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III. Kapitel

Am ersten Morgen im neuen Heim erwachte Gyp zugleich mit den Spatzen oder irgendwelchen ähnlichen Vögelzwitschern und -piepsen, um bald von dem Trillern der echten Singvögel übertönt zu werden. Es schien ihr, als hätten sich alle gefiederten Geschöpfe Londons in ihrem Garten eingefunden; der alte Vers kam ihr in den Sinn:

»Der lieben Mutter Natur Kinder, die süßen,
Liegen der Braut und dem Bräut'gam zu Füßen,
Segen zu bringen.
Nichts, was die Luft mit Flügeln durchschwingt,
Vogel in Federnpracht, Vogel, der singt,
Darf heut hier fehlen.«

Sie wandte sich um, blickte Fiorsen an. Er schlief, den Kopf derart in die Kissen vergraben, daß sie nur sein dichtes verrauftes Haar sehen konnte. Und jählings durchlief sie ein Schauder, als läge dort ein wildfremder Mann. Gehörte er wirklich ihr, sie ihm für immer? Und war dies ihr Haus, ihr gemeinsames Heim? Alles schien so anders, – ernster, beunruhigender in diesem fremden Bett, dem fremden Zimmer, das sie von nun an stets bewohnen würden. Leise, um ihn nicht zu wecken, stahl sie sich aus dem Bett und schlich ans Fenster und hob den Vorhang. Noch verschwammen draußen alle Töne ineinander, hinter den Bäumen hing noch die rosige Dämmerung am Himmel. Man hätte meinen können, man sei auf dem Lande, wären nicht die leisen rasselnden Geräusche der erwachenden Stadt gewesen und der feine Nebel, der am Morgen London verschleiert. Nun war sie die Herrin dieses Hauses, mußte die Wirtschaft führen, sich um alles kümmern. Und die Hündchen – was mochten die wohl fressen?

Dies war die erste vieler sorgenvoller Stunden. Ihr verfeinerter Geschmack verlangte Vollkommenheit, ihre Empfindsamkeit aber hinderte sie daran, diese von anderen – besonders von den Dienstboten – zu verlangen. Weshalb sollte sie sie quälen?

Fiorsen hatte keine Ahnung von einem geregelten Leben, konnte ihre Mühen und Kämpfe mit dem Haushalt nicht im geringsten würdigen. Sie war auch viel zu stolz, ihn um Hilfe zu bitten, vielleicht auch zu klug, da er in diesen Dingen doch gänzlich unfähig war. Er hätte am liebsten gelebt wie die Vögel in der Luft. Auch Gyp hätte sich nichts Besseres gewünscht, doch dann darf man nicht ein Haus mit drei Dienstboten, mehrere Mahlzeiten am Tage, zwei junge Hunde und eine geringe Erfahrung haben.

Sie vertraute niemandem die Schwierigkeiten an, die sie quälten. Mit Betty, die sich, konservativ bis in die Knochen, ebenso schwer an Fiorsen gewöhnte wie einst an Winton, mußte sie sehr vorsichtig sein; ihre Hauptsorge jedoch war der Vater. Obwohl sie sich nach ihm sehnte, hatte sie Angst vor ihrer ersten Begegnung. Er kam – wie er es früher getan hatte, als sie noch ein ganz kleines Mädchen gewesen – zu einer Stunde, da er wußte, daß der Mann, der ein Recht auf sie hatte, wahrscheinlich nicht zu Hause sei. Sie öffnete ihm selbst die Tür, schmiegte sich an ihn, damit seine scharfen Augen ihr Gesicht nicht sehen konnten. Sofort begann sie von den Hündchen zu reden, die sie Don und Doff genannt hatte. Sie sind zu lieb, nichts ist vor ihnen sicher, ihre Pantoffel sind schon ganz zerfressen; sie waren in den Porzellanschrank gekrochen, dort eingeschlafen. Der Vater muß nun das ganze Haus besichtigen.

Ununterbrochen sprechend, führte sie ihn überall hin, in den Garten, in das Musikzimmer, in das man direkt vom Nebeneingang des Hauses gelangen konnte. Dieses Zimmer hatte ihr vor allem gefallen, hier konnte Fiorsen ungestört üben. Winton ging sehr ruhig an ihrer Seite, machte bisweilen eine treffende Bemerkung. Am Ende des Gartens blickten sie über die Mauer auf den schmalen Weg, der sie von einem anderen Garten trennte; plötzlich drückte er ihren Arm und fragte:

»Nun, Gyp, wie war's die ganze Zeit?«

»Oh, sehr schön, wenigstens meistens.« Doch sah sie ihn nicht an, und auch er vermied es, ihr ins Gesicht zu blicken. »Sieh, Väterchen, dort haben sich die Katzen einen richtigen Gang gegraben.«

Winton biß sich auf die Lippen und wandte sich von der Mauer ab. Der Gedanke an jenen Menschen erfüllte ihn mit Bitterkeit. Sie will ihm nichts sagen, will den fröhlichen Ausdruck beibehalten – und vermag ihn ja doch nicht zu täuschen.

»Sieh meine Krokusse an; heute ist ein richtiger Frühlingstag.«

Sogar einige Bienen hatten sich herausgewagt. Die winzigen Blätter der Bäume schienen noch durchsichtig, waren zu dünn, die Sonnenstrahlen zu hemmen. Purpurne, zartgeäderte Krokusblüten, orangefarbene kleine Flammen im Herzen, fingen das Licht wie in einem Kelch. Ein milder Wind wiegte sanft die Zweige, hier und dort raschelte noch ein dürres Blatt. Auf dem Gras, dem blauen Himmel, den Mandelblüten leuchtete die erste Frühlingsherrlichkeit. Gyp schlang die Finger ineinander.

»Wundervoll – den Frühling zu fühlen.«

Winton dachte: sie hat sich verändert! Sie ist weicher, lebensvoller geworden, es ist mehr Farbe in ihr, mehr Ernst, ein größerer Schwung in ihrem Körper, mehr Zartheit in ihrem Lächeln. Aber – war sie glücklich?

Eine Stimme sagte: »Ah, welche Freude!«

Der Kerl hatte sich gleich einer großen Katze herangeschlichen. Es schien Winton, daß Gyp zurückwich.

»Väterchen meint, wir sollten ins Musikzimmer lieber dunkle Vorhänge nehmen, Gustav.«

Fiorsen machte eine Verbeugung. »Ja, ja, wie in einem Londoner Klub.«

Winton, der ihr Gesicht beobachtete, glaubte darin eine stumme Bitte zu lesen und sagte, sich zu einem Lächeln zwingend: »Sie haben es sehr gemütlich hier. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Gyp sieht prächtig aus.«

Wieder eine jener Verbeugungen, die er so sehr haßte! Komödiant! Niemals, niemals würde er den Kerl ertragen können! Doch durfte, konnte er es nicht zeigen. Sobald es ihm möglich war, verabschiedete er sich, ging in seine Einsamkeit zurück, von trostlosem Zweifel gefoltert und mit dem festen Entschluß, stets zur Hand zu sein, falls das Kind seiner bedürfen sollte.

Er war noch nicht zehn Minuten fort, da erschien Tante Rosamunde, auf einen Krückstock gestützt, ein wenig hinkend, denn auch sie litt an der Gicht. Die gute Dame hatte gar nicht gewußt, wie lieb ihr die Nichte war, ehe sie Gyp durch diese Heirat verlor. Sie wollte sie wieder für sich haben, mit ihr ausgehen, sie verwöhnen, genau wie früher. Selbst ihre schleppende Sprechweise vermochte ihr herzliches Gefühl nicht ganz zu verbergen. Gyp merkte, wie Fiorsen diese Sprechweise ein wenig nachahmte, und ihre Ohren begannen zu glühen. Die Hündchen boten eine Ablenkung, ihre Vorzüge, Schnauzen, ihre Frechheit und Nahrung schoben die drohende Gefahr auf einige Minuten hinaus. Dann fing das Nachahmen von neuem an. Nachdem Tante Rosamunde sich etwas unvermittelt verabschiedet hatte, stand Gyp am Salonfenster, mit einem Gesicht, das zur Maske erstarrt schien. Fiorsen legte, hinter sie tretend, den Arm um ihre Taille und fragte mit einem zornigen Seufzer: »Werden diese braven Leute oft kommen?«

Gyp wich zurück. »Wenn du mich lieb hast, weshalb versuchst du, Leuten weh zu tun, die mich ebenfalls lieben?«

»Weil ich eifersüchtig bin. Ich bin sogar auf die Hündchen eifersüchtig.«

»Und würdest du ihnen weh tun?«

»Ja, – wenn sie zuviel um dich sind.«

»Glaubst du, ich könnte glücklich sein, wenn du Wesen weh tust, weil sie mich liebhaben?«

Es war das erstemal, daß ihre Angehörigen in ihr neues Heim kamen! Es war zu arg!

Fiorsen sagte mit heiserer Stimme: »Du liebst mich nicht. Liebtest du mich, würde ich es durch deine Lippen fühlen, es in deinen Augen sehen. O Gyp, liebe mich! Du sollst mich lieben!«

Liebe auf Kommando erschien Gyp nur als eine vulgäre Torheit. Ihre Seele vereiste ihm gegenüber. Wenn eine Frau einem ungeliebten Mann nichts verweigert, so fallen Schatten auf das junge Heim. Fiorsen wußte dies, besaß aber nicht mehr Selbstbeherrschung als die beiden Hündchen.

Doch waren trotz allem die ersten paar Wochen im neuen Haus viel zu sehr von Beschäftigung ausgefüllt, um viel Zeit für Zweifel oder Reue zu lassen. Im Mai sollten einige große Konzerte stattfinden. Gyp freute sich riesig darauf, schob alles, was nicht mit ihnen zusammenhing, in den Hintergrund. Wie um das instinktive Zurückhalten ihres Herzens, dessen sie sich unablässig heimlich bewußt war, gutzumachen, gab sie ihm, ohne zu kargen, all ihre Zeit, ihre ganze Energie. Sie war bereit, ihn jeden Tag, den ganzen Tag am Klavier zu begleiten. Doch blieben ihr die Morgenstunden frei, da er stets bis elf im Bette lag, niemals vor zwölf zum Üben kam. In diesen Stunden besorgte sie ihre Wirtschaft und das Einkaufen – das für so viele Frauen den einzig wirklichen »Sport« bedeutet –, die Jagd nach dem Ideal – den Kampf des eigenen guten Geschmackes gegen die Welt, die geheime Leidenschaft, sich selbst noch schöner zu machen. Gyp betrat niemals einen Laden, ohne ein feines Prickeln in den Nerven zu fühlen. Sie haßte die Berührung fremder Hände, doch minderte selbst das die Freude nicht, die sie, vor einem großen Spiegel stehend, empfand, wenn Verkäuferinnen ihre schlanke Gestalt abtasteten, steckten, hefteten und sie »gnädige Frau« nannten.

Am anderen Morgen ritt sie mit dem Vater aus. Eines Tages, nach einem Ritt im Richmond-Park, frühstückten sie vor der Heimkehr auf einer Hotelterrasse. Unter ihnen blühten noch einige Obstbäume, das vom blauen Himmel herabzitternde Sonnenlicht versilberte die Windungen des Flusses, vergoldete die knospenden Blätter der Eichenbäume. Winton starrte, seine Frühstückszigarre rauchend, über die Bäume hinweg auf den Fluß. Gyp warf ihm einen verstohlenen Blick zu und fragte sehr leise:

»Bist du je mit meiner Mutter ausgeritten, Väterchen?«

»Ein einziges Mal – den gleichen Ritt, den wir heute gemacht haben. Sie ritt eine schwarze Stute, ich einen Fuchs …« Ja, in dem Hain, dort auf dem kleinen Hügel, wo sie heute geritten waren, war er abgestiegen, hatte neben ihr gestanden.

Gyp griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand.

»Erzähle mir von ihr. War sie schön?«

»Ja.«

»Dunkel? Groß?«

»Sie war dir sehr ähnlich, Gyp. Ein wenig … ein wenig …« – Er verstand es nicht recht, den Unterschied zu beschreiben. »Vielleicht sah sie etwas ausländischer aus. Ihre Großmutter war Italienerin.«

»Und wie hast du sie lieben gelernt? Ganz plötzlich?«

»So plötzlich wie« – er entzog ihr seine Hand und legte sie auf das Geländer – »wie diese Sonne auf meine Hand fällt.«

Gyp sagte leise, wie zu sich selbst: »Ja, ich glaube, auch das kann ich nicht verstehen – noch nicht. Hat sie dich auf den ersten Blick geliebt?«

»Man glaubt ja leicht, was man gerne glauben möchte! Sie pflegte es zu sagen.«

»Und wie lange?«

»Nur ein Jahr.«

»O Väterchen, ich ertrage den Gedanken nicht, daß ich sie getötet habe, – ertrage ihn nicht.«

Winton erhob sich, und eine erschrockene Amsel hörte zu singen auf. Gyp sagte hart: »Ich will keine Kinder haben. Und ich will nicht so lieben, – ich hätte Angst.«

Winton sah sie an, runzelte die Stirn über seine Vergangenheit.

»Die Liebe erfaßt uns«, sagte er. »Und wir sind ihr verfallen. Kommt sie, so ist sie uns willkommen, ob sie nun tötet oder nicht.«

Als sie zu Hause anlangte, war es noch nicht ganz um die Mittagsstunde. Sie beeilte sich mit dem Baden und Umkleiden und ging hastig in das Musikzimmer. Die Vorhänge hier waren silbrig-grau, der Diwan war mit silbernem und goldenem Stoff bedeckt, der Kamin aus getriebenem Kupfer. Das ganze Zimmer war eine Symphonie in Silber und Gold – bis auf zwei Farbenphantasien – der Wandschirm am oberen Teil des Flügels war ganz mit leuchtend gemalten Pfauenfedern bedeckt, und in einer blauen persischen Vase glühten Blumen in allen Schattierungen von Rot.

Fiorsen stand rauchend am Fenster. Er wandte sich nicht um; Gyp schob die Hand durch seinen Arm. »Es tut mir leid, daß ich dich warten ließ, – doch ist es erst halb eins.«

Er machte ein Gesicht, als ob sich die ganze Welt wider ihn verschworen hätte.

»Schade, daß du schon zurückgekommen bist, – es ist doch bestimmt sehr schönes Wetter zum Reiten.«

Durfte sie nicht einmal mehr mit dem eigenen Vater ausreiten? Welch sinnlose Eifersucht, welch toller Egoismus! Sie wandte sich wortlos ab, setzte sich ans Klavier. Sie war nicht geschaffen, Ungerechtigkeit zu ertragen. Überdies roch er nach Kognak. Es war so häßlich, schon am Morgen zu trinken – ekelhaft. Sie saß wartend am Klavier. Er wird so bleiben, bis er sich die schlechte Laune fortgespielt hat, dann wird er kommen, ihre Schultern tätscheln, seine Lippen auf ihren Hals drücken. Doch ist dies kein richtiges Benehmen, ist gewiß nicht die Art, ihre Liebe zu gewinnen. Und plötzlich sagte sie:

»Gustav, was habe ich eigentlich getan, was dir so mißfällt?«

»Du hast einen Vater.«

Gyp begann zu lachen. Wie er so dastand, glich er völlig einem trotzigen Kinde. Er trat hastig auf sie zu, legte ihr die Hand auf den Mund. Sie blickte über die Hand hinweg. Ihr Herz machte den grand écart: einerseits zur Reue, andererseits zum Zorn hin. Seine Augen senkten sich vor den ihren, er nahm die Hand fort.

»Sollen wir anfangen?« fragte sie.

»Nein«, entgegnete er schroff und trat in den Garten hinaus.

War es denn möglich, daß sie diese häßliche kleine Szene erlebt hatte? Sie blieb am Klavier sitzen und spielte denselben Satz immer wieder und wieder, ohne sich dessen bewußt zu werden.


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