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Der Sommer verging, und noch immer verblieb eine kleine verschwiegene Wunde in ihrem Herzen und auch in dem seinen. Die langen hellen Tage wurden länger, überschritten langsam ihren Höhepunkt, nahmen langsam ab. An Sonnabenden und Sonntagen fuhren sie, manchmal mit Winton und der kleinen Gyp, häufiger allein, auf dem Fluß. Für Gyp hatte die Themse nie den Zauber jenes ersten Nachmittags verloren. Die ganze Woche hindurch freute sie sich auf diese Stunden, als schützte sie das Wasser ringsum nicht nur gegen eine Welt, die ihn ihr rauben wollte, wenn sie es konnte, sondern auch gegen jenen Teil seines Charakters, den sie vor langer Zeit »altgeorgianisch« genannt hatte. Einmal hatte sie sich in den Gerichtshof gewagt, um ihn in Talar und Perücke zu sehen. Unter der steifen, grauen Erhöhung über der weißen Stirn war er ihr so hart und klug erschienen, einer Welt angehörend, zu der sie nie gehören konnte, einer glänzenden, quälenden Welt! Sie besaß und kannte nur eine Seite von ihm! Auf dem Fluß gehörte er ihr völlig – liebenswert, träg, dreist, liebend, den Kopf in ihrem Schoß, ins Wasser springend, um zu schwimmen, um sie herumplätschernd oder langsam stromabwärts rudernd, singend: »Fließe weiter, mein eilender Fluß.« Und es war so köstlich, für einige Stunden in der Woche dieses immer stärker werdende Gefühl zu verlieren, daß sie ihn nie ganz besitzen könne. Dennoch wuchs in dieser Zeit die kleine Wunde …
Als die langen Gerichtsferien kamen, faßte sie einen heroischen Entschluß. Er sollte einen Monat ohne sie verbringen. Und während Betty mit der kleinen Gyp an der See weilte, würde sie dem Vater bei seiner Kur Gesellschaft leisten. Sie hielt so hartnäckig an ihrem Entschluß fest, daß Summerhay schließlich achselzuckend meinte: »Nun gut, wenn dir so viel daran liegt, mich loszuwerden!«
Ihn loszuwerden?! … Sie bezwang ihre Gefühle und sagte lächelnd: »Endlich! Guter Junge!« Wenn er nur so zu ihr zurückkam, wie er gewesen! Sie fragte auch nicht, wohin und zu wem er reise.
Tunbridge-Wells, dieses liebliche Fegefeuer, wo die Zurückgezogenen ihre Seele für eine noch vollkommenere Zurückgezogenheit vorbereiten, träumte in langen Reihen primitiver Villen auf seinen Hügeln. Seine Weideplätze und Wälder waren nicht von der Sonne versengt, daher hatten es die Zurückgezogenen nicht verlassen, um an die See zu fliehen. Sie gingen unter den Arkaden einkaufen, wanderten durch das Hügelland, schwangen in grasigen Parks die Golfschläger, tranken bei ihren Bekannten reihum Tee und besuchten die zahlreichen Kirchen.
Gyp und der Vater wohnten in einem Hotel, wo Winton baden und Brunnen trinken konnte, ohne Hügel emporklimmen zu müssen. Dies war die erste Kur, bei der Gyp anwesend war, seit den längst verflossenen Tagen in Wiesbaden, vor sechs Jahren. Sie erschien sich selbst so gänzlich, so seltsam verändert. Damals war das Leben ein Schluck von verschiedenartigen, prickelnden Getränken gewesen, nun war es ein einziger, langer Zug, um einen unstillbaren Durst zu stillen.
Sie lebte einzig und allein durch die Post; kam aus irgendeinem Zufall ihr täglicher Brief nicht, so versank ihr Herz in Untiefen. Sie selbst schrieb jeden Tag, bisweilen sogar zweimal, doch zerriß sie stets den zweiten Brief, des Grundes eingedenk, aus dem sie sich diese Trennung auferlegt hatte. In der ersten Woche zeigten seine Briefe eine gewisse Gleichmütigkeit, in der zweiten wurden sie glühend, in der dritten verrieten sie wechselnde Stimmungen, Freude auf das Wiedersehen, Verstimmung, Trübsinn; auch waren sie kürzer. In dieser dritten Woche traf Tante Rosamunde ein. Sie war eine treue Verteidigerin von Gyps neuem Leben geworden; ihrer Ansicht nach geschah Fiorsen recht. Sie hatte eine schlechte Meinung von den Männern, eine noch schlechtere von den Ehegesetzen; nach ihr war jede Frau, die sich ihnen widersetzte, eine Heldin, obwohl Gyp nicht den geringsten Wunsch empfand, sich ihnen zu widersetzen. Tante Rosamundens aristokratisches und rebellisches Blut wallte auf in Haß gegen spießige Leute, die noch immer annahmen, daß die Frau das Eigentum des Mannes sei. Sie hatte sich auch davor gehütet, je in eine solche Lage zu geraten.
Sie brachte Gyp eine Neuigkeit mit.
»Ich war in der Bondstraße, Liebe, bei dem Tee- und Kuchengeschäft – weißt du, dort, wo es den guten Kaffeecreme gibt, und wen sehe ich herauskommen? – Fräulein Daphne Wing und unseren Freund Fiorsen; er sah recht verprügelt aus. Er kam auf mich zu, während ihn die kleine Dame mit Luchsaugen beobachtete. Er tat mir wirklich ein wenig leid, er sah so hungrig aus, als ob sie ihm alles Essen wegnähme. Dann fragte er, wie es dir ginge. ›Wenn Sie sie sehen‹, sagte er, ›so sagen Sie ihr, daß ich sie nicht vergessen habe, sie nie vergessen werde. Sie hatte aber vollkommen recht, das ist die Dame, zu der ich passe.‹ Die Art, wie er das Mädchen ansah, war fast unheimlich. Dann verbeugte er sich und ging, sie aber schien sich zu freuen, wie ein Schneekönig. Er hat mir wirklich fast leid getan.«
Gyp entgegnete gelassen: »Du brauchst ihn nicht zu bedauern, Tantchen, er wird sich stets selbst genug bedauern.«
Tante Rosamunde schwieg, ein wenig chokiert; die gute Dame hatte eben niemals mit Fiorsen gelebt.
Am gleichen Nachmittag saß Gyp auf dem Dorfanger und dachte ihren einzigen, immer wiederkehrenden Gedanken: Heute ist Donnerstag, – noch elf Tage. Drei Gestalten kamen auf sie zu, ein Mann, eine Frau und etwas, das von Rechts wegen ein Hund hätte sein sollen. Liebe für die Schönheit und die Menschenrechte hatte seine Nase plattgedrückt, ihn seiner halben Ohren beraubt, ihm nur etwa drei Spannen Schwanz gelassen. Er hatte Asthma, watschelte trübselig daher. Eine Stimme sagte: »Wir sind genug gegangen, Marie. Hier können wir uns sonnen.«
An der Stimme, die das Stehen an unzähligen Gräbern heiser gemacht hatte, erkannte Gyp Herrn Wagge. Er hatte seinen Schnurrbart abrasiert, nur einen Backenbart stehenlassen, und Frau Wagge war bedeutend in die Breite gegangen. Sie setzten sich neben Gyp.
»Setz dich hierher, Marie, dann scheint dir die Sonne nicht in die Augen.«
»Nein, Robert, ich will hierbleiben, sitz du dort.«
»Nein, sitz du dort.«
»Nein, ich will nicht! Komm, Duckie!«
Doch verharrte der Hund eigensinnig auf einem Fleck, starrte Gyp an. Herr Wagge folgte den Augen des Hundes.
»Oh!« sagte er, »welch eine Überraschung!« Er tastete nach seinem Strohhut, rieb die andere Hand am Ärmel ab und reichte sie Gyp. Während sie sie schüttelte, näherte sich der Hund und setzte sich auf ihre Füße. Auch Frau Wagge streckte ihre mit einem glänzenden Handschuh bekleidete Hand aus.
»Das ist ein Vergnügen«, murmelte sie. »Wer hätte je erwartet, Sie hier zu treffen? Oh, Duckie soll nicht auf Ihrem hübschen Kleid sitzen. Komm, Duckie!«
Duckie lehnte sich gegen Gyps Schienbeine. Herr Wagge fragte unvermittelt: »Sie leben doch nicht hier?«
»O nein, ich bin mit meinem Vater der Bäder wegen hier.«
»Das hab' ich mir gedacht, sonst hätte ich Sie schon früher gesehen. Wir haben uns seit einem Jahr hierher zurückgezogen. Ein hübscher Ort.«
»Wir wollen Natur haben. Auch bekommt uns die Luft, obgleich sie ein wenig zu eisenhaltig ist. Doch ist es ein Ort, an dem man lange lebt. Wir haben uns sehr lange nach einem passenden Ort umgesehen.«
Frau Wagge fügte hinzu: »Wir hatten zuerst an Wimbledon gedacht, doch gefiel es Herrn Wagge hier besser, es gibt mehr Spaziergänge, auch ist die Gesellschaft gewählter. Wir haben einige Bekannte. Die Kirche ist sehr nett.«
Herr Wagge gestand offen: »Ich war sonst nie für die anglikanische Kirche, ging stets in eine Dissidentenkapelle, – hier aber ist die Kirche mehr – distinguiert, und meine Frau fühlte sich stets davon angezogen. Ich verberge niemals meine Meinung.«
»Es hängt wohl von der Atmosphäre ab, nicht wahr?«
Herr Wagge schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nicht für Weihrauch, – wir sind nicht ›Hochkirche‹. Wie geht es Ihnen, gnädige Frau? Wir haben oft von Ihnen gesprochen; Sie sehen prächtig aus.«
Sein Gesicht glich einer Blutorange, Frau Wagges Antlitz hatte die Farbe einer nicht mehr ganz frischen roten Rübe. Der Hund zu Gyps Füßen regte sich, schnüffelte, sank schwerfällig zurück. Gyp sagte gelassen: »Ich habe gerade heute von Daisy gehört. Sie ist ein richtiger Star geworden, nicht wahr?«
Frau Wagge seufzte, Herr Wagge wandte die Augen ab und erwiderte: »Das ist ein wunder Punkt. Sie verdient ihre vierzig bis fünfzig Pfund die Woche, alle Zeitungen schreiben über sie, – sie hat großen Erfolg, zweifellos. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie nächstens im Jahr fünfzehnhundert verdient. Ich habe zu meiner besten Zeit, in den bösen Influenzajahren, nie mehr als tausend gehabt. Sie hat eben Erfolg.«
Frau Wagge fragte: »Haben Sie ihre neueste Photographie gesehen, wo sie zwischen zwei Hortensien steht? Es war ihre eigene Idee.«
Herr Wagge brummte plötzlich: »Ich freue mich immer, wenn sie uns im Auto besuchen kommt. Doch habe ich mich hierher zurückgezogen, um ein ruhiges Leben zu führen und denke lieber nicht an sie, besonders nicht vor Ihnen, gnädige Frau. Tatsächlich – das ist so.«
Schweigen trat ein, Herr und Frau Wagge sahen auf ihre Füße, Gyp blickte auf den Hund.
»Ah, da bist du!« – Winton trat aus einem Gebüsch. Gyp konnte nicht umhin, zu lächeln. Das verwitterte schmale Gesicht des Vaters, die halbgeschlossenen Augen, die feine Nase, der kleine, borstige graue Schnurrbart, der die energischen Lippen kaum verdeckte, die magere, gerade Gestalt, seine Art zu stehen, die dünne, trockene, abgehackte Stimme waren der vollkommene Gegensatz zu Herrn Wagges vierschrötiger, dicker Gestalt, dem grobzügigen, grobhäutigen Gesicht, der belegten, heiseren und dennoch schmalzigen Stimme. Es war, als hätte die Vorsehung zwei Extreme verschiedener gesellschaftlicher Typen einander gegenüberstellen wollen. »Herr und Frau Wagge – mein Vater.«
Winton lüftete den Hut. Gyp blieb sitzen, Duckie lag noch immer auf ihren Füßen.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Herr. Ich hoffe, die Bäder tun Ihnen gut. Sie sollen sehr heilkräftig sein.«
»Danke – sie sind nicht gefährlicher als die meisten. Trinken auch Sie das Wasser?«
Herr Wagge lächelte. »Nein, wir leben hier.«
»Wirklich? Gibt es denn für Sie hier irgend etwas zu tun?«
»Wir sind hergezogen, um zu ruhen. Doch nehme ich alle vierzehn Tage ein türkisches Bad – ich finde es sehr erfrischend, es hält die Poren offen.«
Frau Wagge fügte sanft hinzu: »Es scheint meinem Mann sehr gut zu bekommen.«
Winton brummte: »Ja. Gehört der Hund Ihnen? Er scheint ein Philosoph zu sein.«
Frau Wagge erwiderte: »Oh, er ist ein schlimmer Hund, nicht wahr, Duckie?«
Der Hund Duckie, der aller Augen auf sich ruhen fühlte, erhob sich, blickte Gyp schnaufend ins Gesicht. Auch sie benutzte die Gelegenheit, aufzustehen.
»Wir müssen jetzt leider gehen. Adieu. Ich habe mich sehr gefreut, Sie wiederzusehen. Bitte, grüßen Sie Daisy von mir.«
Frau Wagge zog ganz unerwartet ein Taschentuch aus ihrem Beutel, Herr Wagge räusperte sich geräuschvoll. Gyp merkte, daß ihr der Hund schwerfällig nachgezottelt kam, hörte Frau Wagge hinter ihrem Taschentuch hervorrufen: »Duckie, Duckie!«
Winton sagte leise: »Also diesen beiden gehört das hübsche Fohlen? Freilich, wenn man bedenkt, sie hat nicht viel Rasse bewiesen. Deiner Tante zufolge lebt sie noch immer mit unserem Freund.«
Gyp nickte: »Ja, hoffentlich ist sie glücklich.«
»Er ist es anscheinend nicht, geschieht ihm ganz recht.«
Gyp schüttelte den Kopf: »O nein, Väterchen.«
»Nun, man soll einem Menschen nie etwas Ärgeres wünschen, als ihm wahrscheinlich zustoßen wird. Wenn ich jedoch sehe, daß Leute es wagen, dich über die Schulter anzusehen. Ich …«
»Väterchen, was liegt denn daran?«
»Mir liegt sehr viel daran.« Er lächelte grimmig. »Wir sind uns übrigens alle gleich, wenn es sich darum handelt, unseren Nächsten zu verurteilen.«
Während dieser Tage in Tunbridge-Wells standen sie einander offenherziger gegenüber als seit Jahren. Vielleicht lösten die Bäder etwas von der Kruste um sein Herz, vielleicht hatte die Luft, die Herr Wagge »zu eisenhaltig« fand, eine gegenteilige Wirkung auf Winton, jedenfalls ließ er in der vornehmsten Pflicht des Menschen, dem Verbergen der Gefühle, ein wenig nach.
Am letzten Nachmittag ihres Aufenthaltes wanderten sie lange durch den Wald. Bewegt von der Schönheit der sonnenbeschienenen Bäume, fiel es Gyp schwer, zu sprechen. Winton jedoch, der sie bald wieder verlieren sollte, war ganz redselig. Er begann bei der unheilvollen Veränderung in der Rennwelt, die so plutokratisch geworden war, den amerikanischen Sitz eingeführt, die Buchmacher vermehrt hatte, und erging sich dann in einer Jeremiade über die Dinge im allgemeinen. Das Parlament habe, besonders jetzt, seit die Mitglieder bezahlt werden, seine Selbstachtung verloren, die Städte verschlängen das Land, die Parforcejagden seien bedroht, die Macht und Gewöhnlichkeit der Presse erschreckend, die Frauen schienen gänzlich den Kopf verloren zu haben, alle schienen sich davor zu fürchten, gute Manieren und Rasse zu zeigen. Bis die kleine Gyp Gyps Alter erreicht haben werde, würden sie alle unter der Kontrolle von Überwachungskomitees stehen, in Gartenstädten wohnen, über jeden verausgabten Penny Rechenschaft ablegen müssen, für jede halbe Stunde ihrer Zeit.
Auch das Pferd wird ausgestorben sein und nur noch bei Festzügen gezeigt werden. Er hoffe nur, daß er all dies nicht mehr erleben werde. Und plötzlich fügte er hinzu: »Was glaubst du, geschieht mit uns nach dem Tode, Gyp?«
»Nichts, Väterchen. Ich glaube, wir kehren nur zurück.«
»Das meine ich auch.«
Gyp flüsterte:
»La vie est vaine –
Un peu d'amour,
Un peu de haine,
Et puis bonjour!«
Etwas, das kein Lachen war, entrang sich Wintons Lippen. »Und was ist eigentlich das, was man ›Gott‹ nennt? Soweit ich sehe, nur das Beste, was man aus sich selbst herauszuholen vermag. Man kann sich eben bloß etwas vorstellen, was man sich vorstellen kann. Eine Sache jedoch, Gyp, hat mir stets Kopfzerbrechen verursacht. Das ganze Leben lang habe ich nach einem einzigen Herzen verlangt. Dann kommt der Tod, und ich verschwinde. Weshalb liebte ich, wenn es nachher kein Wiedersehen gibt?«
»Vielleicht ist es tatsächlich alles: jemanden oder etwas von ganzem Herzen zu lieben.«
Winton starrte vor sich hin.
»Ja-a«, sagte er schließlich, »Oft scheint es mir, als ob die religiösen Leute ihr ganzes Geld sparten, um es auf ein Pferd zu setzen, das nie laufen wird. Die Yogis in Indien – da saßen sie, und die ganze Welt hätte ringsum zerfallen können, es wäre ihnen einerlei gewesen – sie glaubten, es werde ihnen in der kommenden Welt gut gehen. Wenn aber diese Welt niemals kommt?«
Gyp legte ihre Hand auf seinen Arm, schmiegte sich fest an ihn.
»Väterchen, du und ich, wir werden einst fortgehen, zusammen mit dem Wind und der Sonne, den Bäumen und dem Wasser, wie Procris auf meinem Bild.«