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Als Winton am nächsten Nachmittag von seinem ersten Ritt seit mehreren Tagen wieder zurückkehrte, begegnete ihm der Bahnhofswagen, der leer aus der Einfahrt rollte.
Der Anblick eines Pelzmantels und eines breitkrempigen Hutes im Vorzimmer verriet ihm, was vorgefallen war.
»Herr Fiorsen, Herr, – er ist zu Frau Fiorsen hinaufgegangen.«
»Hat er Gepäck mitgebracht?«
»Eine Tasche, Herr.«
»Bringen Sie für ihn ein Zimmer in Ordnung.«
Mit diesem Kerl tête à tête essen zu müssen.
Gyp hatte inzwischen den seltsamsten Morgen ihres Lebens verbracht. Das Saugen der Babylippen verursachte ihr eine merkwürdige Empfindung, ein Dahinschmelzen, eine unendliche Wärme, den Wunsch, das winzige Geschöpf ganz in sich hineinzupressen. Trotzdem ließ sich weder ihr Schönheitssinn noch ihr Gefühl für Komik betrügen. Es war ein drolliges, kleines Geschöpf mit einem kleinen, schwarzen Haarbüschel, weit weniger nett als eine junge Katze. Doch erschienen ihr die winzigen, rosigen, gekrümmten Fingerchen mit den unwahrscheinlich kleinen Nägeln, die mikroskopischen Zehen und die feierlichen schwarzen Augen, wenn es wach war, die unvergleichliche Ruhe, wenn es schlief – fast als ein Wunder. Auch verspürte sie eine gewisse Dankbarkeit gegen dieses Etwas, das sie nicht getötet, ihr nicht einmal gar zu arge Schmerzen bereitet hatte, – war auch dankbar, daß sie sich so gut in ihre Mutterrolle hineinfand – so sagte wenigstens die Pflegerin –, sie, die so mißtrauisch gegen sich selbst war. Instinktiv wußte sie, daß dies ihr Baby sei, nicht seines, daß es ihr »nachgeraten« werde. Was diesen Eindruck hervorgerufen hatte, wußte sie nicht; vielleicht die Ruhe und die dunklen Augen des kleinen Geschöpfes. Von eins bis drei hatten sie beide in tiefster Eintracht zusammen geschlafen. Als Gyp erwachte, stand die Pflegerin neben ihrem Bett, sah aus, als wolle sie ihr etwas mitteilen.«
»Es ist Besuch für Sie gekommen, meine Liebe.«
Und Gyp dachte: Er! Ich weiß nicht, – ich weiß nicht … Ihr Gesicht mochte dies ausdrücken, denn die Pflegerin fragte sofort: »Fühlen Sie sich stark genug?«
Gyp erwiderte: »Ja, nur noch fünf Minuten, bitte.«
Ihr Geist war in weiten Fernen gewesen, sie brauchte Zeit, ehe sie Fiorsen sah, Zeit, um sich klar zu werden, was sie jetzt empfinde, was das kleine Wesen da neben ihr für sie und ihn bedeute. Es gehörte ja auch ihm, das winzige, hilflose Ding. Nein, es gehörte nicht ihm! Er hatte es nicht haben wollen, und nun, da sie die Qualen durchlebt hatte, gehörte es ihr, nicht ihm, – niemals ihm. Dann kam die alte Selbstanklage: ich habe ihn aber doch geheiratet, habe ihn gewählt. Davon komme ich nicht los! Und es war ihr, als müßte sie der Pflegerin zurufen: Halten Sie ihn fern, ich will ihn nicht sehen. Sie zwang die Worte zurück und sagte: »Jetzt bin ich bereit.«
Als erstes bemerkte sie seine Kleider, einen dunkelgrauen Anzug mit schmalen, helleren Streifen, – sie hatte ihn selbst ausgesucht; seine Krawatte war gebunden, nicht flott geknotet, sein Haar heller als sonst, wie immer nach dem Schneiden, und sein Backenbart fing tatsächlich wieder zu wachsen an. Dann sah sie fast erschüttert, daß sein ganzes Gesicht bebte. Er kam auf den Zehenspitzen herein, stand einen Augenblick vor ihr, sie betrachtend, dann kniete er hastig neben das Bett hin, nahm ihre Hand, drehte sie um und legte sein Gesicht hinein. Sein Schnurrbart kitzelte ihre Handfläche, seine Nase drückte sich platt gegen ihre Finger, seine Lippen murmelten mit warmer, feuchter Berührung etwas in die Hand. Gyp wußte, er vergrabe darin all seine Reue, vielleicht auch die Ausschweifungen, die er seit ihrem Fernsein begangen hatte, die Angst, die er erlitten hatte, und die Rührung, sie so weiß und still daliegen zu sehen. In einer Minute wird er ihr ein gänzlich verändertes Gesicht zeigen. Weshalb liebe ich ihn nicht? dachte sie. Er hat doch etwas Liebenswertes. Weshalb liebe ich ihn nicht?
Seine Blicke fielen auf das Baby, er grinste.
»Oh, meine Gyp, wie komisch ist es! Oh! Oh! Oh!« Sein Gesicht verzog sich langsam zu einem Ausdruck komischen Ekels. Auch Gyp hatte das Drollige an ihrem Baby gesehen, sein kleines, rotes Gesicht, die siebenundzwanzig Haare, den fast unsichtbaren, stets tropfenden, winzigen Mund, doch hatte sie darin auch das Wunder erblickt; und ihre alte Empörung gegen seine Rücksichtslosigkeit loderte auf. Es war nicht komisch – ihr Baby! Und selbst wenn es das war, hatte niemand das Recht, es ihr zu sagen. Fiorsen streckte einen Finger aus, berührte die Wange des Kindes.
»Es ist wirklich! Ja, ja! … Mademoiselle Fiorsen! Tsch! Tsch!«
Das Baby rührte sich, und Gyp dachte: Wenn ich ihn liebte, so dürfte er sogar über mein Baby lachen, dann wäre es etwas anderes.
»Weck sie nicht auf«, flüsterte sie. Sie fühlte seine Augen auf sich ruhen, wußte, daß sein Interesse für das Kind verschwunden war, daß er dachte: Wann darf ich dich wieder in meine Arme nehmen? Und jählings überkam sie ein ohnmächtiges Schwächegefühl, das sie noch niemals empfunden hatte. Als sie die Augen wieder öffnete, hielt ihr die Pflegerin etwas unter die Nase und brummte: »Nun, Gott sei Dank! … Ich war schon ein verdammter Idiot!« Fiorsen war verschwunden.
Die Pflegerin zog das Riechsalz zurück, legte Gyp das Kind in die Arme, befahl: »Jetzt müssen Sie schlafen!« und trat hinter den Wandschirm. Gleich allen robusten Naturen ließ sie den Ärger über sich selbst an anderen aus. Doch Gyp konnte nicht einschlafen, betrachtete bald das schlafende Kind, bald das Tapetenmuster, suchte mechanisch nach dem Vogel, der zwischen dem braungrünen Laubwerk saß – in jedem zweiten Viereck immer ein Vogel, so daß immer einer zwischen vier andere zu sitzen kam. Und die Vögel waren grün und gelb und hatten rote Schnäbel.
Nachdem er aus dem Kinderzimmer hinausgeworfen worden war, mit der Versicherung, es wäre nichts, nur eine kleine Ohnmacht, ging Fiorsen unglücklich die Treppe hinab. Dieses düstere Haus, in dem er ein unwillkommener Fremdling war, erschien ihm unerträglich. Er wollte hier nichts anderes als Gyp, und Gyp war bei seiner Berührung ohnmächtig geworden. Er öffnete eine Tür. Ein Klavier! Der Salon. Uff! Kein Feuer, wie unbehaglich! Er ging zur Tür zurück, stand lauschend. Nichts regte sich. Ein fahles Licht dämmerte in dem öden Zimmer, die Halle hinter ihm war ganz finster. Welch ein Leben führen doch diese Engländer, – es war ja noch ärger, als der Winter in seinem alten, ländlichen Heim in Schweden, dort brannte wenigstens ein gutes Feuer. Und plötzlich lehnte sich sein ganzes Ich auf. Hier bleiben, ihren Vater sehen! Eine ganze Nacht hier verbringen? Gyp war nicht seine Gyp, wenn sie in diesem feindseligen Haus lag, neben sich das Baby. Seine Schritte dämpfend, schlich er nach der Halle. Da lagen sein Überrock und sein Hut. Er nahm sie an sich. Seine Tasche? Er sah sie nirgends. Einerlei, man würde sie ihm nachschicken. Er wird Gyp schreiben, sagen, ihre Ohnmacht hätte ihn erschreckt, er wage es nicht, dies ein zweites Mal zu riskieren, ertrage es aber nicht, im Hause zu bleiben, ihr so nahe und doch so fern. Sie wird ihn verstehen. Plötzlich überkam ihn unbändige Sehnsucht. Wie er nach ihr verlangte! Sie zu sehen, zu küssen, zu fühlen, daß sie wieder ihm gehört! Er öffnete die Tür, schritt traurig und trostlos nach der Einfahrt. Auf dem ganzen Weg zum Bahnhof, zwischen den dunkelnden Feldern und in der Bahn, fühlte er schmerzliche Trostlosigkeit. Erst in den hellerleuchteten Straßen, als er nach Roseks Wohnung fuhr, wurde ihm leichter zumute. Beim Diner und nachher verging seine Traurigkeit fast ganz, doch kam sie wieder, als er sich niederlegte, bis ihn endlich der Schlaf mit seinem Vergessen und seinen Träumen von ihr befreite.