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II. Kapitel

Am gleichen Abend verließ Summerhay sehr spät das kleine Haus, das er in Chelsea bewohnte, und strebte dem Fluß zu. In gewissen Stimmungen zieht es den Menschen in die Natur hinaus nach Feldern, Wäldern, Gewässern, – wo der Himmel offen vor den Augen liegt. Der Mensch ist allein, wenn er liebt, allein, wenn er stirbt; niemand kümmert sich um einen Menschen, der von sich selbst so in Anspruch genommen ist, und auch er kümmert sich um niemanden. Summerhay blieb am Fluß stehen und betrachtete die Sterne durch die Platanenzweige. Bisweilen sog er die warme reglose Luft ein. Er dachte wenig, dachte eigentlich gar nichts, doch erfüllte ein süßes Gefühl sein Herz, eine bebende Leichtigkeit beherrschte seine Glieder. Er setzte sich auf eine Bank und schloß die Augen. Er sah ein Gesicht – nur ein Gesicht! … In den gegenüberliegenden Häusern erloschen allmählich die Lichter, der Verkehr hörte auf, kaum daß noch ein Fußgänger vorbeikam, – doch Summerhay saß noch immer wie gebannt, das Lächeln kam und ging auf seinen Lippen, die leise Brise, die stets der Flut folgt, strich über ihn dahin.

Der Morgen dämmerte schon, als er heimging. Er legte sich nicht zu Bett, sondern setzte sich an die Akten, die er morgen bei Gericht benötigte, und arbeitete, bis es Zeit für seinen Ritt war. Er hatte eine jener Konstitutionen, die man häufig bei Anwälten findet und die derlei Nachtarbeit ohne Schaden für ihre Gesundheit leisten können. Wirklich begabt, mit einer Vorliebe für seinen Beruf, war der junge Mann auf dem besten Weg, sich einen Namen zu machen, wenngleich er in den Pausen zwischen seiner energischen Arbeitswut den Eindruck erweckte, als ließe er sich willenlos auf den Fluten des Augenblicks dahintreiben. Überhaupt war er eine paradoxe Natur. Er zog das kleine Haus in Chelsea einer Wohnung im Temple oder in St. James vor, weil er nach Einsamkeit verlangte, und dennoch war er ein ausgezeichneter Gesellschafter und besaß viele Freunde, die ihn allerdings mit einem gewissen, wenn auch nicht unfreundlichen, Mißtrauen betrachteten. Den meisten Frauen erschien er anziehend, doch hatte er sein Herz noch nicht verloren. Er war ein Spieler und gehörte sogar zu denen, die sich sehr verrennen, dann durch einen glücklichen Coup wieder herausreißen, wieder verrennen und vielleicht eines Tages nicht mehr heraus können. Sein Vater, ein Diplomat, war seit fünfzehn Jahren tot, seine Mutter spielte in den halbintellektuellen Kreisen der Gesellschaft eine Rolle. Er hatte keine Brüder, nur zwei Schwestern, und besaß ein eigenes Vermögen. Das war Bryan Summerhay in seinem sechsundzwanzigsten Jahr, noch ohne Weisheitszähne.

Als er am Morgen dem Gericht zustrebte, fühlte er noch die seltsame Leichtigkeit in den Gliedern, sah noch immer das Gesicht – dessen vollkommene Regelmäßigkeit, die warme Blässe, die dunklen, lächelnden, ein wenig weit voneinander entfernten Augen, die feinen, kleinen, dicht anliegenden Ohren, das schwarzbraune Haar über der niederen Stirn. Oder erblickte er etwas weniger Ausgesprochenes, – einen Ausdruck, eine Bewegung, eine angeborene Anmut, die ihn anzog, ihn rührte? Es ließ ihm keine Ruhe, und er verlangte auch nicht nach Ruhe, denn dies entsprach seinem Charakter. Wenn ihm ein Pferd gefiel, so wettete er stets darauf, sooft es lief, entzückte ihn eine Oper, so hörte er sie immer wieder an, begeisterte ihn ein Gedicht, so lernte er es auswendig. Während er am Ufer entlang schritt – seinen gewöhnlichen Weg –, bestürmten ihn seltsame Gefühle, und er war glücklich.

Es war bereits spät, und er begab sich sofort in den Gerichtssaal. Mit Perücke und Talar kam das »Georgianische« bei ihm stark zur Geltung. Ein oder zwei Schönheitspflästerchen, ein breiter Samtrock, Degen, Tabaksdose und graue Perücke, und er wäre ein vollkommenes Bild aus dem achtzehnten Jahrhundert gewesen – mit dem gleichen leichten und doch starken Bau, breitem Gesicht, dunkler Blässe, den scharf gezeichneten reinen Lippen, derselben leichten Arroganz und Tollkühnheit, dem klaren Blick, der übersprudelnden Lebenskraft. Fast war es schade, daß er so spät zur Welt gekommen war.

Nachdem die Verhandlungen beendet waren und er den eigenartigen Geruch von Kleidern, Pergament, Fischen und Ölfarbe, der irgendwie mit dem Gesetz zusammenhängt, abgewaschen hatte, indem er den ganzen lockigen Kopf in die Waschschüssel steckte und dann heftig mit dem Handtuch rieb, ging er, eine Zigarre rauchend, an der Themse spazieren. Es war fast sieben Uhr. Gestern um diese Zeit hatte er den Zug bestiegen und das Gesicht gesehen, das ihn seither nicht mehr loslassen wollte. Das Fieber pflegt zu bestimmten Stunden zu steigen. Man konnte doch aber nicht um sieben Uhr Besuche machen! Er konnte jedoch auf seinem Weg nach dem Klub durch die Bury-Straße gehen!

Er kam an einem Schuhgeschäft vorüber, wo er schon seit geraumer Zeit eine Bestellung machen wollte, und dachte: ich möchte wissen, wo sie ihre Sachen kauft. Ihre Gestalt stand ihm lebendig vor Augen, zurückgelehnt in der Coupéecke, oder bereits im Wagen ihre Hand in der seinen. Sie hatte nach Blumen geduftet – und nach regenschwerem Wind. Vor einem Schaufenster blieb er stehen, ohne jedoch in den Spiegelscheiben sein stirnrunzelndes, verblüfftes Gesicht zu sehen. Er ging rasch weiter, erreichte die Bury-Straße mit einem seltsamen Gefühl der Schwäche in den Beinen. Dieses Jahr machten keine Blumentöpfe Wintons Haus kenntlich, nur die Nummer und das Pochen seines Herzens ließen es Summerhay von den übrigen Häusern unterscheiden. Sowie er in die Jermyn-Straße einbog, fühlte er sich jählings verstimmt. Er betrat seinen Klub in der St. James-Straße und verfügte sich sofort in das am wenigsten besuchte Zimmer. Das war die Bibliothek; er trat an das französische Regal, nahm »Die drei Musketiere« heraus, setzte sich mit dem Rücken gegen die Tür. Er wählte seinen Lieblingsroman, weil er ein Verlangen nach Wärme und Gesellschaft empfand, doch las er kein Wort. Er hätte von dort, wo er saß, mit einem Steinwurf das Zimmer erreichen können, in dem sie sich jetzt vielleicht aufhielt; wären die Mauern nicht gewesen, er hätte sie mit seiner Stimme erreichen, sie bestimmt sehen können. Wie dumm das doch war! Eine Frau, die er nur zweimal gesehen hat! Wie dumm …!

»Fünf. Drei Damen – drei Buben. Kennen Sie Dowsons Gedicht: ›In meiner Art bin ich ihr treu geblieben, Cynara?‹ Es ist besser als Verlaine, ausgenommen: ›Les sanglots longs.‹ Was haben Sie?«

»Quart zur Dame. Gefällt Ihnen der Name Cynara?«

»Ja, – Ihnen nicht?«

»Cynara! Cynara! Ja–a – es klingt nach Herbst, fallenden Rosenblättern, totem Laub.«

»Gut. Still, Ossy, – nicht schnarchen!«

»Armer alter Hund, lassen Sie ihn doch. Bitte, mischen Sie für mich. Oh! Schon wieder fällt eine Karte!« Ihr Knie berührte das seine …

Das Buch fiel zu Boden. Summerhay fuhr zusammen.

Verdammt! Hoffnungslos! Er vergrub sich in den tiefen Lehnstuhl, schlummerte ein. Nach wenigen Minuten schlief er bereits fest und traumlos.

Zwei Stunden später erschien ein Freund, auf der Suche nach Unterhaltung, fand ihn und stand grinsend vor ihm, den lockigen Kopf betrachtend und das Gesicht, das im Schlaf dem eines kleinen Knaben glich. Maliziös stieß der Freund gegen den Lehnstuhl.

Summerhay rührte sich, dachte: Wo bin ich denn?

Vor dem grinsenden Gesicht schwebte ein anderes, verschwommen, reizvoll. Er schüttelte sich: »Hol dich der Teufel!«

»Entschuldige, mein Alter.«

»Wie spät ist es?«

»Zehn.«

Summerhay stieß einen unverständlichen Laut aus und drehte sich um. Doch schlief er nicht mehr. Statt dessen sah er ihr Gesicht, hörte ihre Stimme, fühlte wieder den Druck ihrer warmen, behandschuhten Hand.


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