötig wie den Blumen der aufsteigende Saft in den Stielen, die grenzenlose Liebe von jemand wie der Sonnenschein den Blüten. Wintons häufige Abwesenheit, wenn er nach der Stadt oder nach Newmarket fuhr, ließ stets ihr Barometer sinken, seine Rückkehr aber ließ es in die Höhe schnellen.
Ein Teil ihrer Erziehung zumindest wurde nicht vernachlässigt – die Teilnahme für die Armen der Nachbarschaft. Ohne sich im mindesten um irgendwelche soziale Probleme zu bekümmern, hatte Winton doch ein offenes Herz, eine freigebige Hand für die Hüttenbewohner, verabscheute aber jede Einmischung in deren Leben. So kam es, daß Gyp, die niemals unaufgefordert ein Haus betrat, von allen Seiten zu hören pflegte: »Kommen Sie doch herein, Fräulein Gyp«, und noch viele andere freundliche Worte, selbst von den verrufensten Individuen, denen ihr hübsches Gesicht und ihre Teilnahme behagten.
So vergingen elf Jahre, bis sie neunzehn und Winton sechsundvierzig war. Dann ging sie, unter dem Schutz ihrer kleinen Erzieherin, zum Parforcejagdball. Ihr tadellos sitzendes Kleid war nicht weiß, sondern hell maisfarben, als ob sie bereits viele Bälle besucht hätte. Sie besaß Wintons ganzen Sinn für Eleganz und noch ein wenig mehr, wie dies ihrem Geschlecht zukam. Mit dem dunklen, schön gewellten und frisierten Haar, das sich über die Stirn legte, dem zum erstenmal entblößten Hals, den »flatternden« Augen und einer völlig gelassenen Haltung – als wisse sie genau, daß Licht und Bewegung, begehrliche Blicke, süße Worte und Bewunderung ihr gutes Recht seien – war sie schöner, als es Winton je erwartet hatte. Am Kleidausschnitt trug sie ein Sträußchen Alpenveilchen, die ihr Winton aus der Stadt mitgebracht hatte, deren Duft sie liebte. Das schmiegsame, zarte, vor Aufregung erglühende Geschöpf erinnerte ihn in jeder Bewegung, jedem Blick an sie, der er einst an einem ebensolchen Ballabend begegnet war. Durch die Haltung seines Kopfes verriet er der Welt seinen Stolz.
Der Abend brachte Gyp mancherlei Erlebnisse, einige angenehme, ein verwirrendes, ein unangenehmes. Bewunderung tat ihr äußerst wohl. Sie tanzte auch leidenschaftlich gern, freute sich der Empfindung, daß sie gut tanze und Freude bereite. Zweimal jedoch schickte sie ihren Tänzer fort, von einem jähen Mitleid mit der kleinen Erzieherin erfaßt, die an der Wand saß, ganz allein, von allen unbeachtet, nur weil sie ältlich und dick war. Und zum Entsetzen der treuen Seele versteifte sie sich darauf, zwei Tänze lang neben ihr zu sitzen. Auch wollte sie nur mit Winton zum Souper gehen. Als sie an seinem Arm in den Ballsaal zurückkehrte, hörte sie eine ältere Dame sagen: »Wissen Sie denn nicht? Natürlich ist er ihr Vater!« Und ein älterer Herr antwortete: »Ah, das erklärt vieles, natürlich.« Sie sah die neugierigen, kalten, ein wenig boshaften Blicke und wußte, daß von ihr die Rede sei. Da kam auch schon ihr Tänzer.
»Er ist ihr Vater!«, – die Worte waren zu bedeutsam, um an diesem ereignisreichen Abend völlig erfaßt zu werden. Sie hinterließen eine kleine Wunde, doch ein milder Balsam linderte ihren Schmerz, es blieb nur eine leichte Verwirrung im Unterbewußtsein zurück. Bald darauf kam das zweite Erlebnis, häßlich und enttäuschend. Es war nach einem Tanz mit einem gut aussehenden Manne, der wohl doppelt so alt sein mochte wie sie. Sie aßen hinter Palmen, er beugte sich dann plötzlich mit erhitztem Gesicht nieder und küßte ihren nackten Arm oberhalb des Ellenbogens. Hätte er sie geschlagen, sie wäre nicht erstaunter oder verletzter gewesen. Sie war in ihrer Unschuld der Meinung, daß er niemals etwas Derartiges gewagt hätte, würde sie ihn dazu nicht durch irgend etwas ermutigt haben. Sie erhob sich, sah ihn einen Augenblick mit schmerzverdunkelten Augen an, schauderte zusammen und glitt fort. Sie ging geradeswegs zu Winton. Er sah an ihrem Gesicht, an den zusammengekniffenen Lippen, die sich leicht nach abwärts bogen, daß etwas Schlimmes vorgefallen war; doch sagte sie nur, sie sei müde und wolle heim. So fuhren sie mit der treuen, kleinen Erzieherin, die nun, da sie ihr unfreiwilliges Schweigen brechen konnte, lebhaft plauderte, durch die frostige Nacht. Winton saß, heftig rauchend, neben dem Chauffeur; er hatte den Pelzkragen aufgeschlagen, unter der runden, tief herabgezogenen Pelzmütze bohrten sich seine Augen in die Dunkelheit. Wer hatte es gewagt, seinem Liebling zu nahe zu treten? Drinnen im Wagen, von dem leisen Geplauder der kleinen Erzieherin umplätschert, saß Gyp schweigend in ihrer dunklen Ecke und dachte nur an die ihr widerfahrene Beleidigung.
Stundenlang lag sie dann wach in der Finsternis, während sich ihre Gedanken zu einer Gewißheit verdichteten. Die Worte: er ist ihr Vater, der Kuß auf ihren nackten Arm waren ihr eine Offenbarung des Geschlechtsgeheimnisses, verstärkten das Gefühl, daß sich im Hintergrunde ihres Lebens etwas verberge. Ein derart empfindsames Kind hatte natürlich die geistige Atmosphäre seiner Umgebung verspürt, doch war Gyp instinktiv vor jeder Gewißheit zurückgeschreckt. Die Zeit, da Winton noch nicht in ihr Leben getreten war, verblaßte für sie in weiter Ferne – Betty, Spielzeug, kurzes Zusammensein mit einem gütigen, kränklichen Manne, der »Papa« genannt wurde. Diesem Worte fehlte die Tiefe, die der Anrede »Väterchen« eignete, die sie für Winton anwandte. Außer Betty hatte zu Gyp niemand von ihrer Mutter gesprochen. Nichts Heiliges lag in der Erinnerung an diese Mutter, keine Treue, die durch Wissen gebrochen werden könnte. Abgesondert von anderen Mädchen, war Gyp niemals die Bedeutung der Konvention recht klar geworden. Trotzdem quälte sie sich – von Verwirrung gepeinigt, die mehr einer Dornenrute glich, die ihre Haut striemte, als einem Stich ins Herz. Das Bewußtsein, daß ihr etwas Auffallendes, Zweifelhaftes, Beleidigungen Herausforderndes anhafte, tat ihr weh. Diese wenigen wachen Stunden brannten ihr ein Mal ein. Endlich verfiel sie, noch ganz verwirrt, in Schlaf und erwachte mit dem leidenschaftlichen Wunsch, alles zu wissen. Den ganzen Morgen saß sie am Klavier, spielte, weigerte sich, auszugehen, war gegen Betty und die Erzieherin eisig kalt, bis jene in Tränen ausbrach und diese zu Wordsworth flüchtete. Nach dem Tee betrat sie Wintons Studierzimmer, den düsteren, kleinen Raum, in dem er nie etwas studierte, der mit Ledersesseln und Büchern angefüllt war, von denen außer Byron, Büchern über Pferdezucht und einigen Romanen nie eines gelesen wurde. An den Wänden hingen Stiche berühmter Pferde, Wintons Säbel, Photographien von Gyp und einigen Offizierskameraden. Nur zwei helle Stellen waren im ganzen Zimmer, – das Feuer und die kleine Vase, die Gyp stets mit Blumen füllte.
Als sie hereinglitt, die schlanke Gestalt mit milchweißem Antlitz, die dunklen Augen wie verschattet, schien es Winton, sie sei über Nacht erwachsen geworden. Seine innige Liebe zu ihr peinigte ihn mit einer Sorge, die fast zur Angst wurde. Was konnte sich gestern abend zugetragen haben – an diesem Abend, da sie in die zudringliche, schwatzhafte Gesellschaft eingeführt worden war? Sie glitt vor ihm auf dem Fußboden nieder. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, sie nicht einmal berühren, denn sie kniete neben seiner künstlichen rechten Hand. Seine Furcht bezwingend, fragte er:
»Nun, Gyp, – bist du müde?«
»Nein.«
»Ein klein wenig vielleicht?«
»Nein.«
»Hat der gestrige Abend deinen Erwartungen entsprochen?«
»Ja.«
Die Holzscheite im Kamin prasselten und zischten, lange Flammen züngelten auf, draußen heulte der Wind. Plötzlich sagte sie, so rasch, daß es ihr fast den Atem verschlug:
»Väterchen, bist du wirklich und wahrhaftig mein Vater?«
In den wenigen Sekunden vor der unvermeidlichen Antwort überstürzten sich Wintons Gedanken. Ein weniger entschlossener Charakter hätte vor einer großen geistigen Leere gestanden, hätte sich in wilder Panik in ein »Ja« oder »Nein« geflüchtet. Winton jedoch wollte nicht sprechen, ohne alle möglichen Folgen seiner Antwort bedacht zu haben. Daß er ihr Vater war, gab seinem Leben Wärme; wenn er dies aber eingestand, inwieweit vermochte es ihre Liebe zu ihm zu verletzen? Was wußte denn ein Mädchen? Wie konnte er sich ihr verständlich machen? Was wird sie der toten Mutter gegenüber empfinden? Und was empfände die geliebte Tote? Was entspräche am besten ihrem Wunsch?
Es war ein grausamer Augenblick. Das Mädchen, das mit verstecktem Gesicht gegen sein Knie lehnte, kam ihm nicht zu Hilfe. Nun, da einmal ihr Instinkt erwacht war, konnte er es ja doch nicht mehr vor ihr verbergen. Er umklammerte fest die Stuhllehne und sagte:
»Ja, Gyp, wir haben einander geliebt, deine Mutter und ich.«
Er merkte, wie ein Schauder sie durchlief, hätte viel darum gegeben, ihr Gesicht zu sehen. Inwieweit verstand sie seine Worte? Jetzt hieß es, bis zum Ende gehen; er fragte:
»Weshalb hast du mich gefragt?«
Sie schüttelte den Kopf, flüsterte:
»Ich bin froh darüber!«
Kummer, Schreck, selbst bloßes Erstaunen ihrerseits hätte seine ganze Treue gegen die Tote aufgepeitscht, die ganze trotzige Bitterkeit; hätte ihn Gyp gegenüber zu Eis gemacht. Dieses leise Flüstern aber erweckte in ihm den Wunsch, die Sache zu mildern.
»Niemand hat es je gewußt. Sie starb bei deiner Geburt. Es war für mich ein grenzenloser Schmerz. Wenn du irgend etwas Derartiges gehört hast, war es nur Klatsch, weil du meinen Namen trägst. Über deine Mutter ist nie ein Wort laut geworden. Doch ist es besser, du weißt es, jetzt, da du erwachsen bist. Es kommt selten vor, daß Menschen einander so lieben, wie wir uns geliebt haben. Du brauchst dich unser nicht zu schämen.«
Ihr Gesicht war noch immer von ihm abgewandt. Nun sagte sie ruhig:
»Ich schäme mich nicht. Gleiche ich ihr sehr?«
»Ja, mehr als ich je zu hoffen wagte.«
»Dann liebst du mich nicht um meiner selbst willen?«
Winton wurde es nur unklar bewußt, wie sehr diese Frage Gyps Natur offenbarte, ihre Fähigkeit, instinktiv ins Innerste der Dinge einzudringen, ihren empfindsamen Stolz, ihr Verlangen nach ausschließlicher, vollkommener Liebe. Er bemerkte nur:
»Wie kannst du das glauben?!«
Dann aber sah er zu seinem Schrecken, daß sie weinte und es zu unterdrücken versuchte, so daß ihre Schulter gegen sein Knie schlug. Fast nie hatte er sie weinen sehen, nicht bei den verschiedenen Vorfällen ihrer Jugend, obwohl sie das gewöhnliche Maß von Schlägen und Püffen erhalten hatte. Er vermochte nur sanft ihre Schulter zu streicheln und zu sagen:
»Nicht weinen, Gyp, nicht weinen!«
Sie hörte ebenso rasch wieder auf, wie sie begonnen hatte, erhob sich und war verschwunden, ehe er ihr folgen konnte.
Beim Diner war sie ganz wie sonst. Er vermochte in ihrer Stimme, ihrer Art, ihrem Gutenachtkuß nicht den geringsten Unterschied zu bemerken. Der Augenblick, den er seit Jahren gefürchtet, war also vorübergegangen und ließ nur die leise Beschämung zurück, die Seelen einmal anhaften bleibt, wenn sie die Zurückhaltung verletzt haben. Solange das Geheimnis noch unenthüllt gewesen war, hatte es ihn nicht gestört, nun schmerzte es ihn. Gyp jedoch hatte an diesem Tag ihre Kindheit für immer begraben. Ihr zurückhaltendes Gefühl den Männern gegenüber verhärtete sich. Wenn sie ihnen nicht weh tat, so würden sie ihr weh tun! Der Geschlechtsinstinkt war zum Leben erwacht.