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VII. Kapitel

Alle, die eine Windstille erlebt, die gesehen haben, wie die Segel des trägen Schiffes schlaff herabhängen, wie die Hoffnung auf Vorwärtskommen täglich stirbt – werden das Leben verstehen können, das Gyp nun führte. Aber jede Windstille nimmt ein Ende. Eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren hingegen, die durch ihre Heirat einen Irrtum begangen hat und nur sich selbst darüber Vorwürfe machen darf, sieht kein Ende voraus, es sei denn, sie ist eine der »neuen Frauen«; zu diesen gehörte Gyp aber nicht. Nachdem sie beschlossen hatte, ihre Niederlage nicht zuzugeben, mit zusammengebissenen Zähnen den Gedanken an das Kind zu ertragen, fuhr sie fort, sogar vor Winton alles zu verbergen. Fiorsen gegenüber benahm sie sich wie gewöhnlich, machte ihm das materielle Leben leicht und angenehm, – begleitete ihn auf dem Klavier, fütterte ihn gut, befriedigte seine Verliebtheit. Sich als Märtyrerin zu betrachten, wäre töricht gewesen. Ihre mit Erfolg verborgene »malaise« lag tiefer, – war die des Geistes; war die vollkommene Entmutigung eines Menschen, der sich selbst die Flügel beschnitten hat.

Rosek behandelte sie, als hätte sich die kleine Szene nie ereignet. Seitdem ihr Mann betrunken heimgekommen war, war ihr der Gedanke vergangen, sich in schwierigen Fällen an ihn zu wenden. Ihrem Vater wagte sie es nicht zu erzählen. Doch war sie stets auf der Hut, wußte, daß ihr Rosek die eigene Lächerlichkeit niemals vergeben würde. Seine Anspielungen auf Daphne Wing schlug sie sich aus dem Kopf, wie ihr dies nie gelungen wäre, wenn sie Fiorsen geliebt hätte. Sie richtete sich ihren Götzen Stolz auf und wurde dessen treue Anbeterin. Nur Winton wußte, vielleicht auch Betty, daß sie nicht glücklich war. Fiorsens Verantwortungslosigkeit in Geldsachen quälte sie nicht sonderlich, sie bestritt den ganzen Haushalt – Miete, Löhne, Nahrung und ihre eigenen Kleider – bis jetzt war es ihr gelungen, mit ihrem Gelde auszukommen; was er außerhalb des Hauses tat, dagegen war sie machtlos.

So verging der Sommer, bis alle Konzerte vorüber waren, und man nach der allgemeinen Ansicht unmöglich länger in London bleiben konnte. Gyp hatte Angst, fortzufahren. Sie wollte gern ruhig in ihrem kleinen Hause bleiben. Dies veranlaßte sie, eines Abends, nach dem Theater, Fiorsen ihr Geheimnis mitzuteilen. Seine Wangen, die London zu sehr gebleicht und ausgehöhlt hatte, färbten sich rot, er erhob sich, starrte sie an. Gyp machte unwillkürlich eine abwehrende Handbewegung.

»Du brauchst mich nicht anzusehen, es ist wahr.«

Er fuhr sich an die Stirn, brach aus: »Aber ich will es nicht, will es nicht, meine Gyp soll nicht unschön werden …!« Dann trat er rasch, mit erschrockenem Gesicht auf sie zu. »Ich will es nicht, ich fürchte mich davor. Du sollst kein Kind haben.«

Über Gyp kam dasselbe Gefühl, das sie empfunden hatte, da er, betrunken, gegen die Wand gelehnt, vor ihr gestanden: Mitleid, das die Verachtung für sein kindisches Verhalten überwog. Sie nahm seine Hand und sagte: »Laß gut sein, Gustav, es wird dich gar nicht stören. Wenn ich anfange häßlich zu werden, werde ich mit Betty fortgehen, bis alles vorüber ist.«

Er sank vor ihr in die Knie. »O nein! Nein! Nein! Meine schöne Gyp!«

Und Gyp verharrte erstarrt wie eine Sphinx, aus Angst, es könnten auch ihr die Worte entschlüpfen: »O nein!«

Die Fenster standen offen, Nachtfalter flatterten herein, einer setzte sich auf die Hortensie, die auf dem Kamin stand. Gyp betrachtete das weiche, weiße, flaumige Ding, dessen Kopf sich wie ein winziger Eulenkopf von den blauen Blüten abhob, sie blickte auf die purpurgrauen Kacheln des Kamins, auf das eigene Kleid im gedämpften Lampenschein. Ihr Schönheitssinn empörte sich, aufgepeitscht durch Fiorsens: »O nein!« Bald wird sie unförmig, häßlich sein, Schmerzen erdulden, vielleicht daran sterben, wie ihre Mutter gestorben war! …

Es interessierte sie an diesem Abend und am folgenden Tage, sein Verhalten der bestürzenden Nachricht gegenüber zu beobachten. Da er endlich eingesehen hatte, daß er sich in den Willen der Natur schicken müsse, begann er, jeder Erinnerung daran krampfhaft auszuweichen. Sie scheute sich, ihm vorzuschlagen, er möge ohne sie in Ferien gehen. Als er jedoch fortgefahren war – mit Rosek nach Ostende –, empfand Gyp tiefen Frieden.

Allein im Haus zu sein, ohne diesen fremden, störenden Menschen! Als sie in der schwülen Stille des nächsten Morgens erwachte, suchte sie vergeblich, sich einzureden, daß sie ihn vermisse. Ihr Herz war jeder Leere, jeder Sehnsucht bar; sie empfand nur, wie angenehm und still und kühl es sei, so allein zu liegen. Sie blieb lange im Bett. Es war köstlich, dazuliegen, bisweilen in Halbschlummer zu versinken, während Tür und Fenster weit offenstanden, die Hündchen ein und aus liefen, das Gegurre der Tauben an ihr Ohr drang und der ferne Lärm der Stadt; köstlich, sich wieder einmal als Herr des eigenen Körpers, der eigenen Seele zu fühlen. Nun, da Fiorsen es wußte, hatte sie nicht mehr den Wunsch, ihren Zustand zu verbergen. Sie telephonierte dem Vater, daß sie allein sei.

Winton hatte die Stadt nicht verlassen, weil es zwischen Goodwood und Doncaster keine Rennen gab, die ihn interessierten. Da in dieser Jahreszeit auch keine Parforcejagden stattfanden, konnte er also ebensogut in London bleiben. Der August war für ihn der angenehmste Monat in der Stadt, denn der Klub war leer, es bestand also keine Gefahr, von langweiligen Leuten überfallen zu werden. Der kleine Boncarte, der Fechtlehrer, war stets frei – Winton hatte längst gelernt, die rechte Hand durch die linke zu ersetzen; die türkischen Bäder in der Jermyn-Straße waren ohne ihre fetten Kunden, er konnte nach Covent-Garden hinübergehen, eine Melone kaufen und heimbringen und begegnete dabei in Piccadilly nur den minderwertigsten Herzoginnen. An milden Abenden konnte er, seine Zigarre rauchend, durch die Straßen oder die Parks streifen, vagen Gedanken nachhängend, vagen Erinnerungen. Die Nachricht, daß seine Tochter allein, von dem Kerl befreit sei, erfüllte ihn mit Entzücken. Wo sollten sie dinieren? Frau Markey war auf Urlaub. Weshalb nicht bei Blafard? Dort waren kleine, ruhige Räume, – nicht allzu respektabel war das Lokal, – aber es war dort wundervoll kühl. Also? Blafard!

Als Gyp vorfuhr, war er fertig. Wie hübsch sie aussah, obwohl blaß! Die dunklen Augen, das Lächeln! Er trat rasch an den Wagen heran, sagte: »Nein, ich steige ein. – Wir dinieren bei Blafard, Gyp, wollen uns einen schönen Abend gönnen.«

Es machte ihm Freude, hinter ihr das kleine Restaurant zu betreten, durch die niedrigen roten Räume zu schreiten, zu beobachten, wie die Gäste ihm mit neidischen Blicken nachstarrten. Er brachte sie in einer Ecke beim Fenster unter, wo sie die Leute sehen und von ihnen gesehen werden konnte. Er wollte, daß sie gesehen werde, während er der Welt nur die Rückseite und sein graues Haar zuwandte. Der Anblick dieser vor Hitze glänzenden, Champagner schlürfenden Banausen sollte ihm sein Vergnügen nicht beeinträchtigen, – denn im geheimen durchlebte er nicht nur diesen Abend, sondern auch einen anderen, längst vergangenen Abend, da er, in dieser selben Ecke, mit ihrer Mutter diniert hatte. Damals hatte er sich den Blicken ausgesetzt, ihr Gesicht war verborgen geblieben! … Doch sprach er Gyp nicht von seinen Erinnerungen.

Er nahm ihre Mitteilung mit dem ihr so vertrauten Ausdruck auf, – mit zusammengepreßten Lippen, in die Höhe starrenden Augen.

»Wann?« fragte er.

»November.«

Der gleiche Monat! Er streckte ihr über den Tisch die Hand hin, preßte die ihre fest: »Es wird alles gut gehen, Kind. Ich bin sehr froh darüber.«

Seine Hand festhaltend, flüsterte Gyp: »Ich nicht, doch verspreche ich dir, keine Angst zu haben.«

Weder Gyp noch Winton ließen sich täuschen. Doch verstanden sie beide, den Dingen ein gelassenes Gesicht zu zeigen. Außerdem war dies für sie ein »freier Abend«, – der erste seit Gyps Heirat. Nach Wintons Frage: »Er ist also nach Ostende gefahren?« – und seinem Gedanken: das sieht ihm ähnlich! –, erwähnten sie Fiorsen nicht mehr, sondern sprachen von Pferden, von Mildenham – es schien Gyp, als wäre sie seit Jahren nicht mehr dort gewesen – und von ihren kindlichen Streichen. Sie blickte ihn neckend an, fragte:

»Wie warst du als Junge, Väterchen? Tante Rosamunde erzählt, du hättest Wutanfälle bekommen, und dann habe sich niemand in deine Nähe wagen dürfen. Sie sagt, immer seist du auf Bäumen herumgeklettert, hättest mit der Schleuder geschossen, Tieren aufgelauert, und niemals etwas verraten, das du verheimlichen wolltest. Und hast du dich nicht einmal wahnsinnig in deine Erzieherin verliebt?«

Winton lächelte. Fräulein Huntley! Mit lockigem, braunem Haar, blauen Augen und reizenden Kleidern!

»Ja, ja. Mein Gott, wie lange ist das doch her! Und dann ging mein Vater nach Indien, er kam nicht wieder, fiel in den ersten afghanischen Kämpfen. Wenn ich jemand liebhatte, so hatte ich ihn lieb. Doch fühlte ich die Dinge nicht so tief wie du, Gyp – war lange nicht so empfindsam. Nein, ich war ganz anders als du, Gyp.«

Und ihre Augen betrachtend, die gedankenlos den Bewegungen der Kellner folgten, die niemals starrten und dennoch alles sahen, dachte er: du hübschestes Geschöpf der Welt!

»Nun«, meinte er, »wo möchtest du jetzt hin? Ins Theater gehen oder ins Varieté?«

Gyp schüttelte den Kopf. Es war zu heiß. Könnten sie nicht ein wenig spazierenfahren, dann im Park sitzen? Es war bereits dunkel, die Luft weniger drückend – ein frischer Duft von den Bäumen auf den Plätzen und in den Parks vermischte sich mit den Benzin- und Staubdünsten. Winton gab den gleichen Befehl, den er an jenem anderen Abend gegeben hatte: »Knights-Bridge-Gate.« Damals waren sie in einem Hansom gefahren, die kühle Nachtluft hatte ihnen ins Gesicht geweht, – nun, in dieser Autodroschke blies sie nur in den Nacken. Sie stiegen aus, passierten die Row, schritten zwischen den Bäumen von Long Water entlang. Dort setzten sie sich auf zwei Sessel, auf die Winton seinen Mantel legte. Noch fiel kein Tau, die Blätter hingen reglos in der milden, schwer duftenden Luft. Von den Bäumen und dem Gras hoben sich andere Paare ab, dunkler denn die Dunkelheit, sehr still. Von Wintons Lippen entkräuselte sich der Zigarrenrauch. Er träumte. Ein langer Aschenstreifen fiel herab. Er hob die Hand, um ihn fortzuwischen. Ihre Stimme sagte leise, nahe an seinem Ohr: »Ist es nicht köstlich, so warm und tief schwarz?«

Winton fröstelte.

»Ja, sehr schön. Aber meine Zigarre ist ausgegangen, und ich habe keine Streichhölzer.«

Gyps Hand glitt durch seinen Arm.

»Alle diese verliebten Menschen, das Dunkel, das Flüstern, – es liegt etwas Seltsames in der Luft. Fühlst du es nicht?«

Ein Windstoß ließ die Blätter rauschen, einen Augenblick schien die Nacht voller Raunen. Dann erklang ein mißtönendes Kichern.

Gyp erhob sich.

»Ich fühle schon den Tau, Väterchen. Wollen wir nicht weitergehen?«

Der Zauber war gebrochen, die Nacht wieder eine gewöhnliche Londoner Nacht, der Park nur ein Erdenfleck mit Kies und verdorrendem Gras, die Menschen ringsum Angestellte und Ladenmädchen, die miteinander »gingen«.


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