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X. Kapitel

Am gleichen Abend beobachtete Summerhay von der Ecke der Bury-Straße aus, wie Gyp rasch dem Hause ihres Vater zuging. Sein Verlangen, Gyp immer bei sich zu haben, wuchs stetig. Weshalb noch länger warten, da ihr Mann alles wußte? Sie würden keine Ruhe finden, – von diesem Kerl bedroht. Sie müssen ins Ausland reisen, bis alles geordnet ist, dann wird er einen Ort finden, wo sie sicher und glücklich leben können. Deshalb muß er seine Angelegenheiten regeln. Und er dachte: es hat keinen Sinn, die Sache halb zu machen. Meine Mutter muß es wissen. Je früher, desto besser. Mit einer Grimasse machte er sich auf den Weg nach dem Hause seiner Tante in Cadogan-Gardens, wo seine Mutter zu wohnen pflegte, wenn sie in der Stadt war.

Lady Summerhay wartete auf das Diner und las in einem Buch über Träume. Die rotbeschirmte Lampe warf einen Strahl über ihr graues Kleid, ihre rötliche Wange und ihre weiße Schulter. Sie war eine auffallende Persönlichkeit, ihr blondes Haar begann eben erst zu ergrauen, denn sie hatte jung geheiratet, war bereits seit fünfzehn Jahren Witwe. Sie gehörte zu jenen freien Geistern, die der stete Verkehr mit in der Öffentlichkeit stehenden Personen in die Maschen der Konvention verstrickt. Noch warf ihre versunkene Seele bisweilen Blasen auf, doch wird sie nie mehr an die Oberfläche kommen. Ihre Ansichten waren weder beschränkt noch intolerant – soweit das eben in der Gesellschaft möglich ist – sie beurteilte alles, wie dies in der Öffentlichkeit stehende Leute tun müssen. Sie war selbstverständlich bereit, über alles zu debattieren, aber ebenso selbstverständlich existierte das alles für sie nur in der Theorie. Die zahllosen Bewegungen für die Emanzipation und das Wohl anderer, in denen sie und ihre Freunde sich betätigten, waren nur Ventile für ihren allzu großen guten Willen, eine Art Kanal für ihren etwas herrschsüchtigen Geist. Sie dachte und handelte für das allgemeine Wohl, – doch wurden ihre Handlungen dadurch bestimmt, was ihr hochgestellte Persönlichkeiten während des Lunchs und des Diners sagten. Es war ja nicht ihre Schuld, daß auch solche Leute lunchten und dinierten.

Nachdem ihr Sohn sich über sie gebeugt und sie geküßt hatte, hielt sie ihm das Buch hin und sagte:

»Wirklich, Bryan, dieses Buch ist einfach abscheulich. Der Verfasser hetzt den Geschlechtsgedanken zu Tode. Wir sind tatsächlich nicht derart davon besessen. Ich finde, der Mann sollte in seiner eigenen Irrenanstalt eingesperrt werden.«

Summerhay erwiderte: »Ich habe schlechte Nachrichten für dich, Mutter!«

Lady Summerhay blickte ihn beunruhigt an. Sie kannte seinen Ausdruck, kannte diese Kopfhaltung, als wollte er gegen etwas anrennen. So sah er aus, wenn er Spielschulden beichtete.

»Die Leute in Mildenham, Major Winton und seine Tochter … Ich bin in sie verliebt … sie ist meine Geliebte.«

Lady Summerhay schnappte nach Luft.

»Bryan!«

»Der Kerl, an den sie verheiratet ist, trinkt. Sie mußte ihn vor einem Jahr verlassen, mit dem Kind, – es gab auch noch andere Gründe. Hör zu, Mutter, ich weiß, daß es schrecklich ist, dennoch mußt du es wissen. Eine Scheidung ist ziemlich ausgeschlossen.« Seine Stimme wurde höher. »Versuche nicht, es mir auszureden. Es hat keinen Sinn.«

Von Lady Summerhays hübschem Gesicht schien ein Schleier zu fallen, sie faltete die Hände.

Diese jähe Annäherung des »Lebens«, das sie eigentlich nur aus mannigfachen Fällen kannte, war grausam. Ihr Sohn empfand dies, wenn er auch nicht verstand, weshalb. Welch eine trostlos schlechte Nachricht! Er führte ihre Hand an die Lippen.

»Beruhige dich, Mutter. Sie ist glücklich, und auch ich bin es.«

Lady Summerhay konnte nur murmeln: »Wird es … wird es zu einem Skandal kommen?«

»Ich weiß nicht. Jedenfalls weiß er alles.«

»Die Gesellschaft verzeiht nicht.«

»Mir ist es deinetwegen leid, Mutter.«

»Oh, Bryan!«

Die Wiederholung riß an seinen Nerven.

»Du brauchst es niemandem mitzuteilen. Wir wissen noch nicht, was geschehen wird.«

Lady Summerhay empfand eine große, wunde Leere. Diese Frau, die sie nie gesehen hatte, deren Herkunft zweifelhaft, die durch ihre Ehe befleckt war, eine Art Sirene! Es war wirklich zu arg! Sie glaubte an ihren Sohn, hatte für ihn von einer politischen Laufbahn geträumt, bestimmt erwartet, daß diese seiner harre. Sie sagte schwach: »Dieser Major Winton ist aus guter Familie, nicht wahr?«

»Freilich. Sie ist gut genug für jeden. Und die stolzeste Frau, der ich je begegnet bin. Wenn du dir darüber Sorge machst, wie du dich ihr gegenüber verhalten sollst, – laß es bleiben! Sie wird von niemandem etwas verlangen, das kann ich dir sagen. Sie wird keine Brosamen annehmen.«

»Das ist ein Glück.« Lady Summerhay blickte ihren Sohn an und erkannte, daß sie nahe daran war, den Platz in seinem Herzen zu verlieren. Sie fragte kalt: »Werdet ihr öffentlich zusammenleben?«

»Wenn sie es will.«

»Du weißt es noch nicht?«

»Ich werde es bald wissen.«

Das Buch über die Träume fiel zu Boden. Sie trat an den Kamin und sah von dort auf ihren Sohn. Er hatte sich verändert. Der heitere Ausdruck war verschwunden, sein Gesicht erschien ihr fremd. Einmal hatte sie es schon so gesehen, sie erinnerte sich dessen, im Park von Widrington, da er als Knabe über sein Pony wütend geworden und an ihr vorübergaloppiert war, mit fliegendem Haar, wie ein kleiner Dämon. Sie sagte traurig: »Du kannst nicht erwarten, Bryan, daß mir das paßt, selbst wenn sie alles das ist, was du von ihr sagst. Und war da nicht auch eine Geschichte? …«

»Je mehr gegen sie vorgebracht wird, desto mehr liebe ich sie.«

Lady Summerhay seufzte. »Was wird der Mann tun? Ich habe ihn einmal spielen hören.«

»Moralisch und gesetzlich steht ihm keinerlei Recht zu. Ich wollte, er würde die Scheidungsklage anstrengen und ich könnte sie heiraten, doch meint Gyp, er werde es nicht tun.«

»Gyp ist ihr Name?« Und ein plötzliches Verlangen, kein freundschaftliches allerdings, diese Frau zu sehen, überkam Lady Summerhay. »Willst du sie einmal zu mir bringen? Ich bin bis Mittwoch allein hier.«

»Ich glaube nicht, daß sie kommen wird! … Mutter, sie ist wundervoll!«

Ein Lächeln verzog die Lippen seiner Mutter. Zweifellos! Aphrodite! Und … nachher? »Weiß Major Winton?«

»Ja.«

»Was sagt er dazu?«

»Sagen? Was kann jemand dazu sagen? Von deinem und seinem Standpunkt aus ist die Sache natürlich ganz schlimm. Aber in ihrer Lage ist eben alles schlimm.«

Die Dämme in Lady Summerhays Herzen brachen, eine Wortflut sprudelte hervor: »Oh, liebster Junge, kannst du dich nicht zusammenreißen? Ich habe soviel Ähnliches schlecht enden sehen! Gesetze und Konventionen existieren nicht grundlos. Der Druck ist zu stark. Es mag ja bisweilen gut ausgehen – bei Ausnahmemenschen, in Ausnahmefällen. Jetzt glaubst du vielleicht nicht, daß es dir hinderlich sein wird, – aber du wirst es hinderlich finden, sogar sehr. Wärest du ein Schriftsteller oder Künstler, der seine Arbeit mit sich nimmt, in der Wüste leben kann, wenn er will! Aber deine Arbeit muß in London getan werden. Überlege es dir, ehe du gegen die Gesellschaft anrennst. Es klingt sehr schön, zu sagen, das Ganze gehe niemand etwas an, doch wirst du sehen, daß es andere angeht, Bryan. Kannst du sie auf die Dauer glücklich machen?«

Der Ausdruck auf seinem Gesicht schnitt ihre Worte ab.

»Mutter, du scheinst nicht zu verstehen. Ich liebe sie so, daß es für mich nichts anderes mehr gibt.«

»Du bist wie verhext.«

Summerhay sagte leidenschaftlich: »Ich meine, was ich gesagt habe. Gute Nacht.«

»Willst du nicht zum Diner bleiben, lieber Junge?«

Doch war er bereits fort, und nun überwältigten Lady Summerhay Zorn, Sorge und Kummer. Trostlos traurig ging sie zum Diner.

Summerhay begab sich sogleich nach Hause. In der frühen Herbstdämmerung flammten die Laternen auf, ein brausender Wind streifte hier und dort ein Blatt von den Platanen. Es war die Stunde, da die Stadt sich in Blau zu hüllen beginnt – die Stunde des Verschmelzens, da die harten, starren Formen des Tages weich werden, dunkel und geheimnisvoll, und alles, was verborgen im Leben der Menschen, Bäume und Häuser nistet, auf Flügeln der Illusion herabsteigt, da im Menschen die Poesie aufwallt. Summerhay jedoch hörte noch immer die mahnende Stimme seiner Mutter und wußte, daß seine Hand sich wider jeden erheben würde. Schon hatte, schien ihm, der Ausdruck in den Gesichtern der Vorübergehenden sich verändert. Nichts wird für ihn mehr selbstverständlich sein, und es war bisher für ihn alles selbstverständlich gewesen. Es war ihm noch nicht ganz klar, doch fing er bereits an, es zu bemerken, wurde schon zur Defensive gegen die Gesellschaft gezwungen.

Als er den Hausschlüssel ins Schloß steckte, gedachte er der Empfindung, mit der am Nachmittag zum erstenmal Gyp die Tür geöffnet hatte, halb scheu, halb trotzig. Von nun ab wird es nur mehr Trotz sein.

In seinem Wohnzimmer zündete er das Feuer an, öffnete seine Laden, machte Ordnung, sortierte, stellte Listen auf, verpackte Akten. Als er fertig war, setzte er sich hin, um zu rauchen. Das Zimmer war still, schien erfüllt von Gyps Gegenwart. Die Augen schließend, konnte er sie am Kamin stehen sehen, wie sie, bevor sie ihn verließ, das Gesicht zu ihm emporgehoben hatte. Je mehr sie ihn liebt, desto mehr wird er sie lieben! Und er sagte ganz laut: »Bei Gott!« Der alte Scotchterrier Ossian kroch aus seiner Ecke und schob die lange schwarze Schnauze in die Hand seines Herrn.

»Komm, Ossy! Guter Hund, Ossy!« Und durch die Wärme des neben ihm auf dem Sessel ruhenden schwarzen Körpers beruhigt, schlief Summerhay ein, vor dem Feuer, in dem noch seine Vergangenheit glomm.


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