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XII. Kapitel

Zwei Monate nach Summerhays Tod kehrten sie, am Neujahrstag, nach Mildenham zurück, das dunkle Mildenham, mit dem stets gleichen Geruch, erfüllt von den Erinnerungen alter Tage. Für die kleine Gyp, die nun bereits fünf Jahre alt war und die schon das Leben zu verstehen begann, war dies das liebste Heim. Wenn Gyp beobachtete, wie das Kind, gleich ihr selbst in vergangenen Tagen, zu einem Geiste des alten Hauses wurde, so fand sie bisweilen Ruhe. Sie hatte sich noch nicht völlig erholt, und wenn man sie unversehens überraschte, war ihr Gesicht voll tiefer Trauer. Ihre Hauptsorge bestand darin, sich nicht überraschen zu lassen. Winton erschien ihr Lächeln aber ebenso traurig. Er wußte in diesem Winter und Frühling mit ihr nicht aus noch ein. Sie gab sich ja ersichtlich alle Mühe, wieder aufzuleben, man konnte aber nur zusehen und warten. Es hatte keinen Sinn, sie anzutreiben. Die Zeit allein vermochte Heilung zu bringen, – vielleicht.

Der Frühling kam und verging. Körperlich war Gyp wieder gesund, doch hatte sie seit ihrer Rückkehr nach Mildenham kein einziges Mal den Garten verlassen, kein einziges Mal vom roten Haus gesprochen, kein einziges Mal von Summerhay. Nicht, daß sie ihren Kummer hegte, im Gegenteil, sie versuchte, ihn zu vergessen, zu verbergen. Sie litt nur an dem, was man früher ein gebrochenes Herz nannte. Die kleine Gyp, der man mitgeteilt hatte, daß Bryan für immer fortgegangen sei und sie nie von ihm sprechen dürfe, um »Mütterchen nicht zu betrüben«, verharrte manchmal ganz still, betrachtete die Mutter mit verwirrtem Ernst. Einmal sagte sie zu Winton: »Mütterchen lebt gar nicht mit uns, Großpapa; – sie lebt irgendwo anders, glaube ich. Vielleicht mit Bryan?«

»Vielleicht, Liebling. Doch darfst du das nur zu mir sagen. Sprich nie mit jemand über Bryan.«

»Ja, ich weiß, Großpapa, aber wo ist er?«

Was konnte Winton erwidern?

Er ritt oft mit dem Kinde aus, das gleich seiner Mutter im Sattel am glücklichsten war, doch wagte er nicht, Gyp zum Mitkommen aufzufordern. Sie sprach niemals mehr von Pferden, ging niemals in den Stall, verbrachte die Tage mit kleinen Beschäftigungen im Hause und im Garten, saß am Klavier, spielte bisweilen ein wenig oder verharrte davor mit gefalteten Händen, die Tasten betrachtend. All dies spielte sich früh in dem unheilvollen Sommer ab, ehe noch ein Mensch das Weltbeben verspürte, oder sah, wie die Dunkelheit sich zusammenzuballen begann. Winton dachte oft: Wenn doch etwas geschähe, um sie von sich selbst abzulenken!

Im Juni schlug er eine Reise nach London vor. Zu seinem Erstaunen ging sie sofort darauf ein. In der Pfingstwoche fuhren sie zur Stadt. Als sie an Widrington vorbeikamen, zwang er sich zur Gesprächigkeit, blickte später verstohlen hinter der Zeitung hervor auf sie. Gyp sah auf die Felsen hinaus, Tränen flossen ihr über die Wangen. Lautlos, regungslos saß sie da, nur die Tränen rannen und rannen. Hinter seiner Zeitung kniff Winton die Augen zusammen, sein Gesicht verhärtete sich, bis die Haut straff über die Knochen gespannt schien.

Der Weg zur Bury-Straße führte sie durch enge Nebengassen, wo das Elend der Welt zur Schau stand, wo krank aussehende Männer, zerlumpte, erschöpfte Frauen, gespenstische kleine Kinder im Rinnstein und auf jeder Hausschwelle durch jeden Zug ihrer kalkweißen Gesichter, jede Bewegung ihrer unterernährten Körper die Tatsache verkündeten, wie fern das Goldene Zeitalter noch ist. Die ärmlichen, schmutzigen Häuser waren in einem Zustand dauernden Verfalls, und hier konnte man ebensowenig Schönheit finden wie in einem Kanal. Gyp beugte sich vor, und Winton fühlte, daß ihre Hand in die seine glitt.

Am Abend nach dem Diner – in dem Zimmer, das er für ihre Mutter möbliert hatte, wo noch, wie vor dreißig Jahren, der kleine Schreibtisch stand, die Seidenholzstühle sich befanden, der alte Kupferlüster – sagte sie: »Väterchen, hättest du etwas dagegen, wenn ich in Mildenham ein Heim für arme Kinder einrichtete, wo sie gute Luft und Nahrung haben?«

Seltsam erschüttert durch den ersten Wunsch, den sie seit dem Unglück ausgesprochen hatte, erwiderte Winton:

»Hast du dazu auch die nötige Kraft, Liebste?«

»O ja. Mir fehlt ja jetzt nichts mehr, außer hier.« Sie berührte ihr Herz. »Was einmal verschenkt ist, bekommt man nicht wieder. Ich täte es ja gerne, wenn ich könnte. Es war eine schreckliche Zeit für dich. Wenn ich mich um die Kinder kümmern müßte, hätte ich weniger Zeit, nachzudenken, und je mehr ich zu tun habe, um so besser. Ich möchte gleich damit anfangen.«

Winton nickte. Alles, was ihr gut tun konnte, sollte sie tun, – alles!

»Rosamunde wird dir helfen, die Kinder auszuwählen«, murmelte er. »Sie versteht sich vorzüglich auf solche Dinge.« Dann sah er ihr in die Augen und fügte hinzu: »Mut, meine Seele. Es wird alles wieder gut werden.«

Gyp zwang sich zu einem Lächeln.

»Und dennoch«, sagte sie sehr leise, »möchte ich es nicht missen.«

Sie saß vor ihm, die Hände im Schoß gefaltet, ihre Augen leuchteten seltsam, ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Und Winton dachte: Liebe, – unermeßlich, über den Tod hinaus!

Ende


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