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September und Oktober vergingen. Fiorsen gab noch einige nicht sehr besuchte Konzerte; der Reiz der Neuheit war verschwunden, sein Spiel für das große Publikum nicht süßlich und sentimental genug. Sie standen vor einer finanziellen Krise, doch schien diese noch fern und unwirklich in dem Schatten der kommenden Tage. Gyp nähte keine Kinderwäsche, traf keine Vorbereitungen; wozu etwas machen, was vielleicht nie gebraucht werden wird? Sie spielte für Fiorsen viel Klavier, doch niemals für sich, las viel – Romane, Gedichte, Biographien –, erfaßte im Augenblick den Inhalt, um ihn gleich nachher wieder zu vergessen. Winton und Tante Rosamunde kamen, nach schweigender Übereinkunft, abwechselnd jeden Nachmittag. Winton benutzte nach seinem Besuch den Nachtzug, verbrachte den nächsten Tag auf Rennen oder mit der Parforcejagd, und kehrte am Morgen seines Besuchstages wieder in die Stadt zurück. Nichts fürchtete er in jener Zeit mehr als einen unbeschäftigten Tag, da ihm die eigene Angst ins Gesicht starren konnte.
Betty, die bei Gyps Geburt zugegen gewesen war, befand sich in einem merkwürdigen Zustand. Für ihren mütterlichen Sinn, dem das Schicksal eigene Kinder versagt hatte, war das Bevorstehende etwas äußerst Wünschenswertes, doch wurde es ihr durch alte Erinnerungen verdunkelt, durch die Sorge um ihre »Hübsche«, eine Sorge, stärker, als sie sie für eine eigene Tochter gefühlt haben würde. Was einer Klatschrose natürlich erscheint, wenn es einer anderen Klatschrose widerfährt, erfüllt sie mit Angst, wenn es einer Lilie geschieht. Auch die andere unverheiratete ältere Dame, Tante Rosamunde, das gerade Gegenteil von Betty – eine lange dünne Nase gegen einen bloßen Nasenknopf, das Bewußtsein des Gottesgnadentums gegen das Bewußtsein von keinerlei Rechten, eine gedehnte Sprechweise gegen ein behagliches Schnaufen, Länge gegen Breite, Energie gegen den scheuen Knicks vor der Vorsehung, Dyspepsie gegen die Verdauung eines Straußenmagens, Humor gegen Humorlosigkeit und noch andere Gegensätze mehr –, auch Tante Rosamunde war besorgt, sosehr dies ein Mensch sein kann, der jede Sorge verabscheut und sie meistens mit Witzen verscheucht.
Doch von Gyps ganzer Umgebung leistete sich Fiorsen das heftigste Zurschautragen seiner Gefühle. Er besaß nicht einmal die primitivste Idee davon, daß man seine Empfindungen verbergen könne. Seine Empfindungen waren unheimlich primitiv. Er wollte Gyp haben, wie sie gewesen war. Der Gedanke, daß sie dies vielleicht nie mehr sein würde, zwang ihn, Kognak zu trinken und des öfteren fast ebenso betrunken heimzukehren wie das erstemal. Gyp mußte ihm mehr als einmal ins Bett helfen. Zwei- oder dreimal bedingte sein Kummer, daß er die ganze Nacht über ausblieb. Um das zu erklären, behauptete Gyp, daß er bei Graf Rosek ein Zimmer habe, dort schlafe, um sie nicht zu stören, wenn ihn die Musik zu lange aufhielt. Sie wußte nicht, ob ihr die Dienstboten das glaubten oder nicht. Sie fragte ihn niemals, wohin er gehe – sie war zu stolz, hatte überdies das Gefühl, daß sie dazu kein Recht habe.
Da sie das Unästhetische ihres Zustandes genau erkannte, war sie davon überzeugt, daß sie einen so reizbaren Menschen, der jeder Häßlichkeit gegenüber so unerbittlich war, nicht mehr anziehen könne. Und hatte er denn je ein tieferes Gefühl für sie gehabt? … Jedenfalls gab er ihr zuliebe niemals etwas auf, brachte ihr nicht das geringste Opfer. Hätte sie geliebt, sie würde für den Geliebten auf alles verzichtet haben! – Aber sie wird niemals lieben!
Trotzdem schien auch er um sie besorgt. Es war rätselhaft! Vielleicht aber wird sie bald nichts mehr rätselhaft finden; sie hatte oft das Gefühl, daß sie sterben werde; bisweilen meinte sie, daß sie gerne sterben würde. Das Leben hatte sie betrogen, – oder vielmehr richtiger: sie hatte sich selbst um das Leben betrogen. War es wirklich nur ein Jahr her seit jenem herrlichen Jagdtag, da sie, der Vater und der junge Mann mit dem unwiderstehlichen Lächeln, den Hunden nachgehetzt waren, der ganzen Jagdgesellschaft voraus – dem schicksalsschweren Tag, da Fiorsen, wie aus den Wolken gefallen, erschienen war und um ihre Hand angehalten hatte? Sehnsucht nach Mildenham ergriff sie, das Verlangen, mit Vater und Betty dort allein zu sein …
Anfang November begab sie sich dorthin.
Fiorsen benahm sich anläßlich ihrer Abreise wie ein müdes Kind, das nicht schlafen gehen will. Er hielte es nicht aus, von ihr getrennt zu sein; jedoch verbrachte er nach ihrer Abfahrt einen tollen Bohemeabend. Gegen fünf Uhr morgens erwachte er mit »einem furchtbaren, eisigen Gefühl im Herzen« – wie er Gyp am nächsten Tage schrieb –, »ein entsetzliches Gefühl, meine Gyp, ich ging stundenlang im Zimmer auf und ab.« (In Wirklichkeit war es vielleicht eine halbe Stunde gewesen.) »Wie soll ich es ertragen, in dieser Zeit fern von Dir zu sein? Ich fühle mich verloren.« Am nächsten Tage befand er sich bereits mit Rosek in Paris. »Ich konnte«, schrieb er ihr, »den Anblick der Straßen, unseres Zimmers nicht ertragen. Wenn ich zurückkehre, werde ich bei Rosek wohnen. Wenn aber Deine Stunde kommt, muß ich bei Dir sein.« Gyp jedoch sagte, nachdem sie den Brief gelesen hatte, zu Winton: »Väterchen, schick nicht nach ihm, wenn es so weit ist. Ich will ihn nicht hier haben.«
Diese seine Briefe zerstörten in ihr den letzten Rest des Gefühls, daß irgendwo in ihm etwas verborgen sein müsse, das den tiefen, herrlichen Tönen seiner Geige entspräche. Trotzdem erschienen ihr die Briefe bis zu einem gewissen Grade echt, rührend, voll wirklichen Gefühls.
In Mildenham begann ihre Hoffnungslosigkeit zu schwinden; sie hatte den Wunsch, für das neue Leben in ihr leben zu wollen. Sie fühlte ihn zum erstenmal, als sie ihr altes Kinderzimmer betrat, wo seit ihrem achten Jahr alles unverändert geblieben war: das alte rote Puppenhaus, dessen eine Seite man öffnen konnte, um die verschiedenen Stockwerke zu betrachten, am Fenster waren noch immer die abgenutzten Rouleaus, deren ratterndes Herabfallen sie so viele hundert Male gehört hatte, der hohe Kaminschutz, vor dem sie, »Grimms Märchen« oder »Alice im Wunderland« oder englische Sagen lesend, auf dem Boden gelegen hatte, das Kinn in die Hand gestützt. Hier wird auch ihr Kind inmitten der vertrauten Gegenstände leben. Und der Gedanke kam ihr, der schweren Stunde hier im alten Kinderzimmer in die Augen zu blicken, nicht in dem Zimmer, wo sie als Mädchen geschlafen hatte. Das Kinderzimmer gab ihr Sicherheit und Trost. Nachdem sie eine Woche in Mildenham verbracht hatte, ließ sie sich von Betty dorthin umquartieren.
Niemand im ganzen Hause war auch nur halb so ruhig wie Gyp. Betty konnte nicht leugnen, daß sie in unbewachten Augenblicken weinte. Frau Markey hatte niemals so schlechte Suppen zubereitet, sogar Markey vergaß sich so weit, daß er zu sprechen anfing. Winton war wie ein ruheloser Geist. Seine gemessene, trockene Stimme verriet allzu deutlich seine Herzensangst. Gyp fand es wunderbar, daß ihnen allen so viel an ihr lag. Oft saß sie vor dem Feuer, starrte mit den großen dunklen Augen, die, gleich denen einer Eule, im Finstern niemals zwinkerten, in die Flammen und dachte nach, was sie wohl dem Vater Liebes erweisen könne, den sie schon einmal, durch ihre Geburt, tödlich getroffen hatte.