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XIII. Kapitel

In der Nacht schlief Gyp so friedlich, als wäre nichts geschehen, als läge keine Zukunft vor ihr. Das Erwachen brachte ihr tiefe Traurigkeit. Ihr Stolz zwang sie, ein gleichmütiges Gesicht zu zeigen, ein gleichgültiges Leben weiterzuführen. Doch tobte in ihr noch der Kampf zwischen dem Muttergefühl und der Empörung. Sie hatte Angst, das Kind zu sehen.

Um die Mittagszeit stand sie auf und ging hinunter. Sie hatte nicht erkannt, wie heftig die Abneigung gegen sein Kind sei, bis sie an dem Zimmer vorbeiging, in dem es lag. Ihr Herz schmerzte, doch trieb ein Dämon sie an der Tür vorbei. Unten wanderte sie durch die Zimmer, staubte die Nippes ab, brachte die Bücher in Ordnung, die das Mädchen beim Aufräumen allzu pedantisch geordnet hatte, so daß die ersten Bände Dickens' und Thackerays auf einem Regal standen, die zweiten auf dem nächsten. Und die ganze Zeit dachte sie: was liegt mir daran, wie es hier aussieht? Das ist ja nicht mein Heim, – kann niemals mein Heim sein.

Zum Lunch aß sie nur ein wenig Suppe, um den Anschein ihres Unwohlseins aufrechtzuerhalten. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch. Etwas mußte geschehen! Nichts schrieb sie, nicht ein Wort, nicht einmal die Anrede. Das Mädchen brachte einen Brief von Tante Rosamunde und ließ die Hunde herein, die über sie herfielen und sofort um ihren Besitz zu raufen begannen. Sie kniete nieder, um sie zu trennen; die gierigen Zungen leckten ihr wild die Wangen. Unter diesen Küssen lockerte sich der Reif um ihr Herz, eine plötzliche Sehnsucht nach ihrem Kinde erfaßte sie. Von den Hunden gefolgt, ging sie ins obere Stockwerk.

Am Abend schrieb Gyp eine Postkarte:

»Wir sind zurück.«

Er würde den Brief nicht vor seinem Erwachen gegen elf Uhr vormittags erhalten. Instinktiv jeden Aufschub ausnützend, ging sie am Vormittag aus, wanderte den ganzen Tag umher, machte Einkäufe und versuchte, nicht zu denken. Als sie zur Teezeit heimkam, begab sie sich sofort in das Kinderzimmer. Er war zurückgekommen und mit seiner Geige ins Musikzimmer gegangen.

Gyp bedurfte ihrer ganzen Selbstbeherrschung. Bald wird das Mädchen vor die Hintertür gehuscht kommen, vielleicht klopfen eben jetzt ihre Finger an, und er flüstert öffnend: »Nein, sie ist wieder da.« Ah, dann wird das Mädchen zurückweichen. Rasches Getuschel, die Vereinbarung eines anderen Ortes für ihre Zusammenkünfte, Lippen auf Lippen, der Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens, bis es enttäuscht in der Dunkelheit die verschlossene Pforte verläßt. Und er, auf dem Diwan aus Gold und Silber, an seinem Schnurrbart kauend, wird in die Finsternis starren mit seinen Katzenaugen. Dann wird vielleicht aus seiner Geige eine jener Melodien brechen, in denen Wind und Tränen schluchzen, und die sie einst bezaubert haben.

»Mach das Fenster ein wenig auf, liebe Betty, – es ist heiß.«

Musik! Anschwellend, abflauend! – Weshalb wird sie von ihr so erschüttert, selbst wenn sie, wie jetzt, eine Beleidigung ist? Der Gedanke kam ihr: er wird erwarten, daß ich wieder dorthin komme und für ihn spiele. Doch will ich es nicht, nie wieder!

Sie begab sich in ihr Schlafzimmer, zog hastig ein Teagown an, ging hinunter. Eine kleine Porzellanschäferin auf dem Kaminsims erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie hatte vor drei Jahren die Figur gekauft, da sie zuerst nach London gekommen war, als ihr das Leben als langer Kotillon erschien, dessen Führerin sie war. Die kühle Zartheit der kleinen Schäferin ließ sie jetzt als Symbol einer anderen Welt erscheinen, einer Welt ohne Tiefen und Schatten, keiner glücklichen Welt.

Sie brauchte nicht lange darauf zu warten, daß er an die Glastür des Salons klopfe. Weshalb sehen Gesichter, die aus der Dunkelheit durch Glas blicken, stets so hungrig aus, als verlangte es sie nach etwas, das wir besitzen und das ihnen fehlt? Während sie die Tür öffnete, dachte sie: was werde ich sagen? Die Glut seines Blickes, seiner Stimme, seiner Hände schien ihr komisch, und von noch falscherer Komik sein enttäuschter Ausdruck, als sie sagte: »Bitte, sei vorsichtig, ich bin noch recht zerbrechlich. Hast du dich bei Graf Rosek gut unterhalten?« Und gegen ihren Willen entschlüpften ihr die Worte: »Ich fürchte, du wirst das Musikzimmer vermißt haben.«

Sein Blick wurde unsicherer; er begann auf und ab zu gehen.

»Vermißt?! … Ich habe alles vermißt, war sehr unglücklich, Gyp. Du hast keine Ahnung, wie unglücklich, ja, unglücklich, unglücklich ich war!« Mit jeder Wiederholung des Wortes wurde seine Stimme heiterer. Schließlich kniete er vor ihr nieder, legte die langen Arme um sie. »Ach, meine Gyp, – jetzt werde ich wieder ein anderer Mensch sein!«

Gyp lächelte noch immer. Sie wollte offenbar seinem falschen Entzücken nicht einen Stoß ins Herz versetzen. Sowie seine Hände sie freiließen, erhob sie sich und sagte: »Du weißt doch, daß ein Baby im Haus ist?«

»Ach das Baby hab' ich ja vollkommen vergessen. Wir wollen es ansehen.«

Gyp erwiderte: »Geh du allein!«

Sie erriet seinen Gedanken: wenn ich gehe, wird sie zu mir gut sein! Er wandte sich plötzlich um und ging.

Sie stand mit geschlossenen Augen, sah den Diwan im Musikzimmer, den zitternden Arm des Mädchens. Dann setzte sie sich ans Klavier und begann eine Polonäse zu spielen.

Am Abend dinierten sie auswärts, gingen nachher in »Hoffmanns Erzählungen«. So war es möglich, ihr Vorhaben noch ein wenig hinauszuschieben. Während der Heimfahrt, im dunklen Wagen, verkroch sie sich in die Ecke, gab vor, sein Arm zerknülle ihr Kleid. Zweimal war sie nahe daran, auszurufen: »Ich bin nicht Daphne Wing!« Doch jedesmal erstickte ihr Stolz die Worte in der Kehle. Aber wie sonst konnte sie ihn von ihrem Zimmer fernhalten?

Als sie ihn jedoch im Spiegel hinter sich stehen sah – er hatte sich wie eine Katze in ihr Schlafzimmer geschlichen – schoß ihr das Blut ins Gesicht und sie sagte: »Nein, Gustav, geh ins Musikzimmer, wenn du eine Gefährtin willst.«

Er wich gegen das Fußende des Bettes zurück, starrte sie an. Gyp wandte sich wieder zum Spiegel zurück und zog gelassen die Haarnadeln aus ihrer Frisur. Sie sah, daß er Kopf und Hände bewegte, als ob er Schmerzen litte. Dann entfernte er sich zu ihrem Erstaunen. Ein unklares Reuegefühl vermischte sich mit dem Gefühl der Befreiung. Lange lag sie noch wach, beobachtete auf der Zimmerdecke die Lichter und Schatten des Kaminfeuers, in ihrem Kopf summten Melodien aus »Hoffmanns Erzählungen«, Gedanken und Vorstellungen jagten einander in ihrem überreizten Gehirn. Als sie endlich einschlief, träumte ihr, sie füttere Tauben, und eine der Tauben sei Daphne Wing. Aufschreckend erwachte sie. Das Feuer brannte noch immer, im Flammenschein sah sie ihn am Fußende des Bettes kauern wie in ihrer Hochzeitsnacht, – die gleiche hungrige Sehnsucht im Gesicht, die Arme nach ihr ausgestreckt. Bevor sie etwas sagen konnte, begann er: »Gyp, du verstehst mich nicht! Das bedeutet ja alles nichts – ich will nur dich. Ich bin ein Narr, der sich nicht beherrschen kann. Denke doch, es ist lange her, seit du von mir fortgegangen bist.«

Gyp sagte mit harter Stimme: »Ich wollte kein Kind.«

»Nein. Jetzt aber, da du es hast, bist du froh. Sei nicht unbarmherzig, meine Gyp. Es sieht dir ähnlich, barmherzig zu sein. Mit dem Mädchen ist alles vorbei, ich schwöre es, verspreche es.«

Gyp dachte: Weshalb kommt er und winselt mir vor? Er hat nicht die geringste Würde.

»Wie kannst du das versprechen? Du hast es erreicht, daß dich das Mädchen liebt, – ich sah es an ihrem Gesicht.«

»Du sahst es?«

»Ja.«

»Sie ist eine kleine Närrin, mir liegt an dem ganzen Mädchen nicht so viel wie an einem deiner Finger. Was bedeutet so etwas, wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist?! … Die Treue ist Sache der Seele, nicht des Körpers.«

Gyp meinte: »Es bedeutet etwas, wenn es andere unglücklich macht.«

»Hat es dich unglücklich gemacht, meine Gyp?« Leise Hoffnung tönte aus seiner Stimme.

Fast erschrocken erwiderte sie: »Mich? Nein, – aber sie.«

»Sie? Es ist ein Erlebnis für sie, – es wird ihr nicht schaden.«

»Nein, nichts, was dir Vergnügen macht, kann einem anderen schaden.«

Auf diesen bitteren Vorwurf hin schwieg er lange Zeit, seufzte nur bisweilen tief auf. »Die Treue ist Sache der Seele, nicht des Körpers.« War er ihr am Ende nicht treuer, als sie ihm jemals gewesen, jemals sein konnte, die ihn nicht liebte, die ihn nur aus Eitelkeit geheiratet hatte – oder aus was für einem Grund?

Plötzlich sagte er: »Gyp! Verzeih mir.«

Sie wandte seufzend das Gesicht ab.

Er beugte sich tief über die Eiderdaunendecke. Sie hörte seine langen schluchzenden Atemzüge und empfand trotz aller Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit Mitleid mit ihm. Was lag schließlich daran? Mit erstickter Stimme sagte sie: »Gut, ich verzeihe dir.«


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